Fachkräftemangel in Deutschland: Jenseits von Europa
Ein gemeinnütziges Projekt vermittelt afrikanische Programmierer:innen, die von Ghana und Ruanda aus arbeiten. Ein Modell für die Zukunft?
E s gibt Firmen, bei denen verstehen Laien auf Anhieb kaum, was sie genau tun – ohne deren Arbeit aber die digitale Infrastruktur im 21. Jahrhundert nicht funktionieren würde. Die Nexum AG ist so eine: Sie bezeichnet sich als Digitalagentur, man könnte sie auch Technologieberatungsfirma nennen. Eines der wichtigsten Geschäftsfelder von Nexum besteht darin, Salesforce, eine weit verbreitete Unternehmenssoftware, für Onlinehändler und Industrieunternehmen spezifisch anzupassen.
250 Angestellte arbeiten bei Nexum, in Büros in Deutschland, der Schweiz und Spanien, für Kunden wie den Lufthansa-Shop oder Mustang Jeans. Genug sind das nicht. „Wir suchen händeringend Leute“, sagt Vorstand Georg Kühl. 39 Stellen sind derzeit auf der Website ausgeschrieben, im nächsten Jahr will er 70 Mitarbeiter:innen einstellen. Doch die muss er erst mal finden.
„Deutschland gehen die Arbeitskräfte aus“, warnte im August die Bundesagentur für Arbeit. 1,2 Millionen Arbeitskräfte werden derzeit in Deutschland gesucht. Dabei wird es nicht bleiben. Die Geburtenrate ist schon länger niedrig, die Zahl der Menschen im Erwerbsalter nimmt in diesem Jahr um fast 150.000 ab, in den kommenden Jahren werde es noch „viel dramatischer“, so die Bundesagentur. IT zählt zu den Branchen, die von dem Problem besonders geplagt sind.
Und so sind bei der Nexum AG allein sechs Leute mit der Suche nach neuen Mitarbeiter:innen beschäftigt. „Um überhaupt ansatzweise den Bedarf zu decken, muss man strategischer und weiter denken“, sagt Georg Kühl. Nexum ist deshalb mit Bildungsträgern und Hochschulen Kooperationen eingegangen, innerhalb deren Studierende im Unternehmen arbeiten. 2019 eröffnete die Firma in Valencia einen Standort. „Eine Zeit lang gab es viele junge spanische ITler, die nach Deutschland kamen. Die wollen gern zurück. Und so stellen wir sie dann da ein.“
Doch auch Spanien bietet nicht genug Arbeitskräfte. In Afrika sieht das schon anders aus. Jedes Jahr verlassen rund 2,2 Millionen Afrikaner:innen die Universitäten des Kontinents mit einem IT- oder Technik-Abschluss. Diesen Umstand nutzt das Unternehmen AmaliTech. Dessen Dienstleistung: afrikanische Programmierer:innen als Tele-Arbeitskräfte vermitteln. „Es war für uns klar: Das ist die nächste logische Konsequenz“, sagt Georg Kühl. Im November 2020 startete die Kooperation, heute arbeiten in Takoradi in Ghana 25 Programmierer:innen für Nexum.
Dieser Artikel wurde möglich durch die finanzielle Unterstützung des Recherchefonds Ausland e.V. Sie können den Recherchefonds durch eine Spende oder Mitgliedschaft fördern.
Seinen deutschen Sitz hat AmaliTech in einem historischen Fabrikgebäude im Kölner Stadtteil Ehrenfeld. Gründer Martin Hecker hat eine lange Karriere in der Beraterbranche hinter sich. Mitte der 1990er Jahre heuerte er beim Branchenriesen Boston Consulting Group (BCG) an. Er arbeitete in dessen Büros in New York und San Francisco und leitete die Abteilung für „Technology Advantage“, eine Art firmeninternen Thinktank für Digitalisierung. 2016 begann er dort sein letztes Projekt. „Ich wollte für die Zeit nach meinem Ausstieg etwas aufbauen“, sagt Hecker. Und dafür afrikanische IT-Absolvent:innen mit Unternehmen in Europa zusammenbringen. „Eine Outsourcing-Firma, mit richtigen Leistungsverträgen, keine bloße Arbeitsvermittlung.“
Hecker gründete ein Projektteam – pro bono, gemeinnützig. Dass dafür ein eigenes Förderprogramm der Bundesregierung in Aussicht stand – „davon wusste ich damals noch wirklich null“, sagt Hecker. Aber er wusste, wie man IT-Firmen aufbaut. Martin Hecker wollte in jenen afrikanischen Ländern aktiv sein, die die großen Techkonzerne links liegen lassen. In die großen Schwellenökonomien wie Ägypten, Südafrika, Nigeria oder auch Kenia, „da gehen IBM, Google und die anderen hin, das muss ich dann nicht auch noch machen“. Er nahm kleinere Länder in den Blick, um auch dort „Perspektiven zu schaffen“, wie er sagt.
Heckers Projektteam legte „einen Filter über die Daten aller Länder Afrikas“. Das Ergebnis: Ghana in West- und Ruanda in Ostafrika – dort ließen sich seine Ideen am besten verwirklichen. In beiden Ländern wächst die Wirtschaft schnell, es gibt gutes Internet, viele Uni-Absolvent:innen und vergleichsweise stabile politische Verhältnisse.
Seit Jahren drängen Wirtschaftsverbände hierzulande wegen des Fachkräftemangels auf mehr Migration. Doch die politischen Widerstände dagegen sind groß, die Hürden für ein Arbeitsvisum weiter sehr hoch. Nicht nur deshalb gehen viele gut Ausgebildete lieber in englischsprachige Länder. Kanada, die USA oder Australien sind laut dem jüngsten Global Talent Survey als Zielland beliebter als Deutschland.
Hilft da die Anwerbung von Telearbeiter:innen, um freie Stellen zu besetzen? Kann sie ein Weg sein, Migration für Menschen zu ersetzen, die lieber in ihrem Herkunftsland bleiben wollen? Digitalisierte Telearbeit, etwa in Callcentern, outgesourct in Länder wie Indien zu deutlich geringeren Löhnen – das gibt es schon länger. IT-Fachleute hingegen sind so gefragt, dass sie mit besseren Bedingungen rechnen können. Doch wie gerecht ist es, dass das globale Lohngefälle für gleiche Arbeit bei solchen Arbeitsmodellen zumindest in Teilen erhalten bleibt?
Hecker feilte drei Jahre an seiner Idee. 2019 gründete er AmaliTech, als gemeinnützige Non-Profit-GmbH. Im Oktober des gleichen Jahres startete das erste Ausbildungsprogramm in Ghana. Hecker stellte seine Tochter als Marketingbeauftragte ein, und als er 2020 bei der Boston Consulting Group ausstieg, nahm er AmaliTech mit.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Im Oktober 2021 kam Ruandas Hauptstadt Kigali als zweiter Standort hinzu. Die Räumlichkeiten dort liegen in einem Bau in der 114. Straße, im Westen Kigalis, nicht weit vom Universitätscampus entfernt. Seit Oktober leitet Roger Uwayezu, 27 Jahre, dünn und hoch aufgeschossen, hier das Trainingsprogramm von AmaliTech. Als er 1994 in Kigali geboren wurde, litt das Land unter einem der schlimmsten Kriege des Kontinents. Später stabilisierte der autoritär regierende Präsident Paul Kagame das Land. Ein stetiger wirtschaftlicher Aufschwung setzte ein, das Land wird oft „Schweiz Afrikas“ genannt. Seit 2017 ist Ruanda Teil eines von Deutschland initiierten Förderprogramms im Rahmen der G20 namens „Compact with Africa“. Dessen Ziel: Arbeitsplätze schaffen und so den Migrationsdruck Richtung Europa reduzieren.
Roger Uwayezu war einer der ersten Studierenden am Kepler Campus in Kigali, einem von der schwedischen Ikea-Stiftung finanzierten Projekt. Afrikanische Studierende können dort den Abschluss einer privaten Non-Profit-Universität aus den USA erwerben. Danach arbeitete Uwayezu als Trainer in einem Projekt für weibliche Software-Entwicklerinnen. „Es war sehr ähnlich wie das, was wir heute hier machen.“ Uwayezu selbst war noch nie in Europa. „Die einzigen Länder, die ich kenne, sind Uganda und Kenia.“ Deutschland sei „in Bezug auf die Technologie sehr fortschrittlich“, glaubt er. Viel wisse er aber nicht über Deutschland.
Ab dem Spätsommer 2021 konnten Interessent:innen sich für den ersten Durchlauf melden. Uwayezu bekam 122 Bewerbungen, 15 Kandidat:innen kamen durch. Im Dezember sollen weitere 15 hinzukommen. Am 4. Oktober begann das erste Trainingsprogramm. „Die meisten werden für ein europäisches Unternehmen arbeiten“, sagt Uwayezu.
Eine von ihnen ist Tharcissie Idufashe. Sie ist 25 Jahre alt, beherrscht fünf Programmiersprachen, das lockige Haar hat sie kurz geschnitten, sie trägt eine rote Brille. Vier Jahre studierte sie in Kigali Informatik, bis heute wohnt sie bei ihren Eltern in einem Einfamilienhaus im Bezirk Kicukiro und lebt vom Taschengeld, das ihre Eltern ihr zahlen. Die Familie ist Teil einer wachsenden afrikanischen Mittelschicht, in der Familien selten mehr als zwei Kinder haben, diese dafür auf eine Universität schicken können – und die im Afrika-Bild im Norden der Welt kaum auftaucht.
Mit dem Programmieren hat Idufashe schon in der Schule begonnen, später besuchte sie die Akademie, an der Uwayezu beschäftigt war. Sie hat ein Linked-In-Profil, einen Masterabschluss, vernetzt sich mit Programmierer:innen in anderen Teilen der Welt in Tech-Social-Media-Foren. Bevor sie zu AmaliTech kam, war sie Praktikantin bei einem Unternehmen, das Tastaturen für verschiedene afrikanische Sprachen entwickelt.
Idufashe ist Teil einer Generation, die davon profitiert, dass die Volkswirtschaften keines anderen Kontinents so schnell wachsen wie jene Afrikas. Ruanda hat sie noch nie verlassen. Über Deutschland sagt sie: „Ich kenne den Fußball, ich kenne das Bier und die Würste, ich kenne auch den Schwarzwald.“ Was Afrikaner:innen auf dem Weg dorthin geschieht, davon hat sie schon vieles gehört. „Jeder hat seine eigenen Gründe“, sagt sie. Aber: „Woher wissen sie, dass sie das, was sie wollen, in Europa auch bekommen?“
Tharcissie Idufashe, Teilnehmerin der AmaliTech-Akademie
Es ist die Haltung vergleichsweise wohlhabender Afrikaner:innen, für die eine Auswanderung keine zwingende Notwendigkeit ist, das eigene Überleben zu sichern. „Illegal dort zu leben ist ein Problem. Du wirst auf der Flucht sein und die Leute werden dich jeden Tag verfolgen.“
So sieht Idufashe ihre eigene Zukunft eher in Afrika. Dass sie dort als Frau auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt wird, glaubt sie nicht. „Ich kann sagen, dass ich alles, was ein Mann kann, auch kann.“ Letztlich sei aber ihr Ziel, sich selbständig zu machen, mit einer eigenen Softwarefirma: „Ich würde gerne für mich selbst arbeiten, anstatt für andere.“ Die Voraussetzungen dafür seien in Ruanda gut – „vor allem wegen des Glasfasernetzes, das die ruandische Regierung verlegt hat. Im ganzen Land investiert die Regierung stark in die Technologie, jedes Jahr werden viele IT-Schulen eröffnet.“ In zehn Jahren wolle sie „ein eigenes Codesystem erstellen, ohne auf die Arbeit anderer zu verweisen.“
Doch erstmal wird sie ausführen, was andere vordenken. Nach dem Training werden Idufashe und die anderen Teilnehmer:innen bei AmaliTech angestellt. Sie arbeiten in Projektteams für deutsche Softwarefirmen, die Martin Hecker als Kunden anwirbt – wie die Nexum AG von Georg Kühl.
Schon vor Jahren hätten Kollegen aus Marokko ihm berichtet, dass viele französische Unternehmen in Nordafrika große Technik-Hubs aufbauen, sagt Kühl. „Mit Französisch konnten wir uns das aber nicht vorstellen.“ Andere Softwarefirmen hätten ähnliche Modelle in Vietnam oder Indien, Kühl hält die erhebliche Zeitdifferenz für ein Problem. Afrikanische Länder wie Ghana und Ruanda hätten da gleich mehrere Vorteile: „Die fast gleiche Zeitzone, politisch stabile Verhältnisse, exzellente Ausbildungsmöglichkeiten“, und eben die englische Sprache.
Bei einem Besuch in Ghana im Herbst 2020 sei festgelegt worden, welche Arbeiten für die Kooperation von Nexum und AmaliTech genau in Frage kommen. „Wir haben Bereiche gesucht, in denen wir gut online schulen können“, sagt Kühl. Wie funktioniert die Zusammenarbeit über solche Entfernungen, mit so unterschiedlichen kulturellen Hintergründen? Die Teams arbeiten nach einem Modell namens Scrum, einem in Japan entstandenen Projektmanagement-Konzept für kleine Entwicklergruppen. Das ermögliche „integratives, schnelles Zusammenarbeiten“, sagt Hecker dazu. „Es war natürlich herausfordernd, aber wir sind total happy damit“, sagt Kühl.
In Ghana und Ruanda liegt der Monatslohn für IT-Fachkräfte mit bis zu fünf Jahren Berufserfahrung laut Hecker bei umgerechnet 700 bis 1.000 Euro. „Beim Einstieg sind wir mit unseren Löhnen in dem Bereich, dann kommen wir drüber.“ Dies seien „Marktpreise“, so Hecker. Lokale, wohlgemerkt. Bei den lokalen Lebenshaltungskosten ist es kein schlechtes Einkommen. Gleichzeitig ist es deutlich weniger als IT-Absolvent:innen in Deutschland kosten. Florian Haggenmiller, der bei Verdi die Fachgruppen Telekommunikation und Informationstechnologie leitet, schätzt das Einstiegsjahresgehalt hierzulande auf circa 30.000 Euro.
Wie viel trägt dieser erhebliche Lohnunterschied zu Kühls Happiness bei? Kosten seien „logischerweise immer ein Faktor“, sagt der. Viel wichtiger aber sei die Frage: „Bekomme ich überhaupt noch wen?“ Wie viel genau Nexum mit den AmaliTech-Programmier:innen gegenüber den Kosten für vergleichbare deutsche IT-ler spart, lasse sich nicht genau beziffern, sagt Kühl. „Es ist sicherlich günstiger als in Europa.“ Er verweist darauf, dass Nexum „bewusst Arbeitsplätze vor Ort schafft, das hat in der Entwicklungshilfe ja leider jahrelang nicht so funktioniert.“ Die Beschäftigten hätten „Arbeitsverträge und Karrierechancen“.
Hinzu komme noch etwas: Junge Mitarbeiter:innen, die Nexum in Europa einstelle, „kommen nicht wegen des Mammons“, sagt Kühl. „Die interessiert immer mehr: Wie stiftet man Nutzen?“ Arbeitsplätze in Afrika zu schaffen sei ein solcher Nutzen.
„Grundsätzlich sehen wir das so, dass gleiche Arbeit auch gleich bezahlt werden muss, egal wo. Das erwarten wir von Unternehmen“, sagt der Gewerkschafter Haggenmiller dazu. Es gebe im Software-Bereich ganz unterschiedliche Modelle mit geografisch verteilten Beschäftigten und teils sehr unterschiedlichen Konditionen. Dass AmaliTech überhaupt Arbeitsverträge abschließe und Löhne über dem lokalen Niveau zahle, sei „als Rahmenbedingung aber erstmal ganz gut“. In jedem Fall aber empfiehlt er Beschäftigten in global vernetzten Teams, sich gemeinsam gewerkschaftlich zu organisieren. „Das ist mittlerweile durchaus auch international möglich.“
Die Kunden wie Nexum zahlen für die Dienstleistungen von AmaliTech, welche als gGmbH keine Gewinne macht. Die Einnahmen fließen in die Gehälter der afrikanischen Programmier:innen und in die Kosten für die Trainingsprogramme. Die werden zusätzlich vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit gefördert. Denn Jobs schaffen in Afrika, nicht nur, aber auch um irreguläre Migration einzudämmen – das war eines der liebsten Themen des gerade aus dem Amt geschiedenen CSU-Entwicklungsministers Gerd Müller. 2016 hatte der einen „Marshallplan für Afrika“ präsentiert. Ein Teil dieses Plans ist die „Sonderinitiative Ausbildung und Beschäftigung“, die wiederum den Verein Digital Skills Accelerator Africa e.V. finanziert. AmaliTech ist deren Gründungsmitglied. Das Geld fließt über die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit. Wie viel es genau ist, will Hecker nicht sagen.
Heckers Ex-Arbeitgeber BCG hat den Bedarf an Arbeitskräften in Deutschland für den IT-Bereich ausgelotet. Demzufolge fehlen heute 87.000 Fachkräfte. Die Zahl werde sich „jedes Jahr erhöhen“ und könnte 2030 auf mehr als eine Million fehlende Spezialist:innen im digitalen Sektor angewachsen sein. Der Gewerkschafter Haggenmiller hält dieses Problem zum Teil für hausgemacht. „Wir haben hier durchaus junge Fachkräfte auf dem Markt, die möglicherweise gewisse Weiterqualifizierung brauchen“, sagt er. „Da tun aus unserer Sicht die IT-Unternehmen zu wenig, um diese Qualifizierung hier anzubieten oder auch selbst auszubilden. Das müsste eine viel größere Rolle spielen.“
Roger Uwayezu, Trainingsleiter bei AmaliTech in Kigali
Qualifizierung will aber auch Roger Uwayezu, der AmaliTech-Trainingsleiter, anbieten. Er sagt: „Hier gibt es eine Menge Arbeiter, die keine Arbeit haben.“ Deren Talente wolle man entwickeln und gleichzeitig Arbeitsplätze für sie schaffen. Das helfe langfristig auch dem Tech-Sektor in Ruanda, glaubt Uwayezu. „Wenn sie mit großen Unternehmen in Europa zusammenarbeiten, werden sie dabei viele Dinge lernen.“
Die IT-Curricula an den Universitäten in Afrika und Europa seien „sehr ähnlich“, sagt AmaliTech-Gründer Hecker. Was den Studierenden in Afrika fehle, seien praktische Übungen. „Das ist das Wichtigste, was wir im Trainingsprogramm tun: Die Anwendung des Theoriewissens im konkreten Projekt.“ Die Trainees entwickelten eigene Software-Anwendungen und lernten, wie sie diese bei den Kunden präsentieren. „Softskills“, sagt Hecker.
Das kostenlose Training dauert sechs Monate, in dieser Zeit gibt es keine reguläre Entlohnung – nur „Mittagessen“. „Menschen bewerben sich auf alles Mögliche“, sagt Martin Hecker, „wir müssen verhindern, dass viele nur hingehen, weil sie ein bisschen Geld verdienen können“. Doch wer die Ausbildung schaffe, der „kriegt auf jeden Fall ein Jobangebot“. Die Teilnehmer:innen müssten während der Zeit Tests ablegen. „Wer gut ist oder bedürftig, kriegt ein Stipendium.“ Am Standort Accra liege dessen Höhe bei umgerechnet 80 Euro im Monat.
Laptop und Bildschirm werden gestellt, über das Mobilfunknetz können die Teilnehmer:innen von zu Hause arbeiten. „Für Videobearbeitung würde das nicht gehen, aber für Daten kommt man gut zurecht.“ In Ghana haben gleich zwei Internet-Konzerne Glasfaserkabel verlegt. Schnelleres Netz gibt es in Berlin auch nicht. Bei Übernahme zahlt AmaliTech – lokale – Sozialleistungen und Krankenversicherung. „Viele Teilnehmer:innen haben zum ersten mal feste Jobs“, sagt Hecker. Die Pandemie dürfte seinem Konzept Auftrieb verliehen haben. Telearbeit hat seit Beginn der Coronakrise einen ganz neuen Stellenwert erfahren.
AmaliTech ist so angelegt, dass die Absolvent:innen in Afrika bleiben. Doch wenn längere Arbeitsbeziehungen entstehen, sollen sich die Teammitglieder auch persönlich kennenlernen. „Die ersten waren schon zu Besuch da“, sagt Hecker. „Wir wollten mit unserem Team im Februar nach Ghana runterfahren“, sagt Nexum-Manager Kühl. „Aber wegen Corona ist das nun etwas schwierig.“
Telearbeiter:innen mit geringeren Löhnen aus Afrika, um deutschen Fachkräftemagel zu lösen, ohne Migranten ins Land zu lassen – man kann dies als Konzept sehen, das es der Wirtschaft und den konservativen Betonköpfen, die von ihrer „Kein Einwanderungsland“-Lebenslüge nicht loskommen wollen, gleichermaßen recht macht. Doch ein solcher Blick hält fest an der Vorstellung, dass es nichts Erstrebenswerteres geben kann, als im reichen Europa zu leben. Ein Irrtum. Tatsächlich gibt es viele Afrikaner:innen wie Tharcissie Idufashe, die sich eine Auswanderung zwar vorstellen können, aber lieber im eigenen Land bleiben wollen, nahe bei Familie und Freund:innen, wenn sich ihnen dort wirtschaftliche Möglichkeiten bieten. Wer also will was von wem? Die Antwort auf diese Frage wird sich in den kommenden Jahren verschieben.
Denn die lokalen Perspektiven bieten sich zunehmend, zumindest für gut Ausgebildete in Afrika: Die fünf am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt liegen in Afrika. Von 2015 bis 2020 stieg die Zahl der afrikanischen Tech-Start-ups, die Risikokapital als Aufbauhilfen bekamen, jedes Jahr um durchschnittlich 46 Prozent – etwa sechsmal schneller als der weltweite Durchschnitt. Alle diese Firmen brauchen Arbeitskräfte. Anfang Oktober kündigte Google eine Milliardeninvestition in Afrika an, unter anderem ein Labor für künstliche Intelligenz in Ghana. Facebook eröffnet Rechenzentren in Lagos in Nigeria und will den gesamten Kontinent mit 37.000 Kilometer langen Unterwasser-Internetkabeln vernetzen. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis auch in Afrika junge IT-Fachleute nicht hoffen müssen, dass sie einen Job bekommen, sondern wählen können, welchen sie nehmen.
Das könnte für Deutschland zum Problem werden. Schon 2001 legte die vom damaligen SPD-Innenminister Otto Schily eingesetzte „Unabhängige Kommission Zuwanderung“, besser bekannt als „Süssmuth-Kommission“, einen Empfehlungskatalog vor. Mindestens 50.000 Menschen pro Jahr sollten als Arbeitskräfte nach Deutschland kommen, um die Zahl der Menschen in arbeitsfähigem Alter konstant zu halten. Diese Lücke wurde von Wirtschaftsforscher:innen seither als immer größer angesehen – denn die Geburtenraten sinken. Doch es kommen nicht genug.
Es war vor allem Rita Süssmuths eigene Partei, die CDU, die einer entsprechenden Öffnung skeptisch gegenüber steht – bis heute. Überlegungen der neuen Ampel-Koalition, abgelehnten Asylsuchenden die Möglichkeit zu geben, eine Aufenthaltserlaubnis zum Arbeiten zu beantragen, nannte Norbert Röttgen, der als am liberalsten geltende Kandidat für den CDU-Vorsitz, das „definitiv falsche Signal“. Es befördere die „Armuts- und Wirtschaftsmigration nach Deutschland“ und wäre deshalb „ein fataler Fehler“.
Detlef Scheele, Chef der Bundesagentur für Arbeit
So warnt die Wirtschaftspartei CDU vor „Wirtschaftsmigration“, während die Wirtschaft selbst kaum etwas dringender wünscht als neue Arbeitskräfte. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag warnt vor gravierenden Folgen: Durch Personalknappheiten stehen „Wachstums- und Wohlfahrtspotenziale ebenso wie öffentliche Einnahmen auf dem Spiel“. Fast neun von zehn Unternehmen erwarten Probleme wegen des Fachkräftemangels, rund die Hälfte rechnet damit, dass sie Aufträge verlieren oder ablehnen müssen, weil nötiges Personal fehlt.
Eigentlich hatte das 2020 in Kraft getretene Fachkräftezuwanderungsgesetz dieses Problem lindern sollen. Doch weil die Union es nie wirklich wollte, gestaltete sie es derart mutlos aus, dass nicht die dadurch erhofften 50.000 Arbeitskräfte pro Jahr mehr kommen, sondern bislang – sicher auch durch Corona – weniger als zuvor: 2020 sank die Zahl der Anträge auf Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse bei den deutschen Behörden um drei Prozent auf 42.000. Deutschland müsse Zuwanderer ins Land holen, sagt der Bundesagentur-Chef Detlef Scheele, und zwar 400.000 pro Jahr: „Man kann sich hinstellen und sagen: Wir möchten keine Ausländer. Aber das funktioniert nicht.“
Und so könnten Menschen wie Tharcissie Idufashe oder Marie Rene Iradukunda zunehmend für deutsche Firmen interessant werden. Auch Iradukunda ist eine der Trainees bei AmaliTech. Sie ist 24 Jahre alt und stammt aus der Provinz Kamonyi. An der Universität von Ruanda hat sie im College für Wissenschaft und Technologie studiert, danach besuchte sie – ähnlich wie Idufashe – eine Akademie namens „She Can Code“. Auch Iradukunda wohnt im Haus ihres Vaters und lebt von seiner Unterstützung, die Mutter ist vor ein paar Jahren gestorben. „Das Einzige, was ich über Deutschland weiß, ist, dass es unser Land kolonisiert hat“, sagt sie.
An der Uni und bei She Can Code habe sie Programmieren gelernt, aber sie sei sicher, dass sie bei AmaliTech viel neues lerne. „Die Technik bleibt nicht stehen, sie entwickelt sich jeden Tag weiter“, sagt sie. Sie könne sich vorstellen, im Technologiesektor in Ruanda zu arbeiten. „Ich weiß nicht, wie hoch mein Gehalt sein wird, aber wenn ich einen Job bekomme, werde ich jedes Angebot annehmen.“
Etwa 250 Afrikaner:innen haben das AmaliTech-Programm in Ghana durchlaufen, in Kigali läuft der erste Durchgang. Rund 150 Jobs habe AmaliTech selbst geschaffen. „Nicht alle nehmen das Angebot an“, sagt Hecker. Es gebe keine Verpflichtung, für einen der AmaliTech-Kunden zu arbeiten. „Auch andere Firmen stellen die Teilnehmer ein oder diese machen sich selbständig. Wir haben mittlerweile eine gewisse Reputation.“ Etwa 100 der Absolvent:innen würde heute anderswo arbeiten. Damit neue nachkommen, machen die deutschen Außenhandelskammern das Projekt bekannt, Hecker stellt es auf Jobmessen in Städten wie Accra, Kumasi oder Kigali vor.
In den nächsten fünf Jahren will er 1.000 Jobs schaffen, langfristig soll es 3.000 Auszubildende geben. Welche anderen Staaten als Standorte in Frage kommen, sei „eine gute Frage“, sagt er. Erst mal wolle er die Dependancen in Ghana und Ruanda weiter ausbauen. „Darüber hinaus haben wir keine direkten Expansionspläne. Aber wir schließen das nicht aus.“
Bisher hat Martin Hecker nur in Deutschland Kunden gesucht, doch das müsse nicht so bleiben. Schweiz, Österreich, Holland, Skandinavien, Großbritannien – „wo man mit englischer Sprache gut was machen kann, da könnten wir auch hin“, sagt er.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“