Eurokolumne: Bilanz der Europäischen Union
Die europäische Idee erfreut sich immer weniger Beliebtheit. Europakritische Stimmen gründen auf Krisen und Mängeln im System.
F lorian Illies hat uns eingestimmt mit „1913. Der Sommer des Jahrhunderts“. Wer dazu den Film „Das weiße Band“ gesehen hat, der weiß Bescheid: Es war der letzte ruhige Sommer, bevor nichts mehr sein sollte, wie es einmal war. Jetzt ist es wieder so weit, wir sind von 2013 nach 2014 gewechselt und bereiten uns vor auf die Gedenkfeiern zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs, einhundert Jahre danach.
Der Bestseller „Die Schlafwandler“ von Christoph Clark zeichnet nach, wie Europa in den Krieg zog, schlafwandlerisch eben, traumtänzerisch. Vom großen Aufbruch in die Welt war die Rede, nicht von einer großen Katastrophe. Der schlafwandlerische Kontinent indes taumelte in seinen größten Abgrund. Als der zweite dreißigjährige Krieg endlich vorbei war, begann die Stunde Europas. Nie wieder Krieg. So wird es 2014 zelebriert werden. Im Obertonbereich.
Indes, es gibt Untertöne. Hundert Jahre später ist der Abgesang auf die europäische Idee unüberhörbar. Er kommt aus vielerlei, teilweise auch berufenem Munde etwa deutscher Ökonomen, Professoren oder Juristen, die die vermeintliche Unhaltbarkeit des Euro mit Zahlen untermalen oder seine Rechtswidrigkeit zu belegen versuchen – und schwillt bisweilen zum populistischen Chor an, in dem auch die Medien gern mitmachen, weil es sich gut verkaufen lässt: In den Buchhandlungen türmen sich Bücher wie „Das Ende des europäischen Traums“.
Europa scheint krisenerschöpft und zermürbt; eine immer „engere Union“, wie es im Vertrag von Maastricht hieß, das will heute kaum noch einer, lieber „weniger Europa“. Bei den Briten zeigen sich die Fliehkräfte am offensivsten, aber auch in Deutschland werden sie deutlicher, ebenso jenseits des Rheins, wo die Franzosen ihrer einstigen amour de l’Europe verlustig gehen. Von den ausgeprägt europakritischen Stimmungen in Ungarn, Niederlande oder Finnland ganz zu schweigen.
Lieber „weniger Europa“
Da wollen wir die Erinnerungskultur beschwören, den Frieden feiern, das nobelste Projekt der politischen Moderne überhaupt, da ist es auch schon wieder vom Zerfall bedroht: Einträchtig wird Europa von den Eliten zunehmend abgeschrieben und vom Volk verschmäht.
Dazu kommt – unbestreitbar – die „Technokratiefalle“ der EU, ihr problematisches Legitimitätsdefizit, für das es keine einfachen Lösungen gibt. So mahnt auch schon die europäische Linke, dass Solidarität nur im nationalstaatlichen Rahmen zu haben ist. Wer Demokratie und Solidarität will, muss – ergo – gegen Europa sein, zumindest gegen das bestehende.
Grund genug zum Unkenrufen gibt es in der Tat. 2014 könnte jenseits der Erinnerungskultur ein schwieriges europäisches Jahr werden. Die Bankenunion hat zwar gerade auf dem EU-Gipfel im Dezember Fortschritte erzielt; ihre Architektur wurde in Grundzügen beschlossen, wobei vor allem die Lehren aus der Zypernkrise gezogen wurden: Sparer und Steuerzahler sollen bei Bankenabwicklungen besser geschützt werden. Ein neues europäisches Gremium entscheidet über Abwicklungen, die EU-Kommission hat ein Vetorecht. Die europäische Komponente im System wurde damit gestärkt, das war lange nicht mehr so. Banken sollen einen gemeinsamen Topf für Rettungsaktionen aufbauen, und auch das ist gut.
Die Krise ist noch nicht vorbei
Denn es muss sich noch zeigen, ob die Krise wirklich vorüber ist: Der Bankenstresstest im Frühjahr könnte die Märkte erneut beunruhigen. Karlsruhe hat zu den Staatsanleihekäufen der Europäischen Zentralbank noch nicht entschieden. Italien ist weder wirtschaftlich reformiert noch politisch stabil. Wie weiter mit Griechenland verfahren werden soll, ob ein Schuldenschnitt kommt, ist unklar. Marine Le Pen könnte im April bei den Regionalwahlen in Frankreich stärkste politische Kraft werden, der wichtigste Partner Deutschland damit politisch ins Wanken kommen. Das Europaparlament bei den Wahlen im nächsten Mai einen Populismusschub erhalten. Und Madame Europa könnte mithin ausgerechnet im Festgewand von 2014 noch einmal so richtig ins Schlittern kommen.
In seinem Buch „Die Gesellschaft der Gleichen“ schreibt der französische Soziologe Pierre Rosanvallon, dass das letzte, das europäische Jahrhundert, auch das Jahrhundert der (verhältnismäßigen) Gleichheit war, das auf ein Jahrhundert der Ungleichheit folgte. In Frankreich besaß das reichste Prozent der Bevölkerung 1913 noch 53 Prozent des nationalen Reichtums, 1984 dagegen nur 20 Prozent. In anderen Industrienationen war es ähnlich. Heute liegt der Wert wieder bei über 60 Prozent.
Die Geschichte wiederholt sich nicht. Wir wissen nicht, was sie 2014 mit und aus Europa macht. Aber schon einiges, was man eigentlich erhalten wollte, ist trotzdem kaputtgegangen.
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