Ex-Chefarzt über Maßregelvollzug: „Isolationsräume waren immer voll“
Drei Jahre war Sven Reiners ärztlicher Leiter des Krankenhauses für den Maßregelvollzug Berlin. Ein Gespräch über Personalnot und untragbare Zustände.
taz: Herr Reiners, seit rund zwei Monaten sind Sie nicht mehr ärztlicher Leiter des Krankenhauses des Maßregelvollzugs in Berlin, weil Sie die Zustände dort nicht mehr verantworten konnten. Haben Sie sich ein wenig erholt?
Sven Reiners: Ich habe mich erholt. Jetzt bin ich in meiner eigenen Praxis angekommen. Hier arbeite ich als Sachverständiger, und ich behandle auch. Schließlich bin ich irgendwann Arzt geworden, um zu behandeln, was ich als Chefarzt gar nicht mehr tun konnte.
taz: Was vermissen Sie aus Ihrer Zeit im KMV?
Reiners: Ich vermisse, mit vielen Menschen zu tun zu haben. Mit anderen Ärzten, Pflegepersonal, Sozialarbeitern und Therapeuten zu sprechen und zu lachen.
taz: Sie waren drei Jahre ärztlicher Leiter, bevor Sie im April gekündigt haben. Ist das ein ausreichender Zeitraum, um zu sagen: So und nicht weiter?
Reiners: Das ist ein guter Zeitraum, in dem man sehr gut überblicken kann, was man am System und der Struktur ändern kann und was nicht. Und ich habe feststellen müssen, ich kann eine Menge struktureller Mängel des Hauses nicht ändern. Und deshalb musste ich gehen.
taz: Kernprobleme sind Personalnot und Überbelegung. Gab es, als Sie 2011 als Facharzt im KMV anfingen, schon einen Fachkräftemangel in der Klinik?
ist Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie und forensische Psychiatrie. Von 2021 bis 30. Juni 2024 war er ärztlicher Leiter des Krankenhauses des Maßregelvollzugs Berlin. Er kündigte, weil er die Zustände für menschenunwürdig hielt. Jetzt betreibt er seine eigene Praxis
Reiners: Zunächst nicht. An meinem ersten Tag gab es noch freie Betten. Der ein oder andere Arzt hat sich sogar ein Mittagsschläfchen gegönnt, weil es so wenig zu tun gab. Damals hat man noch überlegt, Betten abzubauen. Das hat sich dann gedreht, die Klinik wurde immer voller. Später als Oberarzt auf der Suchtstation musste ich schon dafür kämpfen, dass alle Stellen neu besetzt wurden. Manchmal denke ich, ich hätte dort bleiben und gar nicht Chef werden sollen. Klar habe ich damals auch Missstände erlebt, aber nicht in dieser Intensität und der Vielfältigkeit und Abgründigkeit wie als Chefarzt.
taz: Angehörige von Patient*innen klagen, der Personalmangel und der Mangel an Angeboten für die Untergebrachten führten zu Langeweile und Frust. Patient*innen würden teils aggressiv und gewalttätig. Dann wüssten sich die Angestellten nicht mehr anders zu helfen, als sie mit Medikamenten – ich zitiere – „vollzupumpen“. Sehen Sie das auch so?
Reiners: Die Dosen an Antipsychotika im KMV wären wahrscheinlich sehr viel niedriger, wenn es ein besseres Therapieangebot gäbe und kleinere, helle, freundliche Stationen.
Überbelegung Im Maßregelvollzug (KMV) werden verurteilte Straftäter untergebracht, die nicht oder vermindert schuldfähig sind. Das KMV in Berlin hat regulär 549 Betten. Einige der 611 Patient*innen müssen auf Matratzen auf dem Boden schlafen. Die Nationale Stelle zur Prävention von Folter empfiehlt grundsätzlich Einzelzimmer.
Zustände Das KMV steht seit Jahren auch wegen zu wenig Personal und zu wenigen Angeboten für Patient*innen in der Kritik. Im Februar demonstrierten Angehörige „gegen die menschenunwürdigen Zustände“, im März folgten Proteste von Beschäftigten.
Lösungen Dem Senat sind die Zustände seit Jahren bekannt. Mit einem Masterplan 2040 sollen die Probleme nun angegangen werden. Das KMV soll schon davor mehr Betten bekommen, dafür wird bis 2025 das Budget um 20 Millionen Euro auf 89,2 Millionen Euro aufgestockt. (jot)
taz: Das heißt, die Patient*innen bekommen nicht unbedingt Medikamente nur für ihre Krankheit, sondern für die Umstände, die im KMV herrschen?
Reiners: Um es zugespitzt zu sagen: Die Patienten bekommen Medikation für ihre Krankheit, aber viel höhere Dosen als notwendig, damit sie die Umstände in der Klinik ertragen können.
taz: Und als Steigerung gibt es noch die Isolation. Halten Sie die für sinnvoll?
Reiners: Ich halte die Isolation grundsätzlich in bestimmten Situationen für indiziert. Im KMV wurde nach meiner Erfahrung allerdings sehr schnell isoliert, fast reflexhaft, ohne es zunächst mit einer anderen Maßnahme zu versuchen: zum Beispiel mit deeskalierenden Gesprächen oder einem Patienten, der angespannt ist, eine Pflegekraft 24 Stunden an die Seite zu stellen. Das konnte man gar nicht anordnen, weil das Personal dafür fehlte. Und alle Isolationsräume waren immer voll.
taz: Gibt es Menschen, die mehrere Jahre in Isolation sind?
Reiners: Ja.
taz: Auch über fünf Jahre?
Reiners: Ja.
taz: Warum so lang?
Reiners: Stellen Sie sich vor, dass eine Person wegen Tötungsdelikten verurteilt wurde und in den Maßregelvollzug kommt, dort versucht hat, Pflegepersonal zu töten, und es ablehnt, Medikamente zu nehmen. Dann wird dieser Patient durchaus über mehrere Jahre isoliert. Und wenn es auch mal Phasen gibt, in denen er weniger gefährlich ist, könnte man theoretisch progressiv andere Maßnahmen versuchen. Aber nicht, wenn man eine übervolle Station hat.
taz: Die Vereinten Nationen halten eine Einzelhaft an mehr als 15 aufeinanderfolgenden Tagen bereits für Folter.
Reiners: Die Gesetzeslage in Deutschland und in Berlin gibt das aber her. Wir müssen jährlich oder halbjährlich Stellungnahmen an die Staatsanwaltschaften und letztlich an die Strafvollstreckungskammern schreiben – die Maßnahme ist also jeweils gerichtlich abgesegnet. Menschenwürdig ist die Isolation aber nicht.
taz: Hat die Überbelegung auch mit Corona zu tun?
Reiners: In gewissem Sinne. Während Corona kam ja vieles zum Stillstand, es gab auch weniger Verurteilungen. Mit dem Auslaufen der Corona-Restriktionen hat uns dann geradezu eine Welle an Neuaufnahmen überflutet. Und jetzt kommen die Patienten hinzu, die in einer stressigen Coronazeit mit dem Drogenkonsum angefangen haben und nun, mit Verzögerung, dadurch eine drogeninduzierte Psychose entwickelt haben. Wenn sie dann im Zustand der Schuldunfähigkeit Straftaten begehen, landen sie im Maßregelvollzug. Hinzu kommt aber noch etwas anderes: 2016 wurde nach dem Fall Gustl Mollath der Paragraf 63 des Strafgesetzbuches reformiert.
taz: Mollath war von 2006 bis 2014 im Maßregelvollzug, wurde dann aber freigesprochen. Der Fall gilt als einer der größten Justizskandale.
Reiners: Seit der Reform muss eine sehr erhebliche Tat und eine sehr hohe weiter bestehende Gefährlichkeit vorliegen, damit jemand überhaupt nach Paragraf 63 untergebracht werden kann. Die Verurteilungen nahmen nach der Reform tatsächlich zunächst ab. Aber in den vergangenen ein bis zwei Jahren hatte ich den Eindruck, dass der Erheblichkeitsgrundsatz verwässert wird. Bei einigen Neuzugängen im KMV dachten wir: Der gehört nicht in die forensische Psychiatrie.
taz: Warum gucken die Gerichte nicht mehr so genau hin?
Reiners: Die Haftrichter müssen nach einer Festnahme in sehr kurzer Zeit eine Entscheidung über die vorläufige Unterbringung im Maßregelvollzug treffen. Oft wissen sie in dieser Situation nicht, wohin mit einem psychisch kranken Rechtsbrecher, auch wenn es sich zum Beispiel nur um den Diebstahl einer Flasche Wodka handelt. Die Gerichtsverhandlungen finden dann am Landgericht statt. Das kann entscheiden: entweder Gefängnis mit einer zeitlich befristeten Haftstrafe ohne Behandlung oder aber Maßregelvollzug nach Paragraf 63, der keine Befristung vorsieht. So kann man psychisch kranke Rechtsbrecher für unbestimmte Zeit wegsperren. Für die Gesellschaft ist das bequem, da ist der Täter erst mal weg.
taz: Dann gehen aber viele in Berufung und kommen wieder raus?
Reiners: Selten. Eine vom Landgericht angeordnete Unterbringung nach Paragraf 63 wird eher selten angefochten. Wir reden hier über psychisch kranke Menschen, überwiegend Menschen mit einer Schizophrenie. Diese Menschen haben eine ganz schlechte Lobby, können sich oft keinen teuren Anwalt leisten. Die sozialen Netze sind fragil, manchmal gibt es gar keine sozialen Kontakte mehr. Dann wird das Urteil hingenommen.
taz: Mit der Konsequenz, dass das KMV in den vergangenen Jahren immer voller wurde, ohne dass es mehr Fachkräfte gab. Sind Sie als Leiter kreativ geworden, um das Beste aus der miserablen Lage herauszuholen?
Reiners: Ja. Stellen für Psychiater, also Ärzte, habe ich mit Psychologen besetzt. Die können zwar keine Medikamente ansetzen, aber Psychotherapie anbieten. Für die Ärzte war das allerdings nicht optimal, weil die sich dann auf die rein medizinische Versorgung konzentrieren mussten, aber natürlich auch psychotherapeutisch arbeiten wollen und für ihre Weiterbildung auch müssen. Zuletzt habe ich selbst bis tief in die Nacht gearbeitet, um an Lösungen zu arbeiten und unter anderem an Schlaf gespart: Ich dachte, ich bekomme es hin. Habe ich aber nicht.
taz: Wann war das erste Mal, dass sie gedacht haben, es geht nicht mehr?
Reiners: Das Datum kann ich ganz genau sagen: Das war der 24. Dezember 2023. Da gab es einen außergewöhnlich schweren Vorfall: Zwei Patienten haben Krankenschwestern angegriffen und sind entwichen. Das war ein tiefer? Schlag für mich, und ich bin immer noch dabei das für mich aufzuarbeiten. Sowas darf nicht passieren. In der sich dann anschließenden Aufarbeitung des Vorfalls habe ich Abgründe kennengelernt, die mir bis dahin unbekannt waren.
taz: Das heißt?
Reiners: Bei vielen Vier-Augengesprächen habe ich erfahren, dass in diesem Fall Berufsgruppen zum Teil gegeneinander gearbeitet hatten. Ärzte hatten Pflegenden misstraut, Pflegende den Ärzten. Manche Mitarbeiter haben ihre eigenen Gesetze gemacht.
taz: Wie meinen Sie das?
Reiners: Üblicherweise ist es so: Oberarzt und Stationsarzt besprechen beispielsweise gemeinsam, wenn ein neues Medikament verordnet werden soll: welches Medikament, welche Dosierung, morgens, mittags, abends. Der Pflegende sorgt dafür, dass der Patient das Mittel bekommt. Doch mir kam nun zur Kenntnis, dass manche Mitarbeiter eigenmächtig entscheiden, ärztlich angeordnete Medikamente zu geben oder nicht zu geben, oder nicht zu dokumentieren oder zu besprechen, wenn der Patient das Medikament nicht nimmt. Derartige Verwerfungen, Abgründe waren mir bislang nicht bekannt. Und mir wurde klar: Dafür kann ich keine Verantwortung übernehmen.
taz: Und der Senat? Haben sie sich im Stich gelassen gefühlt?
Reiners: Ja! Ich habe mehrfach die Gesundheitssenatorin um ein Gespräch gebeten, aber nie ein Vieraugengespräch mit ihr bekommen. Zuletzt haben der Geschäftsführer des KMV und ich uns alle 14 Tage mit ihrer Staatssekretärin zum Jour fixe getroffen. Es wurde sehr, sehr viel geredet und an einem Masterplan für 2040 gearbeitet. Es wurde aber keine konkrete Maßnahme angegangen.
taz: Immerhin hat der Senat jetzt die Mittel für Personal aufgestockt.
Reiners: Der Mangel ist so eklatant, da hilft auch eine Stellenaufstockung nicht. Bei den Pflegekräften ist derzeit über ein Drittel der Stellen nicht besetzt. Und wenn dann mal neue Pflegekräfte anfangen, dann verlassen sie das Haus bei den hier herrschenden Bedingungen gleich wieder.
taz: Was braucht es aus Ihrer Sicht?
Reiners: Wir brauchen einen Neubau in Berlin. Eine moderne Klinik mit höchstens 20 Patienten pro Station. Jetzt haben wir fast 60 Patienten pro Station mit Drei-, Vier-, Fünfbettzimmern. Ein riesig langer dunkler Flur, grau-orange gestrichen, ohne Pflanzen. Die Patienten bekommen ihr Frühstück, dann laufen sie auf und ab, erhalten Mittagessen, laufen auf und ab, keine Therapien, dann das Abendessen und dürfen, wenn das nicht ausfällt, eine Stunde an die frische Luft. Das Pflegepersonal ist auf der riesigen Station zu zweit, und wenn ein Patient kommt, heißt es: Nein, jetzt nicht, wir haben keine Zeit. Fürchterlich! Da werden die Patienten krank und die Mitarbeiter auch. So darf das KMV nicht weiterbestehen.
taz: Aber man kann es nicht sofort schließen.
Reiners: Nein, aber zum Beispiel ist das Geld für die Sanierung von Haus 8 schon freigegeben. Dennoch ist bisher nicht einmal die Bauherrenschaft geklärt. Man hätte längst den ersten Spatenstich setzen können. Man hätte auch schon vor drei Jahren anfangen können, den Maßregelvollzug in Berlin grundsätzlich neu zu denken. Aus meiner Sicht ist auch die Geschäftsleitung des KMV in der Verantwortung, die Initiative zu ergreifen. Ich habe mich zuletzt auf der Leitungsebene leider allein gefühlt.
taz: Neu denken: Hatten Sie dafür noch andere Vorschläge?
Reiners: Ich hätte ich mir gewünscht, sich mal die Leitungsstrukturen anschauen. Ist ein so großes Haus mit über 800 Patienten noch durch einen einzigen Chefarzt zu leiten, durch eine einzige Pflegeleitung? Schon bei meinem Bewerbungsgespräch als Chefarzt hatte ich vorgeschlagen, das KMV in zwei eigenständige Kliniken zu teilen. Das war mir zwar nicht versprochen, aber in Aussicht gestellt worden. Es ist aber nicht passiert.
Die taz hat gemeinsam mit Frag den Staat zum Maßregelvollzug in Berlin recherchiert. Der erste Text der taz ist hier zu finden. Frag den Staat hat sich in einem zweiten Text insbesondere die Isolationsmaßnahmen angeschaut.
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