Estlands Regierungschefin Kallas: Laute Trommlerin für die Ukraine
Estlands Regierungschefin fühlt sich längst für Höheres berufen. Nun hat Kaja Kallas immerhin erstmal den Walther-Rathenau-Preis bekommen.
Die US-Zeitung Politico zitiert in einem Bericht von Anfang März eine anonyme EU-Quelle: Die Idee, Kallas als EU-Spitzendiplomatin einzusetzen, bleibe in manchen EU-Hauptstädten weiterhin heikel. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Frankreich und Deutschland dem zustimmen, aus denselben Gründen, aus denen sie für den Nato-Job nicht infrage kommt. Wollen wir wirklich jemanden, der gern Russen zum Frühstück isst, in diese Position bringen?“, heißt es da. Kallas reagierte prompt auf diese Einlassung und postete ein Foto von ihrem Frühstück – ohne Russ*innen, dafür mit Müsli und Blaubeeren.
Dennoch: Spätestens seit dem Beginn von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 hat Kallas den Nachbarn endgültig gefressen. Das hat auch mit der eigenen Geschichte der 46-Jährigen zu tun. Nach der Besetzung Estlands durch sowjetische Truppen im Juni 1940 sei auch ihre Familie nach Sibirien deportiert worden, erzählte sie einmal. Alte Ängste sind wohl auch der Grund dafür, dass Kallas mit den beiden anderen baltischen Staaten innerhalb der EU am lautesten für die Unterstützung der Ukraine trommelt.
Ihrer politischen Karriere voraus ging nach einem Jura-Studium eine Tätigkeit als Rechtsanwältin. 2010 trat sie der liberalen Estnischen Reformpartei bei, deren Gründungsvorsitzender ihr Vater Siim Kallas (2002/03 Regierungschef Estlands und später auf verschiedenen Posten in der EU-Kommission tätig) ist. Ein Jahr später wurde sie ins estnische Parlament (Riigikogu) gewählt, 2014 dann eine von sechs estnischen Abgeordneten im EU-Parlament.
Kallas lässt sich nicht einschüchtern
Im Januar 2021 übernahm Kallas den Posten der Regierungschefin, trat jedoch ein Jahr später nach einem Zerwürfnis mit ihrem Koalitionspartner, der Zentrumspartei, zurück. Dennoch gelang es ihr, mit neuen Koalitionären im Amt zu bleiben. Bei der Parlamentswahl im März 2023 wurde ihre Partei stärkste Kraft und Kallas als Ministerpräsidentin bestätigt.
Ende 2023 machte Kallas negative Schlagzeilen. Ihr zweiter Ehemann, der Investmentbanker Arvo Hallik, soll in dubiose Geschäfte mit Russland verwickelt sein und Kallas ihm ein Darlehen in Höhe von 350.000 Euro zur Verfügung gestellt haben. Schnell wurden Rücktrittsforderungen laut, Kallas Zustimmungswerte stürzten ab. Mittlerweile scheint sich die Aufregung gelegt zu haben.
Seit Mitte Februar 2024 kann sich Kallas, die Mutter eine Sohnes ist, eine weitere, wie viele sagten, Ehrenmedaille ans Revers heften. Da tauchte ihr Name auf einer Fahndungsliste des russischen Innenministeriums auf – mutmaßlich, weil Kallas sich für die Entfernung von Denkmälern für sowjetische Soldaten im Zweiten Weltkrieg eingesetzt hatte. Der Fahndungsaufruf kümmert sie nicht. Sie lasse sich nicht von Wladimir Putin einschüchtern, sagte Kallas. Von ihr wird auch künftig zu hören sein – in welchen Job auch immer.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Der Fall von Assad in Syrien
Eine Blamage für Putin