Expertin über Nerds: „Der Nerd war immer schillernd“
Der Nerd ist unsozial, technikversessen und trägt dicke Brillen, sagt das Vorurteil. Dass in ihm auch ein Künstler steckt, zeigt Annekathrin Kohout.
taz: Frau Kohout, was ist ein Nerd?
Annekathrin Kohout: Der Nerd ist eine Figur, die eine bestimmte Begabung hat oder einer bestimmten Leidenschaft überdurchschnittlich oft oder intensiv nachgeht.
Das klingt nach einer sehr offenen Definition. Eigentlich verbindet man mit dem Nerd doch immer etwas Technisches. Kann ein Nerd auch ein Künstler sein?
Annekathrin Kohout: Die Autorin im taz Talk zu „Nerds. Eine Popkulturgeschichte“. Verlag C. H. Beck, München 2022, 272 Seiten, 16,95 Euro
Ja, er kann es. Ich bin auf das Thema gekommen, weil befreundete Künstler:innen angefangen haben, sich als Nerds zu bezeichnen. Da habe ich mich gefragt, ob wir heutzutage noch immer mit dem Nerd eine überdurchschnittliche Technikaffinität verbinden oder ob sich die Figur nicht davon gelöst hat. Mit dem Nerd verbindet sich lange schon eine gewisse Genieästhetik. Ein Buch, was mich sehr geprägt hat, ist „Die Legende vom Künstler“ von Ernst Kris und Otto Kurz. Sie beschreiben anhand von Künstlerbiografien, welche Narrative mit dem Künstler- und Geniebegriff verbunden sind. Genau dieselben Motive tauchen später in den Biografien von Computernerds wie Steve Jobs auf; dass man nicht durch Übung zum Nerd werden kann, sondern schon in der Kindheit eine Begabung oder Vision hatte. Ich glaube, dass der Nerd für das 20. Jahrhundert eine ähnliche Figur ist wie das Genie für die Romantik, für das 18. Jahrhundert. Er ist eine Art Künstlerfigur, nur eben nicht für das klassische Bildungsbürgertum, sondern für das digitale Bildungsbürgertum, nicht High Culture, aber High Technology.
Betrachtet man den Nerd als Figur der Popkultur, ist er häufig männlich, weiß, misogyn, konservativ. Hat er als Sozialfigur nicht ausgedient?
Ich glaube, die Sozialfigur Nerd ist nicht so flexibel, dass man sie an die gegenwärtigen Umstände anpassen kann. Der Nerd diente dazu, sowohl die positiven wie die negativen Seiten der Technikbegeisterung zu zeigen, und diese Funktion hat er eigentlich eingebüßt. In den 1980er Jahren war zum Beispiel weit verbreitet die Angst vor Hackern, die vielleicht einen atomaren Krieg auslösen. Heute haben wir keine Angst mehr vor Hacker-Nerds, sondern vor unberechenbaren Diktatoren, die einen großen roten Knopf drücken.
1989 geboren, Kultur- und Medienwissenschaftlerin. Als freie Autorin schreibt sie über Popkultur, Internetphänomene und Kunst. Sie ist Herausgeberin und Redakteurin der Zeitschrift „Pop. Kultur und Kritik“ sowie Mitglied der Forschungsstelle Populäre Kulturen an der Universität Siegen.
Warum gibt es eigentlich so wenige weibliche Nerds?
Wofür der Nerd lange Zeit stand, war Individualität. Das hat viel damit zu tun, dass er eine Außenseiterfigur ist. In Filmen wurde der Nerd immer als Opfer stilisiert, das heißt, er wurde auf einer ähnlichen Ebene betrachtet wie andere Minderheiten. Und das, obwohl weiße Jungs und Männer faktisch natürlich keine Minderheiten sind. Frauen und auch People of Color haben versucht, diese Sozialfigur zu verändern oder sie zu dekonstruieren, doch das hat nie wirklich geklappt. Außerdem glaube ich, dass für unsere Gesellschaft Geniefiguren im Allgemeinen nicht mehr so interessant sind. Wir leben in einer Zeit, in der man viel mehr über Solidarität, über Kollektivität und Empathie spricht.
Sie sagten, der Nerd ist eine Außenseiterfigur. Wie passt das zusammen mit der Genese des Silicon-Valley-Hypes, der ja von Computernerds geschaffen wurde?
Der Silicon-Valley-Nerd kam in den 1960er Jahren auf, als an der US-Westküste eine Hackerkultur auf eine Hippie-Gegenkultur gestoßen ist, die diese besondere Zwischenfigur, eine kreative Variante des Nerds, hervorgebracht hat. Sie ist einerseits entstanden aus einem kapitalismuskritischen Geist, andererseits ganz im Geiste des Kapitalismus. Für mich ist Steve Jobs jemand, der diesen Widerspruch auf interessante Weise verkörpert hat. Er unterscheidet sich von anderen Hippies, weil er „das System“ nicht von außen, sondern von innen heraus verändern wollte. Später wurde der Nerd von der Massenkultur vereinnahmt und fing an, in neuen Bereichen eine Rolle zu spielen, etwa in der Lifestyle- und Modeindustrie.
Sind solche Erfolgsgeschichten von einstigen Nerds wie Steve Jobs oder Bill Gates der Grund, warum Nerds zu Identifikationsfiguren geworden sind?
Ich glaube schon. Der Nerd an sich ist keine rein negative Figur, sondern war immer schon schillernd. Es gibt Studien, die ergaben, dass Zuschauer:innen von Teenagerfilmen und -serien sich viel mehr mit den Nerds identifizieren als beispielsweise mit den populären Figuren wie den Sportlern. Deswegen funktioniert das Motiv der sogenannten „Rache des Nerds“ ja so gut.
In Ihrem Buch untersuchen Sie viele Serien und Filme, die als wenig anspruchsvoll gelten. Kann man den Nerd ohne Populärkultur überhaupt verstehen?
Nein, das kann man nicht. Der Nerd kommt zwar auch in komplexeren Filmproduktionen oder der Hochliteratur vor; wenn man sich die Bücher von Michel Houellebecq anschaut etwa oder die von Sibylle Berg. Ich würde aber sagen, das ist zweitrangig, denn sie beziehen sich bereits auf die Figur aus der Populärkultur. Das macht die wissenschaftliche Untersuchung natürlich schwieriger. Man neigt immer dazu, ganz viel entschlüsseln zu wollen. Wenn zum Beispiel Nerds auf einem Filmcover so angeordnet sind wie das Bild der Sixtinischen Madonna, muss man akzeptieren, dass das keine tiefere Bedeutung hat. Es appelliert einfach nur an unser visuelles Gedächtnis.
Sie schreiben an einer Stelle in Ihrem Buch, dass der Nerd Ausdruck einer gewünschten Grenzauflösung zwischen Hoch- und Populärkultur ist. Warum wünscht man sich diese Auflösung?
Mit der Hochkultur grenzt man sich nicht nur vom Mainstream, sondern auch von bestimmten Personengruppen ab. Das hat oft auch etwas Diskriminierendes; wenn man sagt, bestimmte Kulturformen, bestimmte Filme und Serien seien zu „einfach“, sind meistens auch bestimmte Personengruppen mitgemeint, die weniger Ansprüche besäßen als andere. Der Nerd steht für Popkulturenthusiasmus, für die Liebe zu Comics oder Videospielen, er steht für eine Auseinandersetzung mit der Populärkultur, die durchaus kennerschaftlich ist. Am Nerd zeigt sich, dass trotz des Konsums eines weniger komplexen Werks nicht der Rezipient selbst einfach oder weniger intelligent ist. Vielleicht bezeichnen sich Künstler auch deshalb gerne als Nerd, um zu signalisieren: ich beschäftige mich nicht nur mit Theorie, sondern auch mit Alltagswelten oder der populären Kultur, mit Filmen oder Serien.
Ist der Nerd unpolitisch?
Ich würde sagen, die Figur wird sich von Communitys angeeignet, die man nicht mehr unpolitisch nennen kann, zum Beispiel die sogenannten Incels. In den 1950er Jahren ist der Nerd aus dem Spießer hervorgegangen, aus einer Figur, der man konservative Werte nachsagt und die sich von der Jugendkultur als Gegenkultur unterscheidet. Und eigentlich hat der Nerd diese Seite nie verloren. Ich merke in Gesprächen immer wieder, das andere es sehr überraschend finden, dass der Nerd eigentlich auch unzeitgemäße, patriarchale Muster in sich trägt.
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