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Expertin über kollabierende Kitas„Lügen wir uns nicht weiter in die Tasche“

Die Bremer Kita-Expertin Ilse Wehrmann fordert angesichts des Fachkräftemangels, ältere Kinder zu priorisieren anstatt alle schlecht zu versorgen.

Brauchen viel Betreuung: Kleinkinder beim Zähneputzen in einer Kita Foto: Waltraud Grubitzsch/dpa
Eiken Bruhn
Interview von Eiken Bruhn

taz: Frau Wehrmann, Eltern und Er­zie­he­r:in­nen warnen vor dem Kita-Kollaps, so heißt auch Ihr Buch. Aber die Probleme bestehen seit Jahrzehnten. Steckt der Fehler im System?

Ilse Wehrmann: Ich glaube, die Einstellung zu Kindern muss sich ändern. Wir hinterlassen ihnen eine kaputte Umwelt und einen Schuldenberg, sind aber nicht in der Lage, gute Kindergärten für sie zu schaffen.

taz: Sind Kindergärten ein Ausdruck dieser Einstellung? Sie wurden ja nicht für Kinder geschaffen, sondern für Eltern.

Wehrmann: Die Bosch-Stiftung hat mich vor 20 Jahren um die Welt geschickt, damit ich mir Kitas anschaue, von denen wir uns etwas abgucken können. Jede, die ich gesehen habe, wäre bei uns sofort geschlossen worden. Aber die Haltung zu Kindern, die hat gestimmt.

taz: Warum wären sie geschlossen worden?

Wehrmann: Wegen der Sicherheitsbestimmungen. Wir legen viel Wert darauf, wie viel Abstände Steckdosen haben.

taz: Warum sind Steckdosenabstände wichtiger als Kinder?

Wehrmann: Das habe ich mich auch gefragt, und das in meiner Promotion untersucht. Grob gesagt haben sich Länder wie Neuseeland, Australien und Kanada Anfang der 90er auf den Weg gemacht mit einer Bildungs- und Ausbildungsreform. Da waren wir mit der Wiedervereinigung beschäftigt. Heute haben wir 16 Bildungspläne in den Bundesländern, im Umfang von bis zu 400 Seiten. Für Schweden gibt es einen: 35 Seiten.

Bild: privat
Im Interview: Ilse Wehrmann

74, Erzieherin und promovierte Sozialpädagogin, arbeitet seit 1970 in und mit Kinder­tagesstätten. Seit 2007 berät sie in eigener Firma Unternehmen bei der Gründung einer Betriebs-Kita, unter anderem Daimler, RWE, Telekom und Volkswagen. Sie war Vorsitzende der Bundesvereinigung Evangelischer Tageseinrichtungen für Kinder und Mitglied mehrerer Expert:innen-Kommissionen zur frühkindlichen Bildung in Deutschland.

taz: Er­zie­he­r:in­nen haben keine Zeit, sie umzusetzen.

Wehrmann: Die haben nicht mal Zeit, sie zu lesen! Sie werden völlig alleine gelassen. Ich habe noch nie so viel Frustration von Pädagogen erlebt wie im Moment. Viele sind so überfordert, dass sie ihren eigenen Ansprüchen nicht mehr gerecht werden können, rigoros werden gegenüber Kindern. Und wir reden nicht mit ihnen, hören ihnen nicht zu.

taz: Bremen will die Not lindern, indem Kinder am frühen Morgen und späten Nachmittag von Ungelernten betreut werden. So wie wir früher: Eltern, Großeltern, Nachbarinnen hatten auch keine Ausbildung.

Wehrmann: Wir brauchen diese Zusatzkräfte, und ich finde es gut, wenn die Kinder von jemand lernen können, der mal einen anderen Beruf hatte. Aber ihre Eignung muss mit Assessments geprüft werden. Und sie brauchen Fortbildung und Beratung.

taz: Das gilt auch für Fachkräfte: Ausbildung garantiert keine Eignung, und Haltung vermittelt kein Bildungsplan.

Wehrmann: Entscheidend ist, dass ich ein Kind beobachte, ihm zuhöre und da abhole, wo es gerade ist, auch im Selbstständigwerden. Und ich muss selbst etwas im Kopf haben, um Zusammenhänge erklären zu können.

taz: Müsste man in Zeiten so großen Fachkräftemangels die Betreuung älterer Kinder priorisieren? Sie profitieren vom Zusammensein mit anderen Kindern, für die Ein- und Zweijährigen sind vertraute Erwachsene das Wichtigste. Damit sie keinen Schaden nehmen, braucht es nach Einschätzung von Ex­per­t:in­nen eine Fachkraft für drei Kleinkinder.

Wehrmann: Ich wäre immer dafür, Kinder, so lange es geht, zu Hause zu betreuen, vielleicht stundenweise außerhalb, um Eltern zu entlasten. Die große Wissbegierde und Neugier auf andere Kinder setzt ja erst ab etwa zweieinhalb Jahren ein. Aber dann müssten wir ihnen mindestens zwei Jahre vor der Schule den Kita-Besuch garantieren.

taz: Verlässliche Betreuung für Ältere statt Stress für alle?

Wehrmann: Ja. Aber wenn Mütter mehrere Jahre raus sind aus ihrem Beruf, haben sie häufig keine Chance, wieder reinzukommen. Und wir müssten auch ans Unterhaltsrecht ran.

taz: Es müssen ja nicht nur Mütter zu Hause bleiben! Nach einer aktuellen Umfrage arbeiten Väter mehr, als sie selbst für ideal halten, und Mütter weniger. Dabei hatten Ar­beit­neh­me­r:in­nen noch nie eine so gute Verhandlungsposition.

Wehrmann: Wir müssen auf jeden Fall alle an einen Tisch holen, Arbeitgeber, Gewerkschaften, Berufsverbände, Politik. Und vielleicht müssen wir wirklich den Mut haben zu sagen, wir erfüllen den Rechtsanspruch ab einem Jahr nicht, wir brauchen eine Gesetzesänderung. Aktuell haben 400.000 Kinder keinen Platz, weder die Qualität noch der zeitliche Umfang ist einklagbar. Und je kleiner die Kinder sind, umso besser muss die Einrichtung sein. Und das sind zu wenige. Also lügen wir uns nicht weiter in die Tasche. Dann möchte ich aber für die älteren Kinder Pädagogen haben, die auf internationalem Niveau aus- und weitergebildet werden, die Kindern Appetit machen auf den Kindergarten.

taz: Die SPD glaubt, viele Kinder seien in Institutionen per se besser aufgehoben.

Wehrmann: Ich habe damals für Platz-Sharing gekämpft, damit Krippenkinder nur für zwei oder drei Tage kommen können. Mir wurde Kindeswohlgefährdung vorgeworfen! Dabei müssen sich Kinder in erster Linie zu Hause wohlfühlen können, Kita ist familienergänzend. Wichtig ist, dass Eltern entspannt sind zu Hause, dann können sie auch souverän den Kindern gegenüber sein.

taz: Die Weichen für den späteren Schulerfolg werden offenbar im ersten Lebensjahr gestellt. Müssen Familien mehr zu Hause unterstützt werden?

Wehrmann: Ja. In China habe ich mir so etwas angeschaut. Vielleicht müsste man eine Debatte über das Kindergeld in Deutschland führen, ob das nicht besser in Unterstützungssysteme fließen sollte. Wir haben das höchste Kindergeld, aber die schlechteste Infrastruktur.

taz: Oder eine über Beitragsfreiheit.

Wehrmann: Grundsätzlich muss Bildung beitragsfrei sein. Aber im Moment haben wir andere Probleme zu lösen, wir können uns keine generelle Beitragsfreiheit leisten.

taz: Müssen Eltern auch umdenken? Nicht alle nagen am Hungertuch, wenn sie weniger arbeiten würden.

Wehrmann: Kastanien sammeln ist entspannter als teure Urlaube. Eltern müssen Kinder wieder mehr in ihren Alltag hineinnehmen und ihnen auch Aufgaben geben. Da muss die ganze Gesellschaft umdenken. Wir sind so satt und gut versorgt … In der Zukunft werden wir uns vieles nicht mehr leisten können. Darin liegt auch eine Chance. Wir werden wieder mehr improvisieren, fantasievoller werden. Es muss nicht immer alles geregelt und perfekt sein.

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2 Kommentare

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  • Ich weiß gar nicht, wieso wir hier noch versuchen wollen, irgendwas zu retten, zumal einen Teilbereich. Bildende und soziale Sektoren sind so absurd unterversorgt (bei gleichzeitiger Unterbezahlung des Personals), dass nur ein dauerhafter Streik angemessen wäre.



    Schritt 1: Einführung einer Vermögenssteuer. Dafür könnte man dann wieder einen Tag die Woche öffnen.



    Wofür gibts nen zweiten Tag? Klimageld? Kostenloser ÖPNV? Schulsanierung? Angemessene Kindergrundsicherung? Verkleinerung der Schulklassen? Kinderrechte im Grundgesetz? Wahlrecht für alle? Privatisierung der Krankenhäuser abschaffen? ...

    Also besser 2 umgesetzte Reformen für einen Öffnungstag.

    Wobei ich ehrlich gesagt noch nichts über die aktuelle Krankenhausreform weiß. Ist das eine Verbesserung, die man würdigen kann?

  • Kluge Gedanken und Beobachtungen. Danke!

    "Wehrmann: Kastanien sammeln ist entspannter als teure Urlaube."

    Ja! und im Wald, zu Hause und auf dem Spielplatz brauchen weder Kinder noch Eltern chice Klamotten!

    mE sind Kinder unter 3 sehr gefordert bzw überfordert in so einer großen Gruppe. Was nicht heißt, daß ein Elternteil komplett betreuen muss. Und wenn die Aufteilung unter den Eltern nicht klappt und die Großeltern weit weg sind, dann gibt es ja auch die Möglichkeit, sich selbst zu organisieren (und nicht nur dann!) Meine zwei Kinder lebten in den 90ern zwar mit Ihrer alleinerziehenden Mutter, aber an zwei ganzen Tagen (und später an vier Nachmittagen) genossen sie das Zusammensein mit immer den gleichen zwei Freunden, und beide Mütter waren entlastet. Das klappte sogar analog organisiert. Das ist ja nun dank social media noch besser, u ggf auch mit mehr Eltern zu organisieren