FALL CHANTAL: Schuld auf Träger abgewälzt
Untersuchung bestätigt Hauptschuld des Jugendamtes am Methadon-Tod des elfjährigen Pflegekindes aus Hamburg-Wilhelmsburg.
HAMBURG taz | Wer ist schuld am Tod des elfjährigen Pflegekindes Chantal, das in der Obhut drogenabhängiger Eltern im vergangenen Januar in Hamburg-Wilhelmsburg an einer Methadon-Vergiftung starb? Auf die Frage nach den Ursachen aber auch nach den Konsequenzen aus dem „Fall Chantal“, der bereits zur Versetzung der zuständigen bezirklichen Jugendamtsleiterin Pia Wolters und zum Rücktritt des Bezirksamtsleiters Markus Schreiber (SPD) geführt hat, gibt es jetzt eine erste offizielle Antwort. Die Innenrevision der Hamburger Finanzbehörde legte am späten Dienstag dazu ihren 72-seitigen Untersuchungsbericht vor.
Pikant daran: Die Analyse legt nahe, dass das Jugendamt die Hauptschuld trägt und damit die von Sozialsenator Detlef Scheele (SPD) favorisierten Konsequenzen in die falsche Richtung zielen. Scheele hatte in einem „Eckpunktepapier“ gefordert, die Auswahl und Betreuung von Pflegeeltern den Freien Trägern zu entziehen und ganz in den Jugendämtern sowie den ihnen angeschlossenen Allgemeinen Sozialen Diensten (ASD) zu konzentrieren – dahin also, wo sich die Pannen konzentrierten, die die Tragödie mit auslösten.
In ihrer Analyse kommt die Innenrevision zu dem Schluss, dass „aufgrund der dem ASD bekannten schwierigen Lebensumstände der Pflegefamilie“ diese „keine Pflegekinder“ hätte „dauerhaft aufnehmen“ dürfen. So heißt es in dem Bericht: „Eine Überforderung der Pflegeeltern und eine Vernachlässigung der Pflegekinder war den Beteiligten des Jugendamtes bekannt. Doch die „abgebildeten Widersprüche wurden nicht aufgelöst, notwendige Folgerungen nicht gezogen und entsprechende Handlungen“ seien unterblieben. Hier allerdings gibt die Innenrevision dem involvierten Freien Träger eine Mitschuld.
2008 wird Chantal wird in eine Pflegefamilie gegeben.
16. 1. 2012: Chantal wird tot in ihrem Bett gefunden, gestorben an einer Methadon-Vergiftung.
25. 1.: Bezirksamtsleiter Markus Schreiber (SPD) betont: "Dem Kind ging es gut bis zuletzt."
26. 1.: Schreiber räumt ein, die Auswahl der Pflegeeltern sei falsch gewesen.
30. 1.: Die Sozialbehörde verschärft Kriterien für Pflegeeltern.
10. 2.: Schreiber tritt zurück.
18. 4.: Die Bürgerschaft setzt einen Sonderausschuss ein, der die Todesumstände aufklären soll.
19. 6.: Die Innenrevision veröffentlicht ihren Prüfbericht.
Zudem bemerken die Prüfer, dass nicht die Aufnahmekriterien für Pflegekinder – die Scheele nun verschärfen will – zu lasch waren, sondern einfach unbeachtet blieben: „Bei konsequenter Anwendung des 2005 vom Senat gestalteten Regelwerkes hätte es nicht zum Pflegeverhältnis kommen dürfen.“ Als Konsequenz aus dem Desaster mit tödlichem Ausgang empfehlen die Prüfer so auch nicht die Verlagerung aller Aufgaben auf die Jugendämter, sondern lediglich eine „wirksame, nachhaltige Kontrolle der Freien Träger“.
Bereits vor der Vorlage des Berichts waren viele Hamburger Pflegeeltern Sturm gegen die Pläne Scheeles gelaufen, hatten 200 von ihnen eine Resolution unterzeichnet, deren Kernsatz lautet: „Wir wollen auch weiterhin frei entscheiden können, ob uns das Jugendamt oder ein Freier Träger als Pflegefamilie begleitet.“
Scheele hatte im Mai angekündigt, die Verträge mit den Freien Trägern zu kündigen, weil sie in Zukunft bei der Betreuung von Pflegeeltern nicht mehr erwünscht seien. Erst der Familienausschuss hatte den hastigen Alleingang des Senators gestoppt.
Auch für die familienpolitische Sprecherin der GAL, Christiane Blömeke sieht der Untersuchungsbericht „das eklatante Fehlverhalten im Bereich des Jugendamtes“ und bietet somit „keinen Anlass, die freien Träger aus der Pflegeelternbetreuung rauszudrängen“. Für den Abgeordneten der Linkspartei, Mehmet Yildiz, versucht Scheele gar „das Versagen des Jugendamtes auf die Freien Träger abzuwälzen“. Der Bericht der Innenrevision zeige auf, „dass Scheeles Schnellschüsse aus dem was in Wilhelmsburg passiert ist, nicht begründbar“ seien.
Die bereits von Scheele verfügten Verschärfungen bei der Auswahl von Pflegeeltern seien ebenfalls „eine Überreaktion des Senators“, sagt Blömeke. So müssen alle Mitglieder der Pflegefamilie, die das 14. Lebensjahr überschritten haben in Zukunft zum Drogentest – hat die 15-jährige Tochter mal gekifft, gilt die Familie fortan als ungeeignet. „Solche Kriterien gibt es in keinem anderen Bundesland“, klagt die GAL-Abgeordnete.
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