Euro-Stabilitätspakt ausgesetzt: Freibrief für neue Schulden
Die EU-Staaten dürfen vorerst so viele Kredite aufnehmen, wie sie in der Coronakrise brauchen. Kommen jetzt kollektive Schulden der Gemeinschaft?
Die im „Stabipakt“ verankerte und seit Jahren umstrittene Drei-Prozent-Grenze für das Budgetdefizit fällt nun ebenso weg wie das Schuldenlimit von 60 Prozent der Wirtschaftsleistung. Sogar fiskalpolitische Hardliner wie Deutschland, Finnland oder die Niederlande stimmten dem Vorschlag der EU-Kommission zu.
Die Brüsseler Behörde hatte die Aussetzung des Pakts mit der wirtschaftlichen Notlage begründet, die durch die Maßnahmen gegen das Coronavirus entstanden sind. Formal beruft sie sich auf die 2011 neu eingeführte „Generalklausel“, die eine Pause ermöglicht. Es ist das erste Mal, dass der 1997 eingeführte Pakt ausgesetzt wird. Maßgeblich hatte sich Deutschland, allen voran der damalige Bundesfinanzminister Theo Waigel (CSU), für scharfe Schuldenkriterien eingesetzt.
In Brüssel macht sich nun manch einer Sorgen, dass er niemals wieder aktiviert werden könnte. Die Finanzminister betonen zwar, sie blieben „der Einhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspakts uneingeschränkt verpflichtet“. Doch nach der Krise dürften alle Euroländer die Obergrenzen des Pakts bei Weitem überschreiten, auch Deutschland.
Die verdammten Spreads
„Die Coronakrise darf nicht direkt in eine Schuldenkrise führen“, warnt der CSU-Finanzexperte Markus Ferber. Die Schuldentragfähigkeit werde auch künftig eine wichtige Rolle spielen. „Auch wenn neue Schulden nicht auf die Defizitgrenze angerechnet werden, müssen sie später trotzdem mit Zins und Zinseszins zurückgezahlt werden.“
Dieses Problem treibt auch andere Experten um. Die EU müsse sich jetzt schon überlegen, wie sie die kommende schwere Wirtschafts- und Finanzkrise managen kann, sagt Janis Emmanouilidis vom Brüsseler Thinktank EPC. Die Aussetzung des Stabilitätspakts reiche nicht aus, die EU brauche auch gemeinsame Finanzinstrumente.
Italien, Griechenland und andere geschwächte Euroländer dürfen sich nun zwar unbegrenzt neu verschulden. Doch sie zahlen an den Finanzmärkten höhere Zinsen für ihre Kredite als Deutschland. Die Zinsdifferenz, Spread genannt, könnte sich sogar noch erhöhen – wie in der Eurokrise, wo es deswegen fast zum Crash kam.
Zuletzt sind die Spreads für Italien zwar zurückgegangen. Dies war jedoch vor allem der Europäischen Zentralbank (EZB) zu verdanken, die für zunächst 750 Milliarden Euro Staatsschulden aufkauft und damit die Zinsen drückt. Was passiert, wenn sich die Krise weiter verschärft und die Spreads wieder in die Höhe gehen, weiß niemand.
Klar ist nur, dass die Feuerwehraktion der EZB und die eilige Aussetzung des Stabipakts nicht ausreichen werden. In Brüssel werden daher bereits zusätzliche Maßnahmen diskutiert, die die finanzielle Solidarität zwischen den Euroländern sichern könnten, unabhängig von den Launen der Finanzmärkte und der Spekulanten.
Kommen Coronabonds?
So könnte der Euro-Rettungsfonds ESM zusätzliche Kredite in Höhe von bis zu 410 Milliarden Euro anbieten. Dies hat ESM-Chef Klaus Regling vorgeschlagen. Denkbar wäre auch, dass die Euroländer gemeinsame Anleihen ausgeben, die sogenannten Coronabonds. So könnten sich alle Staaten zu denselben günstigen Konditionen am Markt finanzieren.
Beides ist umstritten. Bei einer Sondersitzung der Euro-Finanzminister am Dienstagabend wurde deshalb noch nicht mit einer Einigung gerechnet. Im Streit über ESM und Coronabonds stehen wie gewohnt Finnland, die Niederlande, Österreich und auch Deutschland auf der Bremse. Die Diskussion über Coronabonds sei „eine Geisterdebatte“, sagte Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier. Der CDU-Politiker wischte damit auch Vorschläge führender deutsche Ökonomen vom Tisch.
Markus Ferber (CSU)
Das letzte Wort dürfte Bundeskanzlerin Angela Merkel haben, die am Donnerstag in einer Videoschalte mit den anderen Staats- und Regierungschefs der EU diskutiert. In der Eurokrise lehnte Merkel die schon damals geforderten Eurobonds strikt ab. Fast zehn Jahre später spricht nichts dafür, dass die Kanzlerin ihre Meinung von damals geändert haben könnte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“