Ethiker über Präventionsgesellschaft: „Lernen, mit Risiken umzugehen“
Wir sind auf dem Weg zu einer Präventionsgesellschaft, sagt der Ethiker Peter Dabrock. Ein Risiko dabei sei, dass aus dieser Chance eine Pflicht zur Prophylaxe wird.
taz: Herr Dabrock, eine Beamtin aus Hessen mit einem sehr hohen Risiko für genetisch bedingten Brustkrebs hat sich vorbeugend ihre Brüste abnehmen lassen, nach dem Vorbild der amerikanischen Schauspielerin Angelina Jolie. Jetzt streitet sie mit ihrer Beihilfestelle um die Erstattung der Kosten dieser Mastektomie. Ist es ethisch vertretbar, die Beihilfe oder die gesetzliche Krankenversicherung mit den Kosten einer Operation zu belasten, obwohl keine Erkrankung vorliegt, sondern nur ein Erkrankungsrisiko?
Peter Dabrock: Zunächst halte ich es ethisch für absolut nachvollziehbar, dass eine Frau mit einem genetisch bedingten Brustkrebsrisiko von 60 oder 70 Prozent sich nach ausführlicher medizinischer und psychologischer Beratung für eine prophylaktische Brustoperation entscheidet. Denn damit senkt sie ihr Risiko zu erkranken auf ca. 2 Prozent. Zugleich muss diese Ultima Ratio nicht unbedingt für jede Frau die richtige Wahl sein. Die Entfernung der Brüste als Generalformel für alle Hochrisikofrauen auf Kosten der Krankenkassen anzubieten, das hielte ich für falsch.
Aber grundsätzlich halten Sie es für sinnvoll, dass nicht nur diagnostizierte Krankheiten, sondern auch Risiken für Erkrankungen vorbeugend behandelt werden dürfen – und die Kassen dann auch dafür aufkommen müssen?
Selbstverständlich. Die rein kurative Reparaturmedizin, an der die Krankenversicherungen derzeit noch festhalten, sie war einmal. Wir sind auf dem Weg hin zu einer präziseren medizinischen Versorgung. Die Amerikaner haben hierfür das Schlagwort der 4-P-Medizin erfunden: präventiv, personalisiert, partizipatorisch und prädiktiv. Unsere Zukunft ist die Präventionsgesellschaft, mit allen Risiken, die sie birgt.
Welche Risiken sind das?
Das größte Risiko ist, dass aus der Chance, die die Prävention unzweifelhaft bietet, eine Pflicht wird und aus der Pflicht ein Zwang. Im schlimmsten Fall wäre derjenige, der das Präventionsangebot nicht nutzt, plötzlich beweislastig, weshalb er es nicht wahrgenommen hat.
Jahrgang 1964, ist Professor für Systematische Theologie mit dem Schwerpunkt Ethik an der Universität Erlangen-Nürnberg. Seit 2012 ist Dabrock stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Ethikrats. Unter seiner Leitung geht ein interdisziplinäres Forscherteam aktuell der Frage nach, wie angesichts neuer medizinischer Möglichkeiten die Grenze zwischen „krank“ und „gesund“ verschwimmt. Das auf drei Jahre angelegte Forschungsprojekt „Syskon“ wird vom Bundesforschungsministerium gefördert.
Was spricht dagegen, die Menschen gesund halten zu wollen und ihnen deswegen ein bisschen Prävention zuzumuten?
Auch vor dem Hintergrund unserer Geschichte haben wir zu Recht eine große Skepsis gegenüber allen Versuchen, eine Sozialpflichtigkeit des menschlichen Leibes zu fordern. Alle Versuche, die Menschen zu ihrem Glück zu zwingen, werden von unserem Rechtsstaat zurückhaltend betrachtet, mit Ausnahme der Bildung. Eine andere Frage ist, ob der Staat eine bestimmte Form der Aufklärung zur Verfügung stellen muss, damit Menschen überhaupt einschätzen können, was eine Risikoprognose bedeutet und wie sie damit umgehen können. Im Fall des Brustkrebses würde ich es begrüßen, wenn der Staat für eine Aufklärung durch dafür extra qualifizierte Gynäkologen sorgen würde. Anschließend müssen die betroffenen Frauen die Möglichkeit zur kassenfinanzierten Operation haben, aber nicht den Zwang.
Dem steht unser versicherungsrechtlicher Krankheitsbegriff entgegen. Der definiert Menschen erst dann als krank, wenn die Krankheit ausgebrochen ist.
Ich halte diesen Krankheitsbegriff nicht mehr für zeitgemäß. Die Krankenkassen kennen nur Kuration, also Heilung, oder die klassische Prävention, worunter viele dann oft nur Rumgehopse in der Muckibude auf Kassenkosten verstehen. Der Prophylaxe, unter die auch Operationen wie die Mastektomie fallen können, wird zu wenig Rechnung getragen. Das muss sich ändern, und das wird sich ändern. Wir stehen vor einer Transformation unseres gesamten Gesundheitssystems.
Was macht Sie so optimistisch?
Es bleibt uns kaum anderes übrig. Angesichts der Komplexität unserer heutigen diagnostischen Möglichkeiten, kombiniert mit den extrem präzisen Risikoprofilen, die wir der Nutzung von Big Data in der Medizin verdanken, werden Menschen unweigerlich zunehmend Kenntnisse über ihren Körper und ihre genetischen Dispositionen erhalten, die auch belastend sein können. Wir müssen damit als Gesellschaft umgehen. Es ist absurd, dass bei uns die medizinische Versorgungsmaschinerie erst dann losrattert, wenn die Krankheit durchbricht. Dann wird, etwa in der Krebstherapie, bis ins Teuerste hinein und ohne mit der Wimper zu zucken gezahlt. Aber eine prophylaktische Maßnahme, die eine erhebliche Risikominimierung beinhaltet, wird nicht bezahlt, obwohl ihr medizinischer Nutzen außer Frage steht.
Für Frauen mit den Brustkrebsgenen ist das sicher richtig. Der Medizin gelingt es daneben zunehmend, Kenntnisse über genetische Mutationen zu erlangen auch in Bereichen, in denen keine prophylaktische Therapie zur Verfügung steht, etwa bei einem Demenzrisiko. Solche Untersuchungsergebnisse können Menschen unglaublich verunsichern – und die Ärzte können nichts tun.
Wir müssen lernen, besser mit Risiken und Risikoansagen umzugehen. Mit den neuen diagnostischen Möglichkeiten erhalten auch Fragen wie das Recht auf Wissen und das Recht auf Nichtwissen eine erhebliche Bedeutung. Wichtig wird daneben in Zukunft werden, wie wir mit nicht intendierten Nebenbefunden umgehen. Es muss mehr Aufklärung, Beratung und psychologische Unterstützung geben, bevor Menschen zugemutet wird, dass sie über bestimmte Risiken informiert werden.
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