Fahrraddiebstahl in Berlin: Auf Ebay verhökert
Mehr als 25.000 Fahrräder wurden 2021 bei der Berliner Polizei als gestohlen gemeldet. Die Chancen, dass sie wieder auftauchen, sind gering.
Als ihm der Verbleib des Rads zwei Tage später siedend heiß einfiel, machte er sich hoffnungslos und niedergeschlagen auf den Weg, den Tatort zu sichten. Und verstand die Welt nicht mehr, als das treue, alte Gefährt an Ort und Stelle auf ihn wartete.
Eine solche Antipointe funktioniert nicht nur, aber besonders gut in Berlin. Denn Fahrraddiebstahl ist eine Pest in der Hauptstadt, von der kaum jemand verschont bleibt – auch der glückliche Autor hat schon mehrere Exemplare auf diese Weise verloren. In einer Stadt, die sich ganz groß das Wort „Verkehrswende“ auf die Fahnen geschrieben hat, ist das alles andere als ein triviales Problem, das vielen die Freude am Radfahren vergällt und individuelle Mobilitätsentscheidungen untergräbt.
Wovon reden wir? Um genau zu sein: von 25.438 Fahrrädern, die 2021 bei der Berliner Polizei als gestohlen gemeldet wurden. Macht im Durchschnitt knapp 70 Velos an jedem einzelnen Tag. Seit vergangenem September veröffentlicht die Polizei die täglich aufgenommenen Anzeigen als „Open Data“, eine schier endlose Tabelle von Damen-, Herren-, Kinderfahrrädern mit geschätztem Wert zwischen ein paar hundert und mehreren tausend Euro.
Dunkelziffer: kleiner als gedacht
Das sind, wohlgemerkt, nur die gemeldeten Fälle. Wobei Daniel Knöpke, Polizeihauptkommissar im Friedrichshainer Abschnitt 51, davon ausgeht, dass die Dunkelziffer kleiner ist als gemeinhin angenommen. Der Trend gehe klar hin zu hochwertigeren Rädern, und für diese schlössen die meisten KäuferInnen eine Versicherung ab, so Knöpke, der sich auf das Thema spezialisiert hat. Die aber zahle ohne polizeiliches Aktenzeichen nicht.
Der Kommissar weiß noch einiges mehr, was manche vielleicht überraschen wird: Seit 2016 ist der Fahrradklau berlinweit rückläufig – damals waren noch 34.418 Fälle angezeigt worden. Und auch das Narrativ vom Transporter, der bei Nacht und Nebel Velos vom Straßenrand sammelt, scheint eher ein urbaner Mythos zu sein: „Wir haben keine belastbaren Hinweise, dass viele Räder von Banden mit einer organisierten Struktur gestohlen werden“, so Knöpke zur taz. „Dass uns wie kürzlich polnische Kollegen über den Fund mehrerer Lastenräder informieren, von denen eins bei uns registriert ist, das kommt schon mal vor. Aber es sind Einzelfälle.“
Trotz des beobachteten Rückgangs bleiben die Fallzahlen natürlich enorm hoch. In Knöpkes Abschnitt meldeten im vergangenen Jahr 1.286 frustrierte RadlerInnen den Diebstahl ihres Gefährts. Rechnerisch werden am Ende nur um die 60 davon ihr Gefährt wiederbekommen – die berlinweite Aufklärungsquote lag 2021 bei dürren 4,6 Prozent. Immerhin, so Daniel Knöpke, sei das noch die zweitbeste Quote in den vergangenen zehn Jahren.
Daniel Knöpke, Polizeihauptkommissar
Knöpke wiederholt das alte Mantra von Polizei und ADFC: Lasst eure Räder registrieren! Bei der kostenlosen Prozedur werden die Rahmennummer und andere Erkennungsmerkmale der rechtmäßigen BesitzerIn zugewiesen, was die Fahndung enorm erleichtert. Die Vorstellung, dass die in den Rahmen eingravierte Nummer vom Dieb sowieso gleich weggeflext wird, führt dabei in die Irre: So oft komme das nicht vor, sagt Knöpke, denn der Umschlag sei enorm hoch. „Viele Täter versuchen, das Rad in kürzester Zeit wieder loszuwerden, solange die Fahndung noch nicht läuft, für 50 Euro im Park oder auf Ebay.“
Aber selbst wenn sich das Rad nicht (mehr) so eindeutig identifizieren lässt, bedeutet das nicht, dass es definitiv verloren ist, solange es irgendwann einmal als Diebesgut bei der Polizei landet. „Wir stellen regelmäßig Fotos dieser Räder auf unsere Internetseite“, so Knöpke. Immer wieder meldeten sich dann „Leute, die sagen: ‚Das ist meins, ich erkenne es an dem verbogenen Schutzblech oder an dieser besonderen Gangschaltung.‘ Wenn sie das glaubwürdig vorbringen können, steht einer Aushändigung nichts entgegen.“
Wiedersehen auf Ebay
Dass auch Ebay eine Fundgrube ist, wissen viele Bestohlene längst. Es komme „locker einmal pro Woche“ vor, dass ein Anrufer sich beim Abschnitt melde, weil er sein eigenes Rad als vermeintliches Schnäppchen auf der Plattform entdeckt hat, erzählt der Kommissar. „Oft hat er dann selbst schon Kontakt zum Anbieter aufgenommen und einen Kauf verabredet. Dann können wir dazukommen und uns den Verkäufer anschauen – ist er möglicherweise der Dieb oder ein Hehler? Oder hat er es vielleicht nur gefunden?“
Überall in Berlin befassen sich einzelne PolizistInnen mit Fahrraddiebstählen, eine landesweite „Soko“, wie sie etwa der ADFC seit Jahren fordert, gibt es dagegen nicht. Allerdings bestätigt die Pressestelle der Polizei ältere Presseberichte, nach denen die Behörde ein „Lockrad“ einsetze, um Diebe zu überführen. Mit detaillierten Aussagen dazu hält sich die Polizei zurück, nur in Bezug auf die Direktion 5 – zuständig für Friedrichshain-Kreuzberg sowie Teile von Mitte und Neukölln – teilt sie mit, dass das präparierte Rad 2021 „im Rahmen von 35 Einsätzen verwendet“ worden sei. „Dabei kam es zu zwei Festnahmen.“ Bei einem solchen Verhältnis möglicherweise keine allzu vielversprechende Ermittlungstechnik.
Ist der Fahrradklau für die Politik ein vorrangiges Problem? Im aktuellen Koalitionsvertrag vom Dezember 2021 heißt es interessanterweise: „Die gemeinsame Strategie von Polizei und Justiz zur Bekämpfung des Fahrraddiebstahls im Kontext organisierte Kriminalität wird fortgesetzt und intensiviert.“ Auf Nachfrage teilt eine Sprecherin der Justizverwaltung mit, eine OK-Abteilung [organisierte Kriminalität] der Staatsanwaltschaft solle künftig „geeignete Verfahren mit Anhaltspunkten für eine gewerbsmäßige oder bandenmäßige Begehung“ durchführen.
In den vergangenen Jahren habe sich gezeigt, „dass es immer wieder bandenmäßige Hehlerstrukturen gibt, über die gestohlene Räder in größeren Mengen konzentriert an Sammelpunkten angekauft werden“, so die Sprecherin. Das kontrastiert mit der Aussage von Polizeihauptkommissar Knöpke, demzufolge professionell agierende Strukturen eben kein Muster seien, dem man allzu häufig begegne. Vielmehr trete Fahrraddiebstahl oft als eine Form der Beschaffungskriminalität auf.
Wie auch immer: Der polizeiliche und juristische Kampf gegen den Fahrraddiebstahl als Massendelikt braucht offenbar einen langen Atem. Das andere vielversprechende Mittel ist, potenziellen Dieben die Arbeit durch sichere Abstellmöglichkeiten zu erschweren. Von denen gibt es in der Stadt immer noch viel zu wenige, wobei die Senatsverwaltung für Mobilität die Notwendigkeit längst erkannt hat. „Der Wechsel vom Fahrrad auf den ÖPNV (Bike & Ride) wird nur dann gut funktionieren, wenn auch das sichere Abstellen hinreichend gewährleistet ist“, so Sprecher Jan Thomsen.
Im Grunde steht schon alles im zentralen Berliner Radverkehrsplan: mehr sichere Fahrradabstellanlagen etwa sowie der Bau von Fahrradparkhäusern, die alle mit einem einheitlichen „Buchungs-, Zutritts- und Abrechnungssystem“ ausgestattet werden sollen. An Umstiegsstellen zum ÖPNV soll mindestens jeder fünfte Fahrradplatz entsprechend gesichert sein.
Bügel und Boxen
Den Bezirken hilft der Senat seit 2017 mit einem Förderprogramm bei der Errichtung von Fahrradbügeln. Bis 2020 seien immerhin schon knapp 19.000 Stellplätze entstanden, wie Sprecher Thomsen sagt. Über die Anzahl „diebstahlsicherer Abstellmöglichkeiten wie Fahrradboxen“ lägen der Senatsverwaltung dagegen „keine gesammelten Informationen vor“.
Bei den Fahrradboxen geht immerhin ein Bezirk – mit Förderung durch die Senatsverwaltung – als leuchtendes Beispiel voran: Im Klausenerplatz-Kiez in Charlottenburg-Wilmersdorf stehen seit Ende 2021 elf davon, meist auf ehemaligen Kfz-Stellplätzen am Straßenrand. Die von der Form an einen aufklappbaren Brotkasten erinnernden, abschließbaren Boxen enthalten Bügel-Stellplätze für sechs bis acht Fahrräder, sie können von AnwohnerInnen für ein paar Euro im Monat gemietet werden. In anderen Metropolen, etwa London, gibt es ähnliche Anlagen schon lange.
Das Echo sei hervorragend, sagt Verkehrsstadtrat Oliver Schruoffeneger (Grüne) zur taz, alle Plätze seien vermietet, und es kämen immer wieder Anfragen nach einer Ausweitung des Projekts – schon weil viele Wohnhäuser im Kiez nicht über ausreichende Flächen innerhalb des Grundstücks verfügten.
Ohne weitere Fördermittel vom Land sei allerdings eine Ausweitung nicht möglich, so Schruoffeneger, die Mieteinnahmen deckten lediglich die Verwaltungs- und Wartungskosten. Seine Behörde signalisiere Interessenten, dass sie, so sie den Bau selbst finanzierten, mit einer Sondernutzungsgenehmigung des Straßenraums rechnen könnten. „Da kam dann aber meist nichts mehr“, sagt der Stadtrat.
Vielleicht lässt es sich auf Dauer auch nicht vermitteln, dass die RadlerInnen selbst für die Sicherheit ihrer umweltfreundlichen Fortbewegungsmittel zahlen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann