Experimentelles Musiktheater: Fortsetzung folgt

Ein selten schönes Opernereignis ist das Projekt „Once to be realised“ an der Deutschen Oper Berlin. Es beruht auf Skizzen des Griechen Janis Christou.

Auf einem Hof, dem Parkdeck der Deutschen Oper, stehen Künstler und Publikum vor den Müllcontainern

In „Once to be realised“ an der Deutschen Oper Berlin spielt auch die Architektur mit Foto: Thomas Aurin

Die Deutsche Oper in Berlin Charlottenburg hat den Ruf einer konservativen alten Dame im Schatten des Berliner Ostens, der mit seinen Stars an der Staatsoper und radikalen Regiekonzepten an der Komischen Oper eher für Schlagzeilen sorgt. Daran hat ihre Experimentierbühne in der ehemaligen Tischlerei wenig geändert. Uraufführungen unterschiedlichster Art stehen neben Kinderstücken und Jazzkonzerten ohne ein greifbares Programm erkennen zu lassen.

Am 23. Januar jedoch kam ausgerechnet hier ein Projekt zur Uraufführung, das weit über alles hinausgeht, was Aufführungen neuer Musik gewöhnlich zu bieten haben, wo immer sie stattfinden. Es wird nach der Uraufführung in Berlin am 7. März auf der Münchener Biennale gezeigt und im April in Athen.

Das Projekt „Once to be realised“ und beruht auf dem Nachlass von Jani Christou. Der Name ist seit der documenta 14 auch in Deutschland bekannt, aber die Schwierigkeiten beginnen schon mit Ort und Datum der Geburt dieses Mannes, der nur 44 Jahre alt wurde. Er starb 1970 bei einem Autounfall in der Nähe von Athen. Geboren wurde er 1926, wahrscheinlich am 8. Januar im ägyptischen Heliopolis, es könnte aber auch der 9. Januar in Alexandria gewesen sein, wo er zweifelsfrei eine englische Schule besuchte.

Er lernte Klavier spielen, ging dann aber bald nach Cambridge, um sowohl bei Ludwig Wittgenstein als auch bei Bertrand Russel zu studieren. Er schloss mit einem Magister ab, die Schlüsse, die er aus den maximal konträren Denkstilen dieser beiden Fixsterne der modernen Philosophie zog, waren Ideen für Kunstwerke, die zunehmend alle Grenzen überschritten, auch die der Musik.

Antike Tragödien, metaphysische Spekulationen und theatralische Aktionen überlagern sich in einer Reihe notierter Werke, die alle eher Konzepte als abgeschlossene Kompositionen sind. Heute sind darüber hinaus noch etwa 130 weitere Entwürfe und Skizzen für mögliche Stücke zugänglich geworden.

„Neue Musik“ neu vermessen

In Zusammenarbeit mit dem „Biennale“ genannten Münchener Festival für Musiktheater hat die Deutsche Oper versucht, diesen Schatz zu heben mit Kompositionsaufträgen für die Ausführung oder eigne Interpretation solcher Vorlagen. Eine Aufgabe für Generationen, mitgewirkt haben: Christian Wolff, 1934 in Nizza geboren, seit 1941 in den USA lebend und noch im Umfeld von John Cage aufgewachsen, dann die 1945 geborene Koreanerin Younghi Pagh-Paan, gefolgt von Beat Furrer, Olga Neuwirth und dem Palästinenser Samir Odeh-Tamimi, 1954, 1968 und 1970 geboren, und als Jüngste Barblina Meierhans, 1981 in der Schweiz geboren.

Sie alle haben mit ihren Werken das Feld dessen abgesteckt, was heute „Neue Musik“ heißt, weil es keinen gemeinsamen Begriff für die Vielfalt dieses minoritären Segments öffentlich geförderter Kultur gibt. Die dafür reservierten Preise und Festivals sind kaum noch zu zählen, was fehlt, ist ein verbindlicher Rahmen ästhetischer Kategorien, über die sich produktiv streiten ließe. Der Nachlass von Jani Christou füllt diese Lücke aus. „Once to be realised“ ist kein Wettbewerb, sondern eine fast drei Stunden lange Reise ins Innere unserer Wahrnehmung der Welt.

Sie verlangt viel. Für Christou gab es auch die Grenze zwischen Publikum und Ausführenden nicht mehr. Man muss nachts im kalten Nieselregen vor dem Restaurant der Oper stehen und einer Frau zusehen, die einen Gedanken von Christou über Anfang und Ende der Zeit dirigiert, auf Englisch zu hören aus zwei Lautsprechern, beleuchtet vom Licht eines Mobiltelefons. Danach Aufwärmen im Restaurant, vor den Fenstern winken Passanten hinein, am Barklavier keucht eine Tänzerin, ein Schlagzeuger drischt auf eine Trommel ein, ein Kammerensemble spielt ein paar verzagte Töne.

Wir wandern durch labyrinthische Gänge

Es lohnt sich nicht, im Programmzettel nachzuschauen, wessen Stück gerade gespielt wird. Alles ist im Fluss, auf individuelle Absichten und künstlerische Motive kommt es nicht mehr an. Wir wandern durch labyrinthische Gänge in den technischen Teilen des Gebäudes, das vor 60 Jahren nach den Plänen des Architekten Fritz Bornemann gebaut wurde. Auch er spielt mit, es ist sein Schauplatz, aus einer Toreinfahrt für schwere Lastwagen rennen schreiend Leute auf uns zu, Männer in schwarzen Anzügen blasen in schaurig dröhnende Stahlrohre, dirigiert von der Dirigentin des Anfangs.

Touristinnen schwatzen und lesen sich vor, was auf Aushängen an der Mauer steht, dann erreichen wir die Tischlerei. Zikaden zirpen, man kann sich auf einer breiten Treppe hinsetzen und Bornemanns Architektur betrachten. Auch das gehört zur Aufführung, die hier fortgesetzt wird.

Einfach schön

Frauen und Männer treten auf, mal elegant, mal gewöhnlich gekleidet. Schon der Klang ihrer Schritte ist ein Ereignis. Es sind die Mitglieder des Ensembles „dissonArt“ aus Thessaloniki, des Kammerchores „Cantando Amont“ aus Graz und der Tanzgruppe „Xorus/Plain People.“ Sie sprechen Sätze, singen Töne, spielen Instrumente, tanzen und posieren. Hörbare und sichtbare Elemente theatralischer Szenen stellen immer neue, überraschende Beziehungen her, die keine Botschaften verbreiten, sondern einfach nur schön sind. Es gibt kein besseres Wort dafür.

Der griechische Regisseur Michail Marmarinos hat dieses sehr unterhaltsame Spiel inszeniert. In Bornemanns Tischlerei hört es deswegen irgendwann mal auf. Es gibt Applaus, zu Ende ist es damit jedoch nicht. Die Fortsetzung folgt auf dem Heimweg. Die Lichter fahrender Autos, das Quietschen der Rolltreppe und das Rumpeln der U-Bahn: Auch sie sind jetzt ein Denkmal für Jani Christou, just to be realised.

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