Facebook nervt: Liked mich doch am Arsch!
Empfohlene Beiträge, viele Filter, kaum Selbstbestimmung: Es ist an der Zeit, Facebook zu verlassen. Wenn da nicht eine wichtige Nichtnutzerin wäre.
BERLIN taz | Diesmal hat die „Candy Crush Saga“ ihren großen Auftritt: „GRATIS Spiel bei iphone/iPad --> Superspannend!“ steht in meinem Newsfeed auf meiner Facebook-Startseite.
Sind wir befreundet? Schnell mal nachsehen. Nein. Bin ich ein Fan der Seite? Auch nicht. Wie kommt das dann in den Bereich, der meinen Freunden und Interessen vorbehalten sein soll? Ach so – „empfohlener Beitrag“ samt Link zu irgendeinem App-Gelumpe, jemand hat Geld dafür ausgegeben, in meinem Newsfeed (und vielen anderen) sichtbar zu sein.
Beiträge, auf die ich mich freue, muss ich dagegen mit der Lupe suchen, weil sie zwischen „empfohlenen Beiträgen“, den Posts von mir selbst favorisierten Freunden und dem Vielgefacebooke mancher Bekannter einfach untergehen. Fünf Minuten brauche ich, um den neuen Cartoon des New Yorker zu finden. Nach Updates italienischer Anarchisten und us-amerikanischer Linksradikaler suche ich heute vergeblich. Vielleicht, weil sie nichts geschrieben haben, vielleicht, weil ihre Beiträge von Facebooks Filter Bubble als nachrangig für meine Lesegewohnheiten eingestuft wurden. Mir fehlt gerade die Zeit, das zu überprüfen.
Denn allein 14 Minuten hat es jetzt wieder gekostet, mich im Startseitenbereich meiner eigenen Facebookseite zurechtzufinden. 14 Minuten, die mich mehr nerven, als dass sie mir einen Gewinn an Erkenntnis, Unterhaltung oder freundschaftlichem Austausch gebracht hätten. Facebook nervt. Es nervt, weil es meine Lebenszeit frisst und es nervt, weil es mich so davon abhält, andere Dinge zu tun. Daran bin ich selbst schuld. Niemand zwingt mich zu einem Facebook-Konto.
Mehr ärgert mich deswegen mein eigener Automatismus, Facebook als wesentlichen Bestandteil meines Nutzerverhaltens im Netz zu begreifen. Wir haben in den frühen nuller Jahren AOL doch nicht boykottiert, damit uns nun Facebook von all dem Schönen und Hässlichen fernhält, was das Netz sonst so zu bieten hat. Das AOL-Konzept, die Älteren unter uns werden sich vielleicht noch erinnern, sah vor, dass das Internet nichts ist und AOL alles.
Jeder, der die Seite besuchte, sollte dort alles finden, was er oder sie im Internet so braucht: Mail, Infos, Shopping, Vernetzung, Chat, Wetter, Spiele usw. Es sollte, um es noch einmal anders zu sagen, für den geneigten Nutzer keinen Grund geben, etwas Anderes als aol.de oder aol.com in den Browser einzutippen.
AOL ist Geschichte, aber Facebook lebt – samt Mail, Infos, Shopping, Vernetzung, Chat, Wetter, Spiele usw. Und wie: Nach eigenen Angaben hat das Netzwerk mehr als eine Miliarde Nutzer in aller Welt, darunter 20 Millionen aktive Nutzer in Deutschland, von denen weit über die Hälfte jeden Tag mal auf Facebook vorbeischaut. Mehr als sechs Stunden im Monat verbringen US-Nutzer nach Angaben des Marktforschungsinstituts Nielsen im Netzwerk. Und Facebook wächst weiter.
Gibt es ein Draußen?
Seit Monaten denke ich immer wieder mal darüber nach, Facebook zu verlassen. „Empfohlene Beiträge“, die „Filter Bubble“, Fremdbestimmung, Mängel beim Datenschutz, immer mehr Werbung: Es gibt viele Gründe. Aber gibt es ein „Draußen“?
Eine Welt also, in der man auf die Annehmlichkeiten von Facebook – kleine Botschaften von Leuten, die ich kenne, die schnelle Kontaktaufnahme zu Bekannten, Einladungen zu Partys und Lesungen, Erinnerungen an Geburtstage – verzichten kann, ohne selbst mehr Aufwand zu haben? Das ist es, was Facebook so erfolgreich macht, es sind die vielen kleinen Anwendungen, die uns im Wust der ohnehin überbordenden Daten bei der täglichen Orientierung helfen.
Also: Gibt es ein „Draußen“? Ja, meint Christian Heller, Blogger, Netzkulturforscher und bekennender Nicht-Facebooker. Er hat vor geraumer Zeit sein Profil gelöscht und vermisst das Netzwerk kaum – „höchstens bei ein paar Party-Einladungen“. Facebook ordne die Kommunikation der Nutzer den eigenen Netzwerkinteressen unter, betont er. Er habe alles gelöscht, als ihm klar geworden sei, dass seine Kommunikation von Facebook gesteuert und die eigene Filtersouveränität von Facebook kaputtgemacht worden sei. „Und momentan besteht für mich kein Grund zur Rückkehr.“
Als „total befreiend“ bezeichnet Julia Seeliger, taz-Kolumnistin und Bloggerin, die facebookfreie Welt. Auch sie hat das Netzwerk neulich aus freien Stücken verlassen. „Ich habe mich viele Stunden am Tag dort aufgehalten“, sagt sie, „und nur gespielt. Ich will aber nicht spielen, sondern leben!“ Facebook sei wie die Matrix, meint sie in Anspielung auf die gleichnamige Filmtrilogie. „Ich will aber nicht in die Matrix.“ Klare Worte, die mich zudem beschämen: Auf der Suche nach den Telefonnummern der beiden wollte ich – Hirn aus, Facebook an – zuerst im Netzwerk selbst nachsehen.
Nur ein paar Dollar
Tina Kulow, Facebook-Sprecherin für Deutschland, kann diese Probleme nicht nachvollziehen: „Wir bekommen in dieser Richtung kein Feedback.“ Im Gegenteil sei es doch häufig sinnvoll, eigene Beiträge hervorzuheben“, etwa bei der Jobsuche. Für sechs Dollar habe sie selbst neulich erst einen Beitrag hervorgehoben, die Aktion „Wir stehen auf“ von „Laut gegen Nazis e.V.“ Den Vorwurf, Beiträge zu filtern, kontert sie: Es bleibe auf Facebook immer „genug Raum für überraschende Dinge“, wie auch die Website „Facebook Stories“ zeige.
Eine Anti-Nazi-Aktion hervorzuheben, dagegen kann wohl außer ein paar Nazis kaum jemand was einwenden. Doch auch diese Haltung muss man sich erstmal leisten können. Die Realität besteht ohnehin viel mehr aus Beiträgen aus der „Candy-Crush-Saga“-Liga und anderen Werbeveranstaltungen. Das macht nichts. Werbung gehört zum Online-Geschäft, auch taz.de kommt da nicht drumrum.
Nerviger ist, dass einem die Kontrolle übers eigene Profil teilweise abhanden kommt. Man bekommt eine Facebook-Mailadresse, die man nie gewollt hat, eine Chronik, die man so nie erstellt hätte, und soll, um im Mainstream nicht zu ersaufen, Listen erstellen und „Freunde“ sortieren.
Verschwendete Zeit
Das alles kostet Zeit, Zeit und noch mehr Zeit. Und diese investierte Zeit ist es dann auch, die einen davon abhält, das Profil einfach dichtzumachen. Dann wäre all die verschwendete Zeit noch einmal verschwendet. Aber gut, es gibt Schlimmeres als Verschwendung. Verschwendung ist immer auch ein Ausdruck von Großzügigkeit, einer sympathischen Einstellung zum Leben.
Sie sehen: Auch beim Schreiben über Facebook geht es in meinem Kopf immer noch hin und her. Bleiben? Oder verlassen? Eine Entscheidung muss her: Ich werde bleiben, und das allein wegen meiner Mutter. Seit Jahren liegen ihr Nichten und Neffen in den Ohren, endlich auch zu facebooken. Irgendwann im Jahr 2011 ist sie dann heimlich, still und leise beigetreten. Ich war ganz baff, als mich plötzlich ihre „Freundschaftsanfrage“ erreichte.
Baff und entsetzt: Würde ich künftig Facebook noch so nutzen können wie bisher? Müsste ich mir abfällige Kommentare über mein Heimatdorf nun verkneifen? Käme jetzt die Selbstzensur bzw. der Selbstfilter zum Einsatz? Ich gestehe: Genau an diesem Tag habe ich zum ersten Mal darüber nachgedacht, Facebook zu verlassen.
Nichts davon ist passiert. Meine Mutter ist immer noch auf Facebook. Sie schreibt nichts, kommentiert nichts, hebt ganz selten mal den Daumen. Ich kann sie dort jetzt nicht einfach allein lassen – allein mit der „Filter Bubble“, der von ihr nicht genutzten Chronik und den Versprechen der „Candy Crush Saga“: „GRATIS Spiel bei iphone/iPad --> Superspannend!“ Mama spielt so gerne. Und Zeit hat sie auch.
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