Ex-Präsident Lula da Silva freigelassen: Brasiliens Linke feiert
Brasiliens Linke feiert die Freilassung des Ex-Präsidenten Lula da Silva. Aber das zeigt auch ihre Schwäche: Außer Lula ist da nicht viel.
Der komplett in schwarz gekleidete Ex-Präsident teilte hart gegen den derzeitigen Amtsinhaber Jair Bolsonaro aus und beendete seine emotionale Ansprache mit einem Bad in der Menge. Lula in den Armen seiner Anhänger*innen: Es waren diese Bilder, die Lula wollte. Ein fulminantes Comeback. Doch was kommt jetzt?
Einige Stunden zuvor, ein eigentlich ruhiges Wohnviertel in der Industriestadt São Bernardo do Campo in der Metropolregion São Paulo. Autohäuser und Fast-Food-Restaurants säumen die Straße, die zur Metallarbeitergewerkschaft führt.
Dort, wo der junge Lula einst seine politischen Gehversuche machte, haben sich bereits in den Morgenstunden Tausende versammelt. Schlachtrufe schallen durch die Straßen, rote Fahnen wehen im Wind, während Bierverkäufer ihre Wagen geschickt durch die Menge bugsieren. Der Geruch von Grillfleisch, Schweiß und Rauchbomben liegt in der Luft. Eine riesige Plastikfigur von Lula guckt auf das Treiben herunter.
Ein Meer aus roten T-Shirts und Fahnen
Auch Leonice da Silva ist gekommen, um „ihren Präsidenten“ zu sehen. „Wir Armen verdanken Lula so viel“, sagt die 54-Jährige, die wie der Ex-Präsident aus dem armen Nordosten stammt und sich eine Fahne der Arbeiterpartei PT umgehangen hat. „Gott hat uns Lula geschickt.“ Für da Silva und viele anderen Brasilianer*innen ist Lula mehr als ein Politiker. Immer noch elektrisiert der bärtige 74-Jährige mit der Kratzstimme, der von 2003 bis 2010 Präsident von Brasilien war. Und wie kein anderer polarisiert er das größte Land Lateinamerikas.
Im Inneren des Gebäude der Metallarbeitergewerkschaft rennen Männer und Frauen mit Smartphones und Ausweisen um den Hals aufgeregt durch die Flure. Politiker*innen der PT und Aktivist*innen von sozialen Bewegungen schießen Selfies, stämmige Metallarbeiter mit muskulösen, tätowierten Armen bewachen alle Eingänge.
Die Straße vor dem Gebäude gleicht einem Meer aus roten T-Shirts und Fahnen. Es wird gebrüllt, gesungen, getanzt. Juno Rodrigues beobachtet das Spektakel aus einem Fenster des dritten Stocks. Der schmächtige 76-Jährige mit dem roten Hemd und den verdunkelten Brillengläsern lernte Lula 1968 in São Bernardo do Campo kennen. „Schon damals war er eine besondere Persönlichkeit“ sagt Rodrigues. „Seine Freilassung ist ein großer Sieg für uns.“
Als armer Landflüchtling aus dem Nordosten fing Lula als Jugendlicher an, in der Metallindustrie im Großraum São Paulo zu arbeiten, wurde Gewerkschaftsführer und gründete Anfang der 1980er Jahre die Arbeiterpartei PT mit. In seinem vierten Anlauf wurde er 2002 zum Präsidenten gewählt.
Der Prozess
Während seiner Amtszeit leitete Lula eine durch einen Rohstoffboom begünstige Umverteilung ein. Millionen von Brasilianer*innen entflohen der Armut, Schwarze konnte erstmals Universitäten besuchen, Hausangestellte bekamen Rechte zugesprochen. Im Jahr 2011 stieg Lula mit einer rekordhaften Zustimmungsrate von 87 Prozent aus dem Amt. Seine politische Ziehtochter Dilma Rousseff folgte, die jedoch nach einem juristisch fragwürdigen Amtsenthebungsverfahren abgesetzt wurde.
Im Jahr 2017 wurde Lula wegen passiver Korruption und Geldwäsche verurteilt. Der Vorwurf: Lula soll einem Baukonzern Staatsaufträge als Gegenleistung für eine Luxuswohnung verschafft haben. Das Urteil stützte sich auf Indizien, Beweise konnte die Staatsanwaltschaft nicht präsentieren.
2018 wurde Lula verhaftet. Tausende waren damals gekommen, um ihm am Gebäude der Metallarbeitergewerkschaft in São Bernardo do Campo zu verabschieden. Lula beteuerte stets seine Unschuld, der Prozess sei politisch gewesen und er ein „politischer Gefangener“. Die Aktivist*innen bezeichnen seine Haft gar als „Entführung.“ Bei seiner Rede am Samstag erklärte er, dass er seine Unschuld beweisen werde.
„Die Haft von Lula ist ein Symbol dafür, wie der brasilianische Staat bestimmte Gruppen kriminalisiert“, sagt Erica Malunguinho, die etwas abseits umringt von Sicherheitsmännern steht. Malunguinho ist Politikerin für die Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL) und die erste Trans-Frau im Stadtrat von São Paulo. „Linke, LGBT und Arme aus der Vorstadt sind die ersten Opfer dieses Staates.“
Urteile gegen Lula stehen auf wackligen Beinen
In der Tat gibt es erhebliche Zweifel an der Unabhängigkeit der Justiz. Eigentlich wollte Lula im vergangenen Jahr bei der Wahl erneut antreten. In allen Umfragen führte er mit großem Vorsprung. Durch die Verurteilung durfte er jedoch nicht kandieren und so wurde der Weg für den Rechtsradikalen Jair Bolsonaro bereitet. Zynische Pointe: Der für Lulas Verurteilung zuständige Richter, Sérgio Moro, wurde kurz nach der Wahl von Bolsonaro zum Justizminister ernannt. Ein perfekter Coup. Beinah jedenfalls.
Im Juni deckte das Enthüllungsmedium „The Intercept Brasil“ des US-Journalisten Glenn Greenwald auf, dass Moro und die Staatsanwaltschaft wahrscheinlich zusammenarbeiteten, um Lula hinter Gitter zu bringen und seine Wahl zu verhindern. Die Urteile gegen Lula stehen auf immer wackligeren Beinen. Der Oberste Gerichtshof will bald wegen Befangenheit von Richter Moro abstimmen. Sollte es dafür eine Mehrheit geben, werden alle Urteile gegen Lula aufgehoben – und er darf bei den nächsten Wahlen antreten.
Dass Lula seit Freitag wieder ein freier Mann ist, verdankt er dem Obersten Gerichtshof. Am Donnerstagabend hatte dieser eine Abstimmung darüber abgeschlossen, ob erst nach Ausschöpfung aller Rechtsmittel eine Haftstrafe vollstreckt werden kann. 2016 hatte der STF entschieden, dass eine Haft möglich ist, auch wenn noch nicht alle Rechtsmittel ausgeschöpft sind. Dieses Urteil wurde nun gekippt.
Unumstritten ist die Entscheidung nicht. Viele Kriminelle, so Kritiker*innen, würden nun freikommen. Diejenigen, die sich teure Anwälte leisten können, würden durch Berufungsverfahren Haftstrafen verzögern. Ein Rückfall in die alten Zeiten der Straflosigkeit?
Nur ein Etappensieg der Linken
Die Rechte schäumte nach der Entscheidung. Im Netz forderten mehrere Politiker den Obersten Gerichtshof zu schließen. Militärs drohten, die Freilassung von Lula nicht zu akzeptieren. Von Putschstimmung war zu lesen. In mehreren Städten gingen am Wochenende rechte Gruppen auf die Straße. Präsident Bolsonaro, der im Wahlkampf verkündete, Lula im Gefängnis „verrotten“ zu lassen, beschimpfte seinen Konkurrenten wüst auf Twitter.
Doch für den Rechtsradikalen könnte die Freilassung sogar von Nutzen sein. Denn der gemeinsame Feind Lula könnte die Reihen der zerstrittenen Rechten wieder schließen. In den letzten Wochen hatte es heftig geknallt zwischen Regierung, seiner Partei und dem Militär. Viele ehemalige Unterstützer*innen gingen auf Distanz zu Bolsonaro.
Für die kriselnde Linke ist Lulas Freilassung ein Grund zum Feiern. Mehr als ein Etappensieg ist es allerdings nicht. Die überschwängliche Begeisterung über Lulas Freilassung zeugt auch von der Schwäche der Linken. Die Opposition gegen die Bolsonaro-Regierung ist schwach. Viele Linke haben all ihre Kräfte in die Freilassung von Lula gesteckt. Die Devise: Wenn Lula frei ist, wird alles besser.
Doch ob der Ex-Präsident wirklich den ersehnten Wandel herbeiführen kann, ist fraglich. Nicht wenige kritisieren außerdem den Personenkult um Lula und die Ausblendung von Fehltritten seiner Regierung. Doch einen Plan B oder eine alternative Persönlichkeit hat Brasiliens Linke nicht vorzuweisen.
Hinzu kommt: Lula ist nur vorübergehend frei, nämlich bis seine Berufungsmöglichkeiten erschöpft sind. Es gibt weitere Anklagen gegen Lula und es ist nicht unwahrscheinlich, dass er wieder inhaftiert wird.
Und Lula selbst? Der gibt sich kämpferisch, kündigte an, Brasilien zu bereisen und das Land wieder zu einen. Kurz vor seiner Freilassung postete er ein durchaus skurriles Video auf Twitter. Dort war Lula schwitzend und Gewichte stemmend beim Training in einem Fitnessstudio zu sehen, unterlegt mit dem Lied „Eye of the Tiger“. Es war eine unmissverständliche Ansage: Macht euch gefasst, ich bin zurück.
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