Fahrrad-Boom in Corona-Pandemie: Schrei nach mehr
In Coronazeiten steigen mehr Leute aufs Rad. Pop-up-Radwege schaffen wunderbar Platz – aber sie suggerieren eine Sicherheit, die es nicht gibt.
2,34 Millionen BerlinerInnen können nicht irren. So viele RadfahrerInnen wurden im Monat Juni an den aktuell 16 automatischen Zählstellen der Stadt registriert, satte 26 Prozent mehr als im Juni des Vorjahrs. Und das ist keineswegs nur ein Trend aus Berlin. Laut einer Umfrage für die Krankenkasse DKV legt wegen der Coronapandemie ein Viertel der Befragten Wege zu Fuß oder mit dem Rad zurück, für die zuvor Auto oder ÖPNV genutzt wurden. Und der Zweirad-Industrie-Verband schwärmt von den besten Verkaufszahlen aller Zeiten.
In Zeiten der Pandemie kommen die Vorzüge des Fahrrads so richtig zur Geltung. Man meidet die virenverdächtige Enge von Bussen und Bahnen und kommt dennoch locker an all denen vorbei, die sich ins Auto stauen. Aber ist Radfahren tatsächlich die gesündeste Art, sich fortzubewegen?
Leider nein. In Berlin steigt auch die Zahl der Verunglückten. Am Dienstag meldete die Polizei, dass wieder ein Radfahrer starb, nachdem er von einem rechtsabbiegenden Lkw überrollt wurde. Er ist in diesem Jahr bereits der zehnte getötete Radler in Berlin. In den Vorjahren waren es bis Anfang Juli laut ADFC im Schnitt gerade mal fünf bis sechs.
Aber wie kann das sein? Hat man nicht zuletzt immer wieder von diesen schicken neuen Pop-up-Radwegen gelesen, die in Berlin installiert werden? Seit der findige Leiter des Kreuzberger Grünflächenamts Ende März die ersten Autospuren in Radwege umwidmete, entstanden bereits insgesamt 22 Kilometer gut zu fahrende, meist vom Autoverkehr durch Poller abgrenzte Radspuren – eine Velorution.
Warten auf 2024?
Jeder einzelne Meter davon ist großartig – und ein Schrei nach mehr. Wer hier entlang radelt erkennt erst, wie sehr man im Rest der Stadt von der Autogesellschaft verarscht wird. Doch auch wenn der ADAC und die Autofahrerpartei FDP schon lauthals über diese 22 Kilometer stöhnen, sind sie nichts als ein Tropfen auf den heißen Asphalt. Es gibt in Berlin mehr als 1.500 Kilometer städtische Hauptstraßen. Auf 98 Prozent davon hat man als Radler also weiterhin das Nachsehen. Besserung ist immerhin versprochen. Seit zwei Jahren werden in Berlin neun Radschnellwege geplant. Der erste davon soll aber frühestens 2024 fertiggestellt werden.
Dass sich Verwaltung und Politik mit der Fahrradplanung schwer tun, ist kein Berliner Problem. Im Ruhrgebiet gab es schon vor 10 Jahren die Idee für eine über 100 Kilometer lange Route von Duisburg bis Hamm. 2015, bei der Einweihung der ersten 6 Kilometer wurde das als bundesweites Modellprojekt gefeiert. Fünf Jahre später ist es gerade mal auf 12 Kilometer angewachsen.
Das ist fatal. Denn die fertiggestellten Teilstücke locken nicht nur schon jetzt vermehrt RadlerInnen an; sie suggerieren eine Sicherheit, die es nicht gibt. Weder auf dem Weg dorthin, noch auf den Teilstücken selbst. In Berlin wurde auf einem der viel gerühmten Pop-up-Radwege schon eine Frau von einem Lkw überrollt – weil es nach wie vor allem an den Kreuzungen an sicherer Infrastruktur fehlt. Kein Wunder, dass Unfallforscher in Innenstädten aufs Rad verzichten, weil es ihnen zu gefährlich ist.
Kürzlich stellte das Projekt fixmyberlin die Ergebnisse einer Umfrage vor. Danach werden nur vom Autoverkehr baulich deutlich abgetrennte Radwege von den NutzerInnen als sicher empfunden. Klingt banal? Ja, aber das haben eben nicht nur die RadlerInnen, sondern auch die AutofahrerInnen geantwortet. Von einer umfassenden Fahrradinfrastruktur würden also alle profitieren. Sie müsste nur gebaut werden.
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