FDP-Chef Lindner stellt Raed Saleh in den Schatten: Zwischen Charisma und Corona
Der Parteivorsitzende bekommt bei der Industrie- und Handelskammer mehr Applaus als der SPD-Fraktionschef – aber weniger als Franziska Giffey.
M mmh. Grummel. Mist. Er hat’s einfach raus, dieser Mann, der so oft als smart beschrieben wird und an diesem Dienstagmorgen auch genauso rüberkommt. Dabei ist er doch von der FDP, also – Schublade auf – kaltherzig, nüchtern, unsozial. Und es ist nicht nur irgendein Liberaler, sondern ihr Bundesparteichef, der da Gast beim Wirtschaftspolitischen Frühstück der Industrie- und Handelskammer (IHK) ist.
Über eine Viertelstunde spricht Christian Lindner schon, und in den Reihen der über 200 Zuhörer ist bislang keiner zu sehen, der gähnen oder gelangweilt auf sein Handy schauen würde. Was deutlich anders war, als vor zwei Wochen an gleicher Stelle Raed Saleh, der SPD-Fraktionschef im Abgeordnetenhaus, vergeblich versuchte, das Publikum mit der Forderung zu bannen, Berlin groß zu denken.
Zwei Erklärungen hat Lindner dafür, dass er überhaupt ein Publikum findet, trotz aller Coronawarnungen: Es zeigt aus seiner Sicht zum einen, dass man in Berlin weiter öffentliches Leben wolle. Zum anderen aber sei es „nach Thüringen ein Beitrag zur Rehabilitation der FDP, dass Sie hierher gekommen sind“.
„Sie“, dass sind knapp 250 Unternehmer und weitere Gäste samt Journalisten, und „Thüringen“ steht für die nur durch AfD-Stimmen möglich gewordene Wahl eines FDP-Ministerpräsidenten Anfang Februar in Erfurt – ein Vorfall, den der FDP-Chef nach Meinung vieler hätte verhindern können und müssen. Für Lindner verkennt das die Möglichkeiten einen FDP-Bundesvorsitzenden: „Sie können nicht auf eine Fraktion oder einen Landesverband einwirken wie auf eine Filiale.“
Auf SPD-Mann Saleh, gewissermaßen sein Vorredner, kommt Lindner auch zu sprechen: Ihm und anderen hält er vor, sie hätten aus den Thüringer Vorgängen – „für mich ein Fiasko“ – politisches Kapital schlagen wollen. Saleh hatte in einem Zeitungsbeitrag behauptet, nur die Parteien der linken Mitte stünden uneingeschränkt zur Demokratie. „Es gibt auch Positionen der Mitte, die nicht links sind“, sagt Lindner, „und die muss man auch sagen dürfen.“
Dass er weit mehr Applaus bekommt als Saleh, könnte man nun parteipolitischer Nähe der Unternehmer zur FDP und möglicher Abneigung gegenüber der SPD zuschreiben – wäre da nicht Franziska Giffey, Salehs mögliche künftige Kollegin an der Berliner SPD-Spitze: Die hatte bei ihrem IHK-Auftritt 2019 noch mal mehr Beifall bekommen als der smarte Lindner.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin