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Ex-Botschafter in Deutschland„Israel braucht Neuwahlen“

Israels ehemaliger Botschafter, Jeremy Issacharoff, spricht über den Krieg gegen die Hamas, die Verhandlungen um die Geiseln – und die Zeit nach dem Konflikt.

Ein Mann fotografiert eine Gedenktafel der Opfer des Hamas-Anschlags auf das Musikfestival von Re’im am 7. Oktober Foto: Dylan Martinez/reuters
Felix Wellisch
Interview von Felix Wellisch

taz: Israel und die Hamas führen aktuell schwierige Verhandlungen über einen Waffenstillstand und die Freilassung der noch immer mehr als 100 Geiseln im Gazastreifen. Zeitgleich droht die israelische Armee, auf die Stadt Rafah an der Grenze zu Ägypten vorzurücken. Gefährdet ein Vormarsch auf Rafah nicht eine Einigung?

Issacharoff: Die militärischen Operationen sind Teil der Verhandlungen. Sie bauen Druck auf die Hamas auf. Auch die erste Freilassung von Geiseln war meiner Meinung nach eine Folge der Kombination aus militärischem Druck und Gesprächen.

In Rafah drängen sich mehr als eine Million Vertriebene. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hat gesagt, eine Offensive dort wäre „nicht zu rechtfertigen“.

Die Hamas hat immer schon ihre Strategien auf unseren Schwächen aufgebaut. Sie wissen, dass wir die Zivilisten der anderen Seite nicht in Mitleidenschaft ziehen wollen. Es ist ihnen egal, ob Palästinenser als Kollateralschäden getötet werden. Ich weiß nicht, ob es dagegen eine simple und effiziente Strategie gibt. Israel ergreift alle möglichen Maßnahmen, um zivile Opfer zu vermeiden. Aber sie sind kaum auszuschließen, wenn ein Gegner sich so tief in die zivile Infrastruktur eingegraben hat.

Im Interview: Jeremy Issacharoff

Jeremy Issacharoff, Israelischer Botschafter a.D., war 40 Jahre im israelischen Auswärtigen Dienst. Von 2017 bis 2022 als Botschafter in Deutschland. Zuvor als Botschafter in Washington, wo er die Geiselverhandlungen um den entführten Soldaten Gilad Schalit erlebte, sowie bei den Vereinten Nationen in New York.

Wegen des Vorgehens der Armee in Verbindung mit Aussagen israelischer Politiker wird vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) sogar der Vorwurf des Völkermords verhandelt.

Meiner Meinung nach ist es eine Schande, dass Südafrika dort den Terror der Hamas vertritt. Menschen sagen Dinge in der Hitze des Gefechts, die sie im Nachhinein anders ausdrücken würden. Trotzdem will ich die Aussagen, auf denen die Klage Südafrikas beruht, nicht rechtfertigen. Viele davon waren absurd und teils von Menschen, die nicht die Autorität hatten, sie zu treffen. Am Ende des Tages zählt, dass Ministerpräsident Benjamin Netanjahu deutlich gesagt hat, dass unser Gegner die Hamas ist und dass wir die Palästinenser nicht vertreiben werden.

Lässt sich die Hamas militärisch besiegen?

Eine Ideologie ist militärisch kaum zu bekämpfen. Aber wir sprechen davon, eine militärische Bedrohung zu beenden. Das ist mit der Zerstörung der militärischen Fähigkeiten der Hamas sehr wohl möglich. Dennoch muss meiner Ansicht nach aktuell die Befreiung der Geiseln höchste Priorität haben. Dass noch immer so viele Israelis in der Hand der Hamas sind, ist eine enorme Herausforderung für die israelische Gesellschaft. Erst wenn wir alle zurückgeholt haben, können wir über alles Weitere nachdenken.

Voriges Wochenende haben Hunderte Teilnehmer einer Konferenz in Jerusalem für eine jüdische Besiedlung des Gazastreifens geworben. Unter den Teilnehmern war mit zwölf Ministern auch ein Drittel der amtierenden Regierungskoalition.

Ich halte die Idee einer Wiederbesetzung von Gaza für absolut lächerlich. Dort leben zwei Millionen Palästinenser, und wir werden sie nicht vertreiben. Vor allem aber war der Zeitpunkt vollkommen unangemessen. Wir stecken mitten in einer der schlimmsten Krisen für unsere nationale Sicherheit. Während unsere Soldaten in Gaza kämpfen, kommt es immer wieder zu Beschuss an der Grenze im Norden. Die Spannungen im Westjordanland nehmen zu. Die Angriffe durch die Huthis und nun die Vergeltungsschläge der USA gegen vom Iran unterstützte Milizen in der Region. Dass der Iran zugleich so weit wie nie zuvor in seinem Atomprogramm fortgeschritten ist, davon redet schon gar niemand mehr.

Dennoch hat der rechts­extreme Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, gedroht, die Regierung zu verlassen, sollte es eine Einigung mit der Hamas geben.

Gut, dann soll er gehen. Diese Leute haben keinen Schimmer von der Bedeutung unserer strategischen Partnerschaften. Ich habe für die israelische Regierung in New York, Washington und Berlin gearbeitet. Wir brauchen unsere Verbündeten. Diese Herausforderung an mehreren Fronten gleichzeitig sollten wir nicht allein bewältigen.

Trotzdem brüskiert auch Netanjahu den US-Präsidenten immer wieder und lehnt Gespräche über die Zukunft von Gaza ab.

Israel braucht Neuwahlen, und ich gehe davon aus und Umfragen deuten darauf hin, dass die politische Rechte daraus geschwächt hervorgehen würde. Der 7. Oktober, der schlimmste Tag für Juden seit dem Holocaust, war der Beweis, dass ihre Logik und Politik nicht funktioniert haben.

Bisher hat sich die Regierung trotz oder wegen des Krieges als relativ stabil erwiesen. Wie könnte es da zu Neuwahlen kommen?

Mein Gefühl ist, dass es eher früher als später zu Neuwahlen kommen könnte. Ich weiß nicht, wie lange Oppositionsführer Benny Gantz und der ehemalige Generalstabschef Gadi Eizenkot im Kriegskabinett bleiben werden, und der Protest gegen die Regierung scheint zu wachsen. Sobald die Geiselsituation beendet ist und die Kämpfe an Intensität abnehmen, dürften die Forderungen nach Neuwahlen stärker werden.

Was könnte eine neue Regierung erreichen?

Alle in Israel sollten nach dem 7. Oktober verstanden haben: Wenn wir aus dieser Krise ohne eine politische Lösung für das palästinensische Problem herauskommen, dann hat die Hamas gewonnen. Genau das wollte sie mit ihrem Angriff verhindern: eine Normalisierung zwischen Israel und Saudi-Arabien und die Möglichkeit jeder Verständigung. Was wir brauchen, sind zwei Dinge: einen politischen Horizont und einen vereinbarten Weg dorthin. Nur dann können wir einen Plan für Gaza ausarbeiten. Deswegen bestehen die Amerikaner und die Deutschen auf zwei Staaten für zwei Völker, auch wenn sie wissen, dass dieser Plan nicht morgen umgesetzt werden kann.

Gibt es denn in der israelischen Gesellschaft derzeit überhaupt die Bereitschaft für eine Lösung?

Aufgrund der Grausamkeiten am 7. Oktober und wegen der Geiselnahmen hat sich im israelischen Bewusstsein eingebrannt: Die Hamas und andere wollen uns töten. Das macht Gespräche über die Vorstellung einer politischen Lösung, Seite an Seite zu leben, extrem schwierig. Dennoch: Wir sind es unseren Kindern schuldig. Sie sollen sich nicht mehr als Soldaten der Gefahr aussetzen müssen, entführt oder getötet zu werden.

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8 Kommentare

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  • Es fehlt trotz der adressierten Verweise auf die regionale Eskalation der "Komplex Siedlungspolitik" und "rechtliche Standards für Palästinenser außerhalb von Gaza". Offensichtlich ist diese Interdependenz ausgeklammert, wenn es hier um die Verteidigung der militärischen Maßnahmen geht. Für die internationalen Sanktionen gegen Israel ist dieser Fokus aber nicht banal, wenngleich weniger dramatisch bei humanitärer Betrachtung des Leides, das Konflikte mit forciertem Waffeneinsatz zwangsläufig mit sich bringen.



    Daniel Bax taz 26.01.24:



    "Seltsam nur, dass die Bundesregierung derweil auf internationaler Ebene eine in Teilen rechtsradikale Regierung unterstützt, in der manche aus ihren Vertreibungsplänen keinen Hehl machen. Es ist an der Zeit, den Realitäten ins Auge zu sehen und daraus Konsequenzen zu ziehen. Das ist die Botschaft aus Den Haag."



    taz.de/Voelkermord...n-Israel/!5985407/



    Eine angemessene Haltung ist hier nicht automatisch die Quadratur des Kreises. Die Wirkung der marginalen Konzessionsbereitschaft Israels bei der Suche nach Kompromissen zur Lösung der humanitären Fragen auf die Stabilität der Unterstützung in den USA könnte die Präsidentschafts-Wahlen in wenigen Monaten nachhaltig beeinflussen. Somit ist auch eine globale Betrachtung, wie Daniel Bax das mehrfach dargestellt hat, eine Notwendigkeit. Die juristische Bewertung ist von solchen Auswirkungen unabhängig vorzunehmen, aber gleichwohl offensichtlich ein Politikum ohne Konsens für Zuständigkeit und Anerkennung.

  • Ich habe Mühe mit der Formulierung „palästinensisches Problem“, dahinter stehen Menschen und er beschreibt das so lapidar wie eine Reifenpanne

  • "Gut, dann soll er gehen. Diese Leute haben keinen Schimmer von der Bedeutung unserer strategischen Partnerschaften."

    Dass der Minister rechtsextrem ist, stört ihn aber nicht. Nur, dass er politisch unklug nicht auf die Verbündeten Israels achtet.

    • @Jalella:

      Nun ja, der Kontext der Frage war auch ein anderer.

      Dass er selbst nicht rechtsextrem ist, wurde in dem Interview recht gut deutlich.

      • @rero:

        Er negiert jegliches Fehlverhalten der israelischen Armee, obwohl dies durch die eigenen Soldaten ausführlich auf TikTok dokumentiert wird.

  • Wie wohltuend, diese differenzierte Stellungnahme zu lesen. Wollen wir hoffen, dass die Realisten bald wieder die israelische Regierungspolitik bestimmen und sich auch auf palästinensischer Seite eine friedfertige demokratische Alternative zu den Radikalen entwickelt.

  • Ben Gvir war gerade in den USA und hat sich offen für Trump ausgesprochen:



    „Anstatt uns vollen Rückhalt zu geben, ist Biden damit beschäftigt, Treibstoff und Hilfslieferungen nach Gaza zu bringen, die dann eh nur bei der Hamas landen. Wäre Trump an der Macht, würden sich die USA ganz anders verhalten“, sagte Ben Gvir.



    Seine Partei bekommt inzwischen 10 (statt vor dem Krieg 2) Prozent der Stimmen in Israel, während Netanjahus Likud abstürzt und von den Extremisten abhängig ist. Netanjahu lässt sich jetzt von Ben Gvir treiben und tut, was der will, Zitate aus der FR von gestern:



    "Kaum ein Tag vergeht, an dem der rechtsradikale Minister Itamar Ben Gvir nicht mehr als deutlich macht, dass er gerne dazu bereit ist, Netanjahus Regierung zu sprengen."



    www.fr.de/politik/...rump-92815731.html

    • @Günter Picart:

      Ich denke auch , dass die Israelis mit der Ausführung der Politik unter Netanjahu unzufrieden sind, aber nicht mit der Ausrichtung der Politik.