Ethikrat-Gründerin über Coronamaßnahmen: „Wir brauchen mehr Partizipation“

Die Initiative Niedersächsischer Ethikrat fordert, dass Kinder und Jugendliche in die Planung von Coronamaßnahmen einbezogen werden.

Ein Kind fährt auf einem Dreirad an einem gesperrten Spielplatz vorbei.

Würde wohl gern dort spielen: Mädchen vor einem abgesperrten Spielplatz Foto: Julian Stratenschulte/dpa

taz: Frau Wernstedt, Sie haben Ende April die Initiative Niedersächsischer Ethikrat (INE) mitgegründet. Was war der Anlass?

Thela Wernstedt: Wir haben uns zu dem Zeitpunkt kirchlicherseits, aber auch parlamentarischerseits große Sorgen um Menschen in Pflegeheimen und in der ambulanten Versorgung gemacht. Die Befürchtung war, dass durch die rigorosen, nachvollziehbaren Maßnahmen nicht auf deren Bedürfnisse eingegangen wird. Der schwierigen Abwägung zwischen strengen Notlösungen auf der einen und Schadensbegrenzung auf längere Sicht auf der anderen Seite wollten wir Ausdruck verleihen.

Sie fordern insbesondere eine stärkere Einbindung von jungen Menschen in Entscheidungsprozesse.

Schon Ende April war uns klar, dass es noch mehr Stimmen in der Bewältigung der Krise braucht. Während der letzten Wochen haben wir uns als Ethikrat-Initiative selbst sortiert, und unsere Schwerpunkte verändert. Die Situation von alten Menschen hat sich unserem Eindruck nach verbessert – etwa durch die Öffnung der Altenheime. Nun macht uns der Umgang mit jungen Menschen mehr Sorgen.

Inwiefern?

Wir wollen uns für eine andere Sichtweise auf Kinder und Jugendliche in der Krisenbewältigung einsetzen. Sie müssen nicht nur bespielt und versorgt werden, oder sind Anhängsel von Eltern, sondern haben ein eigenes Recht auf Bildung und Partizipation.

52, hat Humanmedizin und Philosophie studiert. Sie ist frauen- und gleichstellungspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Niedersächsischen Landtag.

Wie wollen Sie Ihre Forderungen umgesetzt sehen?

Wir haben kein offizielles Mandat, sondern geben Denkanstöße für Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit. Natürlich können wir auch nicht wissen, ob es eine zweite Welle gibt. Trotzdem wollen wir uns jetzt schon Gedanken machen, wie mit Kindern und Jugendlichen umgegangen werden kann, wenn nach der Sommerpause Kindertagesstätten und Schulen wieder öffnen.

Wie soll die Einbindung von jungen Menschen in Entscheidungsprozesse konkret aussehen?

Zur langfristigen Bewältigung der Krise ist mehr Partizipation notwendig – das wollen wir thematisieren. Wir planen Anhörungen für Anfang September, zu denen Jugendverbände, einzelne, für etwas repräsentative Jugendliche, und natürlich auch professionelle Organisationen, die sich mit jungen Menschen beschäftigen, eingeladen werden sollen. Das Format – ob etwa eine Anhörung wie aus dem parlamentarischen Bereich das Richtige ist – diskutieren wir gerade.

Hätte die Politik von Anfang an mehr Rücksicht auf junge Menschen nehmen müssen?

Wir sagen nicht, dass die anfänglichen Wochen schlecht gelaufen sind. Wir wussten, dass auch rigorose Isolationsmaßnahmen und ein Herunterfahren des gesellschaftlichen Lebens – inklusive Schulschließungen – nötig sein können. Ein paar Wochen lang funktioniert das. Eine Pandemie ist allerdings eine andere, sehr viel längere, Form der Krise als etwa eine Massenansammlung von Verletzten nach einem Flugzeugabsturz und betrifft die gesamte Gesellschaft. Das geht über Monate, über ein Jahr und länger. In der Langfristigkeit liegen Gefährdungen für bestimmte Gruppen, die auf Hilfe von außen angewiesen sind.

Wie kann ihnen geholfen werden?

Krisenstäbe der Regierungen und Kommunen können nicht die gesamte Fülle der Lebensbedingungen überblicken. Es braucht den Blick der Betroffenen. Es gilt in verantwortlicher Weise eine Abwägung zwischen den berechtigten Interessen der Kinder und Jugendlichen nach Zusammensein und Lernen und dem Allgemeinwohl nach Eingrenzung der Infektionsherde und einer geringen Zahl von Schwerkranken unter Berücksichtigung vieler Perspektiven zu ermöglichen.

Dass junge Menschen Mitspracherecht fordern, ist nicht neu.

Die Jugendlichen, die etwa bei Fridays for Future mitmachen, verschaffen sich schon selbst Gehör. Deshalb geht es uns gar nicht so sehr um diese Gruppe. Gehörtwerden ist in vielen Bereichen des Kinder- und Jugendrechts eine wichtige Frage, etwa bei Scheidungsverfahren und dem Aushandeln von Umgangsrechten. Wo es um das Kindeswohl geht, müssen wir noch viel stärker darauf achten, Kindern auf angemessene Art und Weise Gehör zu verschaffen. Das ist ein Thema, dass in vielen Kinder- und Jugendpolitikbereichen seit vielen Jahre präsent ist. Wenn sie auch bei diesen Fragen nach der Krise mehr gehört werden, hat sich viel bewegt.

Welche langfristigen Ziele hat Ihre Initiative?

Momentan sammeln und formulieren wir weitere Themen, etwa zu Wirtschafts- und Gleichberechtigungsfragen. Wir sind überzeugt, dass diese Pandemie nicht spurlos an uns vorbeigehen wird, dass es auch längerfristige Veränderungen in politischen Bereichen geben muss und wird. Wenn am Ende mehr und andere Formen von Partizipation der Bürgergesellschaft an politischen Prozessen ausprobiert, und für gut befunden wurden, dann ist das etwas Schönes, was wir in unserer Gesellschaft tun können.

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