piwik no script img

Ewige MigrationsdebatteNur nicht überraschen lassen!

Das Auswandererhaus Bremerhaven verbindet die aktuelle Migrationsdebatte mit deutschen Flüchtlingen von 1709 und türkischen Gastarbeitern.

Neu bei Bosch: Ilhami Akşen (r.) mit einem deutschen Kollegen Foto: Şefika und Ilhami Akşen

Die Bilder und Debatten, sie gleichen sich seit mehr als 300 Jahren. Das ist, nein: nicht überraschend, aber jener Teil der Geschichte, der heute gerne vergessen wird, wenn es um Migration geht. Und genau diese Parallelen sind es, die das Deutsche Auswandererhaus in Bremerhaven nun in einer historischen und doch ungemein aktuellen Sonderschau eindrucksvoll demonstriert.

Deutschland, 1709: Mehr als 12.000 Menschen fliehen nach London – ein Massenexodus. Bremen beispielsweise hat seinerzeit gerade mal doppelt so viele Einwohner. Es ist die erste große Flüchtlingswelle: Die Pfälzer, später Palatines genannt, flüchten vor dem spanischen Erbfolgekrieg, hohen Abgaben und einem der kältesten Winter des Jahrtausends.

Sie machen sich in Booten auf die weite Reise, weil sie gehört haben, dass sie in England besser versorgt würden, zelten in Rotterdam, wollen weiter nach Amerika, wo es Land geschenkt geben soll. Ein Bild macht die Runde, mit Queen Anne drauf, und, natürlich, es erinnert an jene Fotos von Angela Merkel, die syrische Kriegsflüchtlinge heute manchmal bei sich tragen. Die beiden Herrscherinnen finden sich deshalb gleich am Eingang der Ausstellung nebeneinander, während parallel das Nachrichtenfernsehen läuft. Alles schon mal dagewesen.

Halb Deutschland auf der Flucht

Von Woche zu Woche kommen mehr deutsche Flüchtlinge in London an, 6.520 allein im Mai 1709. „Was sollen wir mit ihnen machen?“, fragt der britische Schriftsteller Daniel Defoe. Am Anfang werden sie freundlich aufgenommen, erzählt die Museumsdirektorin Simone Eick. Wochenlang kümmern sich die Engländer um die Flüchtlinge, die oft nur in notdürftigen Hütten wohnen, oder zelten. Sogar 1.000 hochdeutsche Bibeln werden gedruckt. „Sie können halb Deutschland haben“, schreibt ein britischer Gesandter seiner Königin, „sie fliehen alle.“

Irgendwann kippt die Stimmung, es kommt immer öfter zu Konflikten der Palatines mit dem ortsansässigen Proletariat, vor allem um Jobs. Befürworter und Gegner der Einwanderungswelle streiten sich heftig über die Frage, ob ausländische Zuwanderer als Kolonialisten für Ländereien in Amerika infrage kommen.

Am Ende verkünden die Engländer einen Aufnahmestopp: Niemand wird mehr reingelassen. Die Chance auf eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis haben ohnedies nur die 2.800 Protestanten unter den deutschen Flüchtlingen – so will es die neue englische Gesetzgebung. Wer Katholik ist, wird bald wieder nach Deutschland abgeschoben.

Migranten als günstige Arbeitskräfte

„Plötzlich da“, heißt die Ausstellung, in der es aber nicht nur um die „deutschen Bittsteller“ von 1709 geht, wie es im Untertitel heißt, sondern auch um die neuen „türkischen Nachbarn“, die nach 1961 in die Bundesrepublik kamen, dank eines Anwerbe-Abkommens mit der Türkei. Sowohl die Wirtschaftswunder-Deutschen als auch die imperialen Engländer sahen in Migranten lediglich günstige Arbeitskräfte.

Sie nutzten die Einwanderung als rein wirtschaftspolitische Maßnahme. Sie rechneten nicht mit dem Erfolg ihrer Werbung. Und sie reagierten ablehnend, als sich herausstellte, dass die Immigranten sich nicht instrumentalisieren ließen.

Die Deutschen in Nordamerika wollten Landbesitzer, keine billigen Arbeiter sein. Die Briten überließen sie dann ihrem Schicksal – einheimische Mohawk-Irokesen retteten sie vor dem Hungertod. Die Türken wiederum wollten nicht jahrelang alleine und nur für die Arbeit in Deutschland leben, nicht nur der „Konjunkturpuffer“ sein, die „Mobilitätsreserve“, für die auch die deutschen Gewerkschaften sie seinerzeit hielten. Sondern mit ihren Familien, ihrer Sprache, ihrer Religion, ihren Traditionen hier leben.

Beitrag zur aktuellen Debatte

„Wir hoffen, mit der Ausstellung einen Beitrag zur aktuellen Flüchtlingsdebatte leisten zu können“, sagt Eick. Was wir aus der Geschichte lernen können? „Sie gibt uns keine Antworten auf die heutigen Fragen“, sagt die Direktorin. „Aber sie zeigt uns, welche Handlungen welche Folgen haben.“ Das Migrationsmuseum will vor allem das „Überraschungsmoment mildern“, sagt Eick – und das Bewusstsein dafür schärfen, dass die Einwanderungsdebatte immer wieder kommen kann.

Zugleich ist die Sonderausstellung die erste in einer Reihe von dreien zum Thema „Deutsch und Fremd“, sagte Eick. Die Leitfrage lautet: Warum werden Einwanderer zu Fremden gemacht? 2016 soll es darum gehen, wann und warum Auswanderer wieder in ihre Heimat zurückkehren. 2017 wird untersucht, welche Religionen nach Deutschland eingewandert sind.

1979, auch das dokumentiert die zwangsläufig sehr textlastige Ausstellung, ist in Deutschland das erste Mal vom „Einwanderungsland“ die Rede, in einem Memorandum. Die Politik wird sich noch lange gegen diese Tatsache wehren, zuerst mit Rückkehrprämien für Türken, dann mit scharfen Worten von höchster Stelle: „Mir kommt kein Türke mehr über die Grenze“, sagt Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) 1982. „Deutschland ist kein Einwanderungsland und darf es auch nicht werden“, sagt vier Jahre später Nachfolger Helmut Kohl (CDU).

Eine gewollte Unwillkommenskultur

In der Ausstellung stehen diese Zitate direkt neben Hinweisen zur rassistischen Gewalt Anfang der 90er-Jahre. Sie werden begleitet von einem viertelstündigen Dokumentarfilm, der diese Spannung zwischen faktischer Normalität und gewollter Unwillkommenskultur nachzeichnet – anhand von deutsch-türkischen Liebespaaren. Acht Wissenschaftler waren für die Ausstellung unterwegs. 40 Türkeistämmige haben sie in zwölf Städten befragt.

Alle hadern sie mit ihrer Identität irgendwie. Alle kämpfen sie mit Vorurteilen, Ablehnung und Rassismus. Alle sind sie Subjekte einer Debatte, die vor allem von der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft geführt wird. Und die reagiert stets ablehnend – sobald in ihr das Gefühl wächst, sie müsste selbst etwas aufgeben, für die Einwanderer. Daran hat sich in den letzten 300 Jahren wenig geändert.

„Plötzlich da“: bis 31. Mai 2016, Deutsches Auswandererhaus, Bremerhaven

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!