Fahren ohne Ticket entkriminalisieren: 217 Tage Knast für „Schwarzfahren“
Der Freiheitsfonds kauft erneut Gefangene frei und drängt auf eine Reform des Strafrechts noch vor der Wahl. Eine Frau war trotz Sozialticket in Haft.
Zum elften Mal kauft der Freiheitsfonds Gefangene frei, die wegen „Schwarzfahrens“ einsitzen – heute sind es bundesweit 60. Insgesamt sind bisher laut der Kampagne mit gut einer Million Euro Spendengeld 1.190 Menschen freigekauft worden – was dem Staat über 17 Millionen Euro Kosten erspart habe. Denn Paragraf 265a des Strafgesetzbuchs, der das „Erschleichen von Leistungen“ mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe sanktioniert, koste den Staat jährlich 120 Millionen Euro, erklärt Kube, die Juristin der Kampagne. 9.000 Menschen sitzen laut Freiheitsfonds jedes Jahr in deutschen Knästen, jeder Tag Haft koste pro Person über 200 Euro.
Mit der Freikaufaktion an diesem Tag will die Kampagne darauf aufmerksam machen, dass sich das Zeitfenster für die von der Ampel geplante Änderung des Strafrechts am Mittwoch schließt. Ein fertiger Gesetzesentwurf, mit dem Paragraf 265a zu einer Ordnungswidrigkeit reduziert würde, liege seit Oktober vor, erklärt Kube. „Es ist unverständlich, warum er noch nicht verabschiedet wurde.“
An diesem Mittwoch sei die letzte Gelegenheit vor der Wahl, die Sache im Rechtsausschluss zu beschließen und dem Bundestag zur Abstimmung vorzulegen. Kube sagt: „Die Reformierung dieses veralteten Strafgesetzes, das aus der Nazi-Zeit stammt, ist überfällig. Wenn Menschen sich keinen Fahrschein leisten können, ist mit einer Gefängnisstrafe niemandem geholfen.“
Grüne und FDP sind willig
Auf taz-Anfrage bei den Ampel-Fraktionen erklärt die Berliner Abgeordnete Canan Bayram für die Grünen: „Für uns von Bündnis 90/Die Grünen steht fest, niemand sollte eingeknastet werden, weil er sich eine Fahrkarte nicht leisten kann.“ Sie erwarte von der FDP, den fertigen Entwurf jetzt einzubringen. Aus der angesprochenen Partei erwidert die Abgeordnete Katrin Helling-Plahr, ihre Fraktion habe ihn bisher nicht in den Ausschuss gebracht, „da es die Aussage seitens SPD und Grüne gab, dass sie dem Gesetzentwurf ohnehin nicht zustimmen wollen“.
Der Fall von Susanne Deuerling aus Spandau illustriert, was so eine Strafe für Betroffene bedeutet. Die 55-Jährige wurde im November freigekauft. Wie sie der taz erzählt, hatte sie ein „erhöhtes Beförderungsentgelt“ von 60 Euro bekommen, weil sie ihr Sozialticket nicht richtig ausgefüllt hatte. Auf das vergünstigte Ticket für 9 Euro pro Monat hat sie als Bürgergeldempfängerin Anspruch. Nur hatte sie nach eigener Aussage vergessen, die „BG-Nummer“, die Nummer ihres Bürgergeld-Bescheids, auf das Ticket zu schreiben.
Mit diesem Problem ist sie nicht allein: Seit der Abschaffung des Berlin-Passes vor zwei Jahren gab es viele Unklarheiten, wie sich Menschen als Berechtigte des Sozialtickets auszuweisen haben und es gab deswegen tausende Bußgeldbescheide. Die BVG sagt, dass sie einen Strafbefehl, also die Verurteilung zu einer Geldstrafe, nur beantragt, wenn jemand innerhalb eines Jahres drei Mal beim „Schwarzfahren“ erwischt wird. Deuerling beteuert allerdings, zuvor noch nie eine 60-Euro-Buße bekommen zu haben. Sie ist der erste bekannte Fall, bei dem jemand wegen eines falsch ausgefüllten Sozialtickets ins Gefängnis musste.
Dass es tatsächlich so weit kam, sei ein Schock gewesen, berichtet sie. Sie habe vergessen, die dritte Rate der 60 Euro zu bezahlen, habe aber keine Mahn-Briefe bekommen – vermutlich, weil ihr Postbote mal wieder Briefe weggeschmissen habe. „Plötzlich stand die Polizei vor der Tür. Sie haben mich vor allen Nachbarn abgeholt wie einen Verbrecher.“
„So viel geweint“
Denn inzwischen war sie zu einer Geldstrafe von 750 Euro verurteilt worden, ohne es zu wissen, erfuhr sie von der Polizei. 90 Tage hätte sie dafür absitzen müssen, dank des Fonds war es nur eine Woche. Aber auch die war „schrecklich“, erzählt die examinierte Krankenschwester, die alleine drei Kinder großgezogen und so viel gearbeitet hat, dass sie jetzt zu krank ist und einen neuen Job sucht. „Da waren Mörderinnen und Verbrecher, ich habe so viel geweint.“
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