Fahndung gegen Linksaußen: Antifa auf der Flucht
Vor einem Jahr griffen Autonome in Budapest Rechte an, die Behörden starteten eine Großfahndung. Montag beginnt der erste Prozess.
Die Festnahme war für die Ermittler ein lang ersehnter Erfolg. Denn seit Monaten sind sie auf der Suche nach zehn deutschen Autonomen, die vor knapp einem Jahr verschwunden sind – Maja T. gehörte dazu. Vorausgegangen waren Angriffe rund um einen rechtsextremen Großaufmarsch im Februar 2023 im ungarischen Budapest, den „Tag der Ehre“, zu dem seit Jahren europaweit Neonazis anreisen und dort die Wehrmacht und SS verherrlichen. Die ungarischen Behörden lösten danach eine Großfahndung aus, veröffentlichten Fotos und Namen der deutschen Gesuchten. Seitdem wird die autonome Szene hierzulande mit Durchsuchungen überzogen, ächzt über „ein Jahr voller Repression“ – und antwortet mit einer Solidaritätskampagne.
Zehn untergetauchte deutsche Linksradikale, das gab es sehr lange nicht. In den Neunzigern tauchten noch mal drei letzte RAFler ab, denen später Überfälle auf Geldtransporter vorgeworfen wurden. Später flüchteten drei Berliner Autonome nach einem gescheiterten Anschlag nach Venezuela. Nur spielen die Vorwürfe von Budapest längst nicht in dieser Liga.
Laut ungarischer Polizei gab es um den 11. Februar 2023 herum vier Angriffe: Neun Menschen seien dabei niedergeschlagen worden, sechs hätten schwere Verletzungen erlitten. Antifa-Gruppen sprechen von Neonazis. Die ungarischen Behörden von „Passanten“, die auch mit Metallstangen, Gummihämmern, Pfefferspray attackiert worden seien, immer aus einer größeren Gruppe heraus. Ein Tatmodus, den deutsche Ermittler von Angriffen hierzulande kannten: Auch in Eisenach, Leipzig und Wurzen wurden Rechtsextreme zwischen 2018 und 2020 auf diese Art überfallen. Bis eine Gruppe Autonomer um die Leipzigerin Lina E. festgenommen wurde, die im Mai 2023 mit drei Mitangeklagten zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurden.
Vorwurf der Gewaltverbrechen zurückgezogen
Doch die Angriffe auf Rechtsextreme gingen weiter. Im März 2021 wurde im sächsischen Eilenburg der Chef der NPD-Jugend in seiner Wohnung überfallen. Zwei Monate später traf es einen Neonazi in seiner Erfurter Wohnung, im Januar 2023 folgte in der Stadt ein Überfall auf zwei Rechtsextreme, einer erlitt einen Schädelbruch. Und dann kam Budapest.
Diesmal wurden vier Tatverdächtige festgenommen, die Berliner Tobias E. und Anna M. sowie eine Italienerin und eine Ungarin. Während Anna M. unter Auflagen haftverschont wurde, ist Tobias E. bis heute in Budapest inhaftiert. Für die Ermittler war er kein Unbekannter: Sie rechneten ihn schon länger der Gruppe um Lina E. zu, bei einem Angriff in Eisenach soll er dabei gewesen sein.
Die ungarische Polizei veröffentlichte danach ihre Fahndungsaufrufe nach den zehn Deutschen, auch nach Maja T. Es sind Sachsen und Thüringer, die meisten recht jung, 20 bis 30 Jahre alt, die Behörden rechnen die meisten schon länger der autonomen Szene zu. Auf dem linken Portal Indymedia schrieb einer der Gesuchten anonym, die Fahndung sei zunächst ein „Schock“ gewesen. Es stünden aber „Genoss:innen auch heute noch an meiner Seite“, weshalb er „weiterkämpfen“ könne. Nun müsse aber auch die Antifa insgesamt aktiv werden, sonst „gehe ich ohne Rückhalt, ohne Sinn, in den Gerichtssaal, sollte ich einmal entdeckt werden“.
Für die in Budapest festgenommenen Tobias E. und Anna M. wird es bereits am Montag ernst: Dann beginnt in der ungarischen Hauptstadt der Prozess gegen sie. Den Vorwurf der Gewaltverbrechen hat die Staatsanwaltschaft inzwischen zurückgezogen, sie hält ihn nicht mehr für sicher nachweisbar. Angeklagt sind die beiden nun wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung – wofür laut Staatsanwaltschaft fünf Jahre Haft drohen. Einer mitangeklagten Italienerin wird lebensgefährliche Körperverletzung in drei Fällen vorgeworfen, ihr drohen bis zu 24 Jahre Haft. Alle Angeklagten schweigen zu den Vorwürfen.
Zweifel an der Unabhängigkeit der Justiz
Lukas Theune, Anwalt von Anna M., nennt die Anklage „absurd“. „Gegen meine Mandantin liegt da überhaupt nichts vor, außer dass sie in Budapest war. In einem rechtsstaatlichen Verfahren könnte das nur einen Freispruch geben.“ Sven Richwin, Anwalt der kürzlich festgenommenen Maja T., warnt vor der ungarischen Justiz. „Ein faires Verfahren für angeklagte Antifaschisten ist unter der Rechts-außen-Regierung von Orbán nicht zu erwarten“, sagte er der taz. Die Haftbedingungen in Ungarn seien „desaströs“. Zellen seien überbelegt, politisch Linken drohten Schikanen. Die italienische Inhaftierte klagte in einem Brief über Bettwanzen, mangelhafte Nahrung und mangelnden Kontakt zu ihrer Familie. Und Richwin betont, dass für nonbinäre Personen wie seine Mandant*in die Lage in Ungarn noch gefährlicher sei. „Eine Auslieferung ist daher unvertretbar.“
Tatsächlich kritisierte auch die EU in letzter Zeit wiederholt demokratische Defizite in Ungarn, reagierte mit Vertragsverletzungsverfahren. Auch Amnesty International sieht eine mangelnde Unabhängigkeit der Gerichte. Der SPD-Bundestagsabgeordnete und Ungarnkenner Robin Mesarosch erklärt, ihm sei der Fall der inhaftierten und gesuchten Autonomen bisher nicht bekannt. „Aber ich teile grundsätzlich die Bedenken. Die Justiz in Ungarn ist nicht unabhängig und unter erheblichem Einfluss der Regierung, die faschistische Züge aufweist.“ Daran habe auch die Justizreform von 2023 nur wenig geändert, die auf Druck der EU verabschiedet worden ist.
Die ungarischen Behörden aber wollen eine Verurteilung von Tobias E. und Anna M. – und auch eine Auslieferung von Maja T., der schwere Körperverletzung und Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen wird. Auch die Berliner Generalstaatsanwaltschaft beantragte zu Monatsbeginn einen Auslieferungshaftbefehl gegen Maja T. Darüber entscheidet nun das Kammergericht in einem schriftlichen, nichtöffentlichen Verfahren. Richwin und sein Anwaltskollege Maik Elster reichten dagegen eine ausführliche Stellungnahme ein. In einem zweiten Schritt wird dann über die tatsächliche Auslieferung entschieden, was noch einige Wochen dauern kann.
Die deutschen Sicherheitsbehörden bleiben auch umtriebig. Denn neben den zehn nach Budapest Verschwundenen gibt es noch weitere Gesuchte aus dem Lina-E.-Umfeld. Einen von ihnen hatten Polizisten vor Monaten bei einer Pkw-Kontrolle gestoppt – doch der Mann raste davon. Ermittelt wird auch, weil er im nordsyrischen Rojava mit Waffen geschossen haben soll. Für die Fahndung wird einiger Aufwand betrieben. 25 Ermittler bietet die Soko Linx auf, einen Großteil davon für die Fahndung. Die Budapester Behörden stellen noch mal so viele Ermittler.
Im Fokus steht Johann G.
Auch das Bundesamt für Verfassungsschutz hat eine eigene Einheit eingerichtet. Erst vor zwei Wochen gab es die jüngste Durchsuchung in Thüringen. Parallel zu den ungarischen Ermittlungen läuft in Deutschland ein sogenanntes Spiegelverfahren – eine Anklage darf es am Ende aber nur in einem Land geben. Die Bundesanwaltschaft ermittelt noch gegen mindestens sechs Linke, die sich an Angriffen der Gruppe um Lina E. beteiligt haben sollen – zwei davon gehören zu den Budapest-Beschuldigten.
Vor allem einen der Verschwundenen suchen die Behörden: Johann G., den früheren Lebensgefährten von Lina E. Er verschwand schon vor dreieinhalb Jahren aus Leipzig, gilt den Ermittlern als eigentlicher Kopf der Gruppe um Lina E. Der 30-Jährige saß bereits in Haft, ist als Gefährder eingestuft. Anfangs soll er in Thailand gewesen sein, zuletzt wieder in Europa, mit Visiten in Berlin und Leipzig. Obwohl Johann G. international gesucht wird, wollen ihn Ermittler auch auf Videoaufnahmen der Budapest-Angriffe erkannt haben. Inzwischen fahndet das BKA mit Plakaten nach ihm, lobte 10.000 Euro für Hinweise aus, zeigte ihn bei „Aktenzeichen XY … ungelöst“ – bisher ohne Erfolg.
Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) warnte kürzlich vor einer weiteren Radikalisierung der Untergetauchten. Auch Bundesverfassungsschutzchef Thomas Haldenwang sprach von militanten Kleingruppen, die mit „lebensgefährlicher Brutalität“ vorgingen. Die Schwelle zum Linksterrorismus rücke näher.
Anwalt Richwin hält die Warnungen vor einer Untergrundzelle für „Unsinn“. Im Fall der Budapest-Angriffe sei es „doch naheliegend, dass es den Gesuchten darum geht, sich nicht einer überzogenen, politisch motivierten Strafverfolgung in Ungarn auszuliefern“. Die deutschen Behörden aber würden eine Auslieferung nach Ungarn „als Drohkulisse“ im gesamten Verfahren benutzen, so Richwin. „Der deutsche Rechtsstaat bedient sich damit Ungarns als eigenen Guantánamos.“
Immer noch fast keine Akteneinsicht
Richwin kritisiert zudem die breiten Fahndungsmaßnahmen und die rabiate Festnahme von Maja T. Bis zur Verhaftung habe seine Mandant*in nie ein Schreiben erreicht, dass sie sich überhaupt bei der Polizei melden solle. „Nur weil jemand nicht gefunden wird, heißt das noch nicht, dass sich die Person auch versteckt.“ Auch gebe es sechs Wochen nach der Festnahme immer noch fast keine Akteneinsicht, so Richwin. „Wir wissen im Grunde also gar nicht, was Sache ist.“
In Sicherheitskreisen wird dagegen betont, wie „abgebrüht“ die Gesuchten vorgingen. Angriffe allerdings, die der Gruppe zugeschrieben werden könnten, gab es seit Budapest nicht mehr. Dafür wollen am 10. Februar erneut Rechtsextreme aus ganz Europa in Budapest zum „Tag der Ehre“ zusammenkommen. Auch die linke Szene mobilisiert wieder. Man wolle sich „von der Repressionswelle nicht einschüchtern lassen“, heißt es im Aufruf eines deutschen Bündnisses, und „gerade jetzt“ gegen den „faschistischen Wohlfühlort“ demonstrieren.
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