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Expertin für Zwangsheirat„Es geht um das Patriarchat“

Aisha Kartal arbeitet mit jungen Migrantinnen, die vor der Unterdrückung in ihren Familien geflohen sind. Wie lernt man, ein freier Mensch zu sein?

„Das Problem der Zwangsheirat ist auch ein Versagen der deutschen Gesellschaft“, sagt Aisha Kartal Foto: dpa
Sara Tomšić
Interview von Sara Tomšić

taz am wochenende: Frau Kartal, Sie arbeiten für eine Beratungsstelle für junge Migrantinnen, die von Zwangsheirat betroffen sind. Wie finden diese Frauen zu Ihnen?

Aisha Kartal: Mittlerweile versuchen wir, nicht mehr erst darauf zu warten, dass die Mädchen aus ihren Familien flüchten müssen. Wir informieren an Schulen über Zwangsheirat und über die Rechte, die sie als Mädchen haben. Wir suchen den Dia­log, wollen Mädchen früh auf die Idee bringen, dass sie erkennen, wenn man sie unterdrückt, und dass es noch eine andere Welt für sie geben kann. Nach nahezu jeder Veranstaltung melden sich ein, zwei Betroffene bei uns.

Wie viele Frauen sind in Deutschland betroffen?

Es gibt keine verlässlichen Zahlen. Auch Schätzungen sind schwierig. Unsere Beratungsstelle betreute im letzten Jahr rund 200 Fälle, wo junge Frauen Gewalt im Namen der Ehre erfahren haben. Davon haben 75 Frauen konkret artikulieren können, dass sie von Zwangsheirat betroffen sind. Wir gehen aber von einer weit größeren Fallzahl aus.

Was passiert mit diesen Mädchen? Wie schützen Sie sie vor ihren Familien?

Zunächst bringen wir die jungen Frauen in Wohngruppen in einer fremden Stadt unter. Sie bekommen eine Betreuerin, die im Laufe der Zeit Bezugsperson und Vertraute wird. In den Wohngruppen leben sie anonym, anfangs dürfen sie keine Gäste haben, niemand darf wissen, wo sie wohnen. Wir besorgen Papiere, Zeugnisse, auch Pässe. Dafür gehen wir viele Umwege, um keine Spuren zu legen. Viele bekommen eine ganz neue Biografie. Bevor die jungen Frauen wieder in eine Schule gehen dürfen, haben sie gelernt, ihre Geschichte sicher zu erzählen. Sie haben sich stabilisiert in ihrer neuen Biografie.

Im Interview: Aisha Kartal

ist Bereichsleiterin der Beratungsstelle YASEMIN und des Wohnprojekts ROSA in Stuttgart. Auch ihr Name wurde in diesem Interview geändert. Da sie direkt mit den betroffenen Frauen zusammenarbeitet, sei die Gefahr zu groß, dass jemand versuchen könnte, über sie an die Frauen heranzukommen, sagt sie. Für die Arbeit mit der Presse verwendet sie deshalb diesen Decknamen.

Unter der Trägerschaft der Evangelischen Gesellschaft berät YASEMIN junge Migrantinnen in Problemsituationen, und ROSA nimmt bundesweit junge Frauen auf, die Schutz suchen, weil sie von Zwangsheirat oder sogenannter „Gewalt im Namen der Ehre“ bedroht sind.

Dürfen sie jemals wieder private Kontakte zu ihrer Herkunftsfamilie aufnehmen, oder bleibt das zu gefährlich?

In erster Linie muss ihr Aufenthaltsort gegenüber dem alten Umfeld geheim gehalten werden. Freunde, Bekannte aus dem neuen Wohnumfeld sind okay. Auch Partnerschaften. Es ist wichtig, dass sie irgendwann wieder am öffentlichen Leben teilhaben. Sich raustrauen. Dabei lernen sie, dass sie für ihre eigene Meinung einstehen können; dass Diskussionen ohne Gewalt funktionieren. Das haben sie ja meistens in den Familien anders gelernt.

Wie lernt man, ein freier Mensch zu sein?

Die Frauen müssen ihr Ich entdecken. Meist dreht sich ihr ganzes Denken um die Familie: Was wollen meine Eltern? Was denken die anderen von mir? Schrittweise gelangen wir an den Punkt, dass die jungen Frauen definieren können, was sie selbst wollen. Und auch ein Nein aussprechen können. Ein Nein war immer Tabu in der Familie. Die Antwort war immer Gewalt. Bei uns lernen sie, dass ein Nein Würde bedeutet. Das Ziel ist Selbstständigkeit.

Wie lange dauert dieser Weg in die Freiheit?

In unseren Wohngruppen leben die Mädchen in der Regel etwa zwei Jahre. Dann ziehen sie in eine eigene Wohnung, führen ein eigenes Konto. In dieser Phase haben sie noch zweimal pro Woche Kontakt zur Betreuerin. Wir sind aber telefonisch jederzeit erreichbar. Tag und Nacht. Nach circa drei, vier Jahren sind die Frauen durch diesen Prozess durch. Dann können sie selbstständig leben. Meistens zeigt sich vorher, ob sie zurück ins Elternhaus gehen. 98 Prozent unserer Betreuten bleiben. Aber dass welche zurückgehen, das gibt es auch.

Weil sie ihre Angehörigen so sehr vermissen?

Die Mädchen haben natürlich auch schöne Erinnerungen an die Familie. Sie vermissen ihre Eltern und Geschwister. Man kann seine Familie nicht einfach löschen. Wir versuchen ihnen nicht die Sehnsucht zu nehmen, ihnen aber zu erklären, dass sie an vielen Stellen unwürdig behandelt wurden. Dass sie Aufgaben übernommen haben, die nicht altersgemäß sind. Dass sie Wünsche formulieren dürfen, ohne dafür bestraft zu werden. Die Androhung von Zwangsheirat ist ja meist nur das Ende einer langen Gewaltgeschichte. Alle Mädchen haben jahrelange häusliche Gewalt hinter sich. Psychisch und physisch.

Selbst wenn sie auf dem Papier volljährig sind, sind viele in ihrer Entwicklung hinterher, sie haben nie gelernt, dass sie eigene Rechte, eine eigene Ehre im Sinne von Würde haben. Im Gegenteil: Die Ehre wurde immer nur gegen sie verwendet. Jahrelang wurde ihnen erzählt, dass nur zählt, was gut für die Familie ist. Das Kollektiv steht über allem. Viele denken: Ich bin nur das, was die Familie, der Vater, die Mutter, der Bruder will.

Was, wenn diese Mädchen nicht von Beratungsstellen wie Ihrer erfahren?

Wir gehen davon aus, dass viele Frauen heute in Deutschland zwangsverheiratet leben und sich das nicht so schnell ändern wird. Aber: Es hilft, dass dieser gewaltsame Kollektivismus in einer westlichen Gesellschaft schnell an seine Grenzen kommt. Die Mädchen kommen in der Schule und in den sozialen Netzwerken in Kontakt mit Gleichaltrigen. Sie lernen in der Schule, dass sie ein Individuum mit eigenen Rechten sind. Vieles, was sie draußen erfahren, widerspricht irgendwann dem propagierten Weltbild zu Hause.

Dann entwickeln viele Frauen eine Vorstellung von ihrem Leben, sehen aber keine Chance, sich gegenüber ihrer Familie durchzusetzen. Mit viel Glück haben sie irgendwann die Kraft, sich jemandem anzuvertrauen, von ihrer Gewalterfahrung zu erzählen. Sie wissen aber auch, damit entehren sie ihre Familie. Und manchmal ist das sogar ihr Todesurteil.

Spielt die Religion eine Rolle?

Religion wird nur benutzt, um die Frauen kleinzuhalten. Es geht nicht um Religion, es geht um das Patriarchat. Gewalt ist eine Erziehungsmethode, wenn man nicht weiterweiß. Ehre ist nichts Religiöses, es hat mit erlernten Geschlechterrollen zu tun. Mit patriarchalen Familienstrukturen, die immer schon so gelebt wurden. Aus der Religion übernimmt man nur das, was einem zur Erziehung, der eigenen Sache dient. Natürlich gibt es Zwangsverheiratung auch in streng religiösen Familien, aber das ist nicht die Mehrheit.

Aus welchen Familien kommen die Mädchen?

Vor rund 20 Jahren waren es noch mehrheitlich türkische Mädchen. Heute sind es eher Frauen aus Irak, Afghanistan, Pakistan. Das hat natürlich mit den Entwicklungen der Einwanderung nach Deutschland zu tun. Aber alle Familien eint, dass sie in diesem Land nicht angekommen sind. Auch nicht etliche Generationen später. Die meisten Familien haben komplexe Familiensysteme. Sucht und Geldprobleme spielen manchmal auch eine Rolle. Die Ehre einer Familie hängt an ihrer sozialen Stellung. Das muss die Tochter dann oft ausbaden, indem sie so verheiratet wird, dass es der Familie nützt.

taz am Wochenende

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Oft sie werden mit einem entfernten Cousin im Heimatland oder Herkunftsland der Eltern verheiratet, der sichert sich so zum Beispiel ein Einwanderungsticket. Das ist gut für das Ansehen der Familie. Aber noch mal: Das ist nicht typisch für diesen oder jenen Kulturkreis, für diese oder jene Religion. Wenn man so will ist Zwangsheirat typisch in Familien, in denen Männer ohne Einschränkung über die Frauen bestimmen.

Hat Deutschland begriffen, dass es ein Einwanderungsland ist und sich damit auch solchen Themen stellen muss?

Ich halte das Problem der Zwangsheirat auch für ein Versagen der deutschen Gesellschaft. Wir brauchen bessere Rahmenbedingungen, in denen sich die Familien angekommen fühlen. Nur im Austausch mit anderen kann ein Mensch lernen, dass es mehr gibt als das, was er bislang erfahren hat. Die meisten Eltern haben nämlich selbst Gewalt in ihrer Vergangenheit erfahren. Und in Deutschland sprechen wir über dieses Thema öffentlich erst seit rund zehn Jahren. Immerhin: Heute muss man das Jugendamt nicht mehr überzeugen. Die Lebenswelt von jungen Migrantinnen ist heute viel präsenter.

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8 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Und "das Patriarchat" schwebt im luftleeren Raum und hat mit historisch-kulturell bedinten Strukturen und/ oder Religion offenbar so rein gar nichts zu tun.

    Religion: Sohn von Sohn vom Sohn vom Sohn ...

    • @cazzimma:

      bedingten

  • Integration ist keine Bringschuld Deutschlands. Wer an Integration interessiert ist, findet unzählige Möglichkeiten und Angebote. Aber es ist natürlich einfacher, zu jammern und die Schuld woanders zu verorten.



    Wer migriert muss damit leben, dass er den Kulturkreis gewechselt hat.



    Die Unterdrückung der Frau durch patriarchale Strukturen muss endlich ein Ende haben.

    • @siri nihil:

      „Die Unterdrückung der Frau durch patriarchale Strukturen muss endlich ein Ende haben“. Na, da bin ich mal gespannt, wie Sie das hinbekommen.

      Doch, Integration ist ein beidseitiger Prozess. Und ja, es gibt Möglichkeiten und Angebote, und diese werden ja von den betroffenen jungen Frauen auch genutzt. Niemand jammert in diesem Interview oder weist jemandem Schuld zu.

      Sie jammern, weil Sie offenbar klare Schuldzuweisungen vermissen, die Ihnen dabei helfen, sich das Problem einfach wegzudenken.

      Das ist genau das, was jahrzehntelang passiert ist: Definiere das Problem als "fremde Kultur", dann ist es zwar weiter genau vor deiner Nase, aber das Leid der Betroffenen geht dich nichts mehr an.

      So können Sie das Problem dann auch prima als Aufhänger für einwanderungsfeindliche Posts (siehe Kommentar von Rero) oder für sinnlose scheinfeministische Proklamationen benutzen, ohne darüber nachzudenken, wie den Betroffenen zumute ist und welche Hilfe sie brauchen.

      • @sàmi2:

        Mein Kommentar ist nicht einwanderungsfeindlich, sondern paternalismusfeindlich. Ich sehe da irgendwie einen kleinen Unterschied. ;-)

        Impliziert das "Versagen der deutschen Gesellschaft" keine Schuldzuweisung an die deutsche Gesellschaft?

        Wenn man Ihnen persönlich vorwerfen würde, Sie hätten bei was auch immer versagt, dann empfänden Sie das nicht als Schuldzuweisung?



        Sorry, glaube ich nicht.

        (Übrigens halte ich auch Schuldzuweisungen an die Eltern für sinnlos. Schuldzuweisungen bringen meistens niemandem was. Frau "Kartal" sieht das zumindest im Hinblick auf die deutsche Gesellschaft offenbar anders.)

        Allerdings würde ich persönlich es ablehnen, dass in puncto Partnerwahl die Integration ein beidseitiger Prozess ist.



        Ich befürworte da doch Assimilation als Integrationsform.

        Und zwar genau weil ich darüber nachgedacht habe, was es für die Betroffenen bedeutet.

        Warum unterstellen Sie eigentlich mit so viel Vehemenz Ressentiments?

        Es gehört zu einer Einwanderungsgesellschaft dazu, die Erwartungen an Einwanderer zu formulieren.



        Das finde ich viel fairer, als dieses "Bleibt wie ihr seid, denn Integration ist ja schließlich ein beidseitiger Prozess" - gerade auch gegenüber den Mädchen.

      • @sàmi2:

        Ihnen ist aber hoffentlich klar, dass die Mädchen und Frauen unter den patriarchalen Strukturen leiden und dieses Leid nur durch das Umdenken beendet werden kann, oder? Oder ging es nur drum, mir irgendwelche Ressentiments ge gen diese Frauen zu unterstellen? Wobei ich nicht ganz nachvollziehen kann, wie Sie darauf kommen. Es sind nicht die leidenden Frauen und Mädchen, die sich ändern müssen, sondern diejenigen, die die patriarchale Gewalt ausüben und das sind in der eltern Generation nicht nur Väter und Brüder, sondern auch weibliche Verwandte, die nicht anerkennen wollen, dass Migration eine Veränderung der Kultur bedeutet. Schade dass Sie das nicht verstehen oder verstehen wollen.

  • Ein äußerst plumper Versuch der Islamapologetik zu sagen, dass nicht die "Religion", sondern das Patriarchat schuld sei. Grundlage und letztendlich ganzer Daseinszweck des Islam ist das Verteilen von Zugriffsrechten auf Frauenkörper an Männer zum Zweck der Belohnung und Verhaltenssteuerung. Der Rest ist nur gruppendynamisches Beiwerk.

  • Ach so, Familien aus dem Irak, Afghanistan oder Pakistan verheiraten hier ihre Töchter genauso wie es im Irak, in Afghanistan oder Pakistan üblich ist. Sie tun das auch noch etliche Generationen später, aber das ist gar nicht typisch für diese oder jene Kultur.

    Nein, die deutsche Gesellschaft ist schuld, denn sie versagt.

    Auch ich bin deutsche Gesellschaft. Also ist es mit mein Versagen, dass afghanische Eltern ihre Kinder zwangsverheiraten?

    Wäre es denkbar, dass der eine oder die andere Einwanderin auch einen Hauch Eigenverantwortung zugebilligt bekommt?

    Das Gefährliche an dieser Argumentation ist doch, dass man auf die Idee kömmen könnte, man solle die Sache mit der Einwanderung doch lieber bleiben lassen.



    Dann würde die deutsche Gesellschaft weniger Schuld auf sich laden.