Essenslieferdienste in der Corona-Krise: Alles frei Haus, bitte
Essenslieferdienste sind gerade beliebt wie nie. Die Branche ist bekannt für prekäre Arbeitsbedingungen. Ein Kollektiv will nun vieles anders machen.
D ie Nachricht kommt per E-Mail. Sie bedeutet für Stefano Lombardo ein Ende und zugleich einen Neuanfang. An einem Montag im August 2019 findet er die E-Mail in seinem Postfach. „Lieber Stefano Lombardo“, beginnt sie, dann folgen Sätze, die ihn auf Deutsch und Englisch darüber informieren, dass der Essenslieferdienst Deliveroo, für den er die vergangenen Jahre Pizzen, Sushi und Thai Bowls durch Berlin gefahren hat, seinen Betrieb einstellt. Und zwar schon am folgenden Freitag.
Für Lombardo ist klar: Jetzt bekommt er seine Chance. Die Chance, das umzusetzen, was er schon länger im Kopf hat: einen eigenen Lieferdienst. „Am Mittwoch haben wir mit dem Organisieren angefangen“, sagt er. „Und am Freitag sind wir gestartet.“
Lombardo und seine Freunde wollen nicht einfach einen Kurierdienst aufbauen, sondern ein Kollektiv, das eine kleine Alternative zu den Großen der Branche sein will. Mehr Selbstbestimmung, mehr Freiheit, mehr innere Werte. Vielleicht sogar Nachhaltigkeit, Gemeinschaftsgefühl, Transparenz.
Lombardo, 42 Jahre alt, ist schon von Weitem als Fahrradkurier zu erkennen, selbst dann, wenn er gerade ein paar Schritte ohne Fahrrad macht. Kuriertasche über der Schulter, wetterfeste Kleidung gegen den Großstadtwinter und Ringelsocken, die zwischen Szenegag und ernst gemeint changieren.
Seit zehn Jahren ist er als Kurier unterwegs – zunächst mit dem Auto, seit fünf Jahren als Fahrradkurier für Essensbestellungen. „Ich mag das Freiheitsgefühl“, sagt er. „Draußen sein, nicht im Büro, keinen Chef haben.“ Und die Bezahlung bei Deliveroo sei auch gut gewesen, der Leidensdruck gering. „Aber sobald sie weg waren, wollten wir es probieren.“
Essenslieferungen sind ein Bereich, der in den vergangenen Jahren stark von der Plattformökonomie verändert wurde. Die heißt so, weil hier Anbieter und Kunden auf einer digitalen Plattform, einem virtuellen Marktplatz zusammengebracht werden. Dabei sind Netzwerkeffekte entscheidend. Je mehr Restaurants ihr Essen auf einer Plattform anbieten, desto interessanter ist sie für Kunden – und je mehr Kunden dort suchen, desto mehr Anbieter wollen dort präsent sein. Deshalb gibt es eine Tendenz zur Monopolbildung.
Die Plattformökonomie prägt heute in vielen Bereichen den Alltag der Menschen. Sie wachen mit Musik von Spotify auf, checken die ersten Nachrichten auf Facebook, navigieren mit Google Maps durch die Stadt. Selbst wer nur für den Nachbarn ein Paket von Amazon annimmt, ist Teil dieser Ökonomie – vorbei kommt an den großen Plattformen heute kaum jemand mehr.
Und in Zeiten von Corona und Ausgangsbeschränkungen sind viele dieser Plattformen wichtiger denn je. Weil Restaurants die Vorortbewirtung mittlerweile untersagt ist, gilt das auch für Essenslieferdienste. Wobei noch nicht klar ist, ob sie von der Krise wirklich profitieren werden.
„In den vergangenen Tagen haben wir einen wesentlichen Anstieg der Anfragen durch Restaurants feststellen können“, sagt eine Sprecherin von Branchenführer Takeaway. Die Lieferung werde zur Alternative für Restaurants, die ihre Gäste nicht mehr in ihren Räumen bewirten dürften. Gleichzeitig hätten aber viele auf der Plattform aktive Restaurants entschieden, ihre Küchen ganz zu schließen, die Angebote entfallen. Für Zahlen sei es daher noch zu früh.
Viele Unternehmen der Plattformökonomie wie Facebook und Amazon haben den Ruf, ihre Mitarbeiter prekär zu beschäftigen – ohne Mitspracherechte. Und zudem auch Unmengen Daten über ihre Kunden zu sammeln.
Hinter dem Vorhaben von Lombardo und seinen Freunden steht deshalb die Frage: Lässt sich Plattformökonomie mit ihren häufig prekären Arbeitsbedingungen, ihrer Datensammelei und Intransparenz auch gut ausgestalten? Also korrekt, selbstbestimmt, gemeinschaftlich, vielleicht sogar fair, transparent, nachhaltig?
Doch zunächst ein Besuch beim Branchengrößten Takeaway. Es ist ein Wintertag vor Corona, Mittagszeit. Im sechsten Stock eines Bürogebäudes am Berliner Landwehrkanal öffnet sich die Fahrstuhltür fast im Minutentakt. Heraus kommen Menschen in dicken Jacken und Mützen, viele mit Fahrradhelmen, alle mit überdimensionierten würfelförmigen Rucksäcken, aus denen sie Papiertüten holen. Papiertüten mit fertig gekochten Mahlzeiten aus unterschiedlichen Restaurants.
In der Berliner Niederlassung der niederländischen Lieferplattform Takeaway bleiben viele Mitarbeiter:innen auch beim Mittagessen ihrem Arbeitgeber treu und gehen nicht in eines der Lokale der Nachbarschaft, sie lassen sich das Essen lieber bringen. In einem verglasten Raum sitzt Jörg Gerbig. Er ist einer der Gründer von Lieferando.
Seit sechs Jahren gehört Lieferando zu Takeaway, Gerbig ist vom Start-up-Gründer zu einem der Geschäftsführer eines mittlerweile über Europa hinaus expandierenden Unternehmens geworden. Ein Unternehmen, das in manchen Ländern gerade zu einem Anbieter mit marktbeherrschender Stellung wird.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Wenn Gerbig von den Gründungszeiten erzählt, klingt es, als würde er aus einem anderen Leben berichten. Wie er mit seinen beiden Mitgründern alles selbst gemacht habe – damals. Wie sie für die Akquise von Restaurant zu Restaurant gezogen seien, um zu fragen, ob diese mitmachten. Wie sie sich den Kundenservice tageweise aufgeteilt hätten. „Man hat da bis nachts um 12 Uhr gesessen und sich über jede Bestellung gefreut, die reinkam.“ Und wie sie bei technischen Fehlern der Pizza hinterhertelefoniert hätten.
Heute ist das anders. Gerbig muss nicht nachschauen, er hat alle Zahlen parat. 70 bis 80 Prozent der Deutschen bestellen mindestens einmal im Jahr Essen. Und: 13 Prozent der Deutschen haben in den vergangenen 12 Monaten über Takeaway bestellt. Das heißt: Da geht noch was für sein Unternehmen.
Gerbig ist aber in der günstigen Situation, dass in Deutschland gerade kein ernsthafter Konkurrent mehr am Markt ist. Einige hat Takeaway selbst geschluckt, wie Foodora, Lieferheld und Pizza.de, die zuletzt zu Delivery Hero gehörten. Andere haben einfach aufgegeben. Zuletzt Deliveroo. Das Unternehmen, für das Radkurier Lombardo arbeitete, zog sich im vergangenen Sommer aus dem deutschen Markt zurück.
Gerbig formuliert es so: „Wir konkurrieren vornehmlich mit dem Telefon.“ Mit dem etwas in die Jahre gekommenen Ansatz, eine Bestellung telefonisch bei einem Restaurant direkt aufzugeben. Das Marketingbudget dieses Ansatzes: überschaubar.
In seinem Jahresbericht 2019, der gerade veröffentlicht wurde, listet Takeaway die folgenden Zahlen auf: 19,5 Millionen aktive Nutzer:innen, 159 Millionen abgewickelte Bestellungen im vergangenen Jahr. Davon 69,5 Millionen in Deutschland, wie das Unternehmen auf Nachfrage mitteilt. In diesem Jahr dürfte die Zahl dann noch deutlich höher liegen.
Zum einen, weil die Übernahme des Konkurrenten Delivery Hero Deutschland erst im vergangenen April abgeschlossen wurde. Und zum anderen, weil sich als erste Prognose sagen lässt: Lieferdienste, und zwar sowohl solche, die Einkäufe aus dem Supermarkt bringen, als auch solche, die Mahlzeiten aus Restaurants liefern, könnten von den Bewegungseinschränkungen wegen Corona profitieren.
In welche Richtung sich die Branche letztlich entwickelt, ist aber noch offen. Ob eine Plattform wie Takeaway profitiert, weil jetzt alle online bestellen, oder verliert, weil die Menschen lieber hamstern und selber kochen, um Geld zu sparen, wird sich erst in den nächsten Monaten zeigen.
An den beiden Berliner Standorten von Takeaway arbeiten 700 Menschen, bis auf weniger als zehn sind sie nun ins Homeoffice umgezogen. Und die Fahrer:innen holen sich normalerweise zu Beginn ihrer Schicht ein Fahrrad in einem Hub ab und geben es nach Schichtende wieder zurück. Jetzt sind alle angehalten, wenn möglich eigene Räder zu benutzen, um das Ansteckungsrisiko zu verringern.
Takeaway ist ein klassischer Vertreter der Plattformökonomie. Das Unternehmen verdient sein Geld mit einer Plattform, die Dienste vermittelt und strebt damit eine marktbeherrschende Stellung an. Jörg Gerbig spricht in dem verglasten Raum deshalb über Netzwerkeffekte. „The winner takes it all“ ist dabei das Prinzip. Oder wie der Niederländer Jitse Groen, Gründer von Takeaway, es einmal formulierte: „Als Nummer zwei kann man kein Geld verdienen.“
Das Prinzip Wo-alle-hingehen-gehen-alle-hin funktioniert auf vielen Ebenen, nicht nur bei Restaurants und hungrigen Menschen. Auch bei Apartments und Urlauber:innen (Airbnb), bei Händler:innen und Käufer:innen (Amazon), bei Menschen, die Sex (Tinder) oder Unterhaltung suchen (Tiktok), bei Menschen mit und ohne Auto (Uber) oder bei solchen mit und ohne Do-it-yourself-Fähigkeiten (Etsy). Allerdings sind die verschiedenen Plattformen jetzt auch auf ganz unterschiedliche Weise von Corona und den Folgen betroffen (siehe Kasten).
Wegen des Netzwerkeffekts setzen Startups, die nach der Marktführerschaft streben, in den ersten Jahren auf aggressives Wachstum. Und dafür braucht es viel Risikokapital – sich bekannt machen, Kunden gewinnen, zum Magneten werden, der alle anzieht. Gewinn ist in dieser Phase nachrangig. Denn der lässt sich leicht generieren, wenn man erst Quasimonopolist ist.
Für die Gesellschaft hat dieses Modell aber mehrere Haken. Monopole können Preise diktieren und die Arbeitsbedingungen prägen, ebenso die Konditionen in Sachen Datenschutz, Geschäftsbeziehungen, Standards. Weil kaum ein Händler mehr an Amazon vorbeikommt, kann der US-Konzern sie tanzen lassen wie Marionetten. Weil Facebook als Onlinenetzwerk immer noch unangefochten ist, lesen Nutzer:innen eine Änderung der Datenschutzbestimmungen nicht einmal durch – was sollen sie machen, sie haben doch eh keine Wahl.
Und wenn eines Tages eine Plattform – egal ob Takeway oder vielleicht ein Amazon-Dienst – den Lieferdienstmarkt beherrscht, dann setzt dieses Unternehmen Maßstäbe für diesen Sektor. Denkbar wäre zum Beispiel, dass es Einfluss auf die Preis- oder Angebotsgestaltung der Restaurants nimmt, genauso auf deren Öffnungszeiten. Dass es Daten von Nutzer:innen an andere Unternehmen verkauft. „Guten Tag, Sie bestellen doch immer das glutenfreie Essen. Wir hätten da ein paar passende Nahrungsergänzungsmittel für Sie.“
Das ist das große Bild, die Systemkritik. Doch für Stefano Lombardo und seine Freunde war bei der Gründung ihrer Lieferdienstplattform Kolyma 2 etwas anderes wichtig: Selbstbestimmung. Deshalb war er ein Deliveroo-Fan, obwohl die Gewerkschaften das Unternehmen kritisierten. Denn die Fahrer:innen waren dort nicht wie bei Takeaway/Lieferando angestellt, sie arbeiteten als Freelancer.
Aber genau das war auch einer der Kulturkonflikte in der Wahrnehmung einiger Beteiligter: Die Takeaway/Lieferando-Fahrer:innen als die bequemen Angestellten, die sich nicht beeilen mussten, schließlich hatten sie ihren Stundenlohn sicher. Und die schnellen Flitzer:innen von Deliveroo, die durch den kreativen Umgang mit dem Stadtverkehr Stundenlöhne einfuhren, von denen Lieferando-Fahrer:innen nur träumen konnten. Die keine Arbeitskleidung mit Corporate-Design tragen mussten. Etabliert versus cool. Langsam versus schnell. Fremdbestimmt versus selbstbestimmt.
Mit der Gründung von Kolyma 2 sollte es aber nicht um Konkurrenz zu Takeaway gehen, das hätte auch Stefano Lombardo als unrealistisch abgelehnt, sondern um etwas Kleineres. Und zugleich etwas viel Größeres. Lombardo beschreibt es so: „Als Kollektiv wollten wir alles gleichberechtigt machen, und alle sollten mitentscheiden.“
Kann das funktionieren in der Plattformökonomie? Ela Kagel würde sagen: Ja. Sie sitzt in einem Raum in Berlin-Kreuzberg, der Supermarkt heißt, aber mit einem klassischen Lebensmittelhändler so viel zu tun hat wie ein Kollektiv mit einem Risikoinvestor. Der Supermarkt ist eine Art Netzwerkpunkt weit über Kreuzberg hinaus und Gründerin Ela Kagel, Netzwerkerin, Beraterin und Digitalstrategin, sitzt an einem großen Holztisch, vor sich eine Tasse Tee, hinter sich einen Flipchart mit Wörtern, die auch hinter Jörg Gerbig stehen könnten. „Design Thinking“.
Kagel sagt: „Wir brauchen eine komplett andere Sicht auf Wirtschaft, damit so etwas wie Kolyma 2 funktionieren kann.“
Wenn sie über alternatives Wirtschaften spricht, kann ein Lexikon hilfreich sein. Sie sagt Sätze wie diesen: „Das Multi-Stakeholder-Modell von Elinor Ostrom beschreibt sehr gut, wie Coops es schaffen können, erfolgreich zu sein.“ Also nacheinander: Coops sind Unternehmen, die kooperativ wirtschaften. Kooperativ, das heißt, alle Mitglieder können auch mitentscheiden. Egal ob sie nun Mitarbeitende, Kund:innen oder Unterstützer:innen sind.
Elinor Ostrom war eine US-amerikanische Politikwissenschaftlerin, die als erste Frau den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften bekam. Sie beschäftigte sich unter anderem mit dem gemeinschaftlichen Nutzen von Ressourcen – etwas, das unter dem Begriff Allmende bekannt ist. Und sie formulierte, wie Unternehmen ohne Risikoinvestoren, ohne Business Angels und ohne dass ihre Gründer:innen ein bequemes Finanzpolster mitbringen, funktionieren können. Nämlich mit der Unterstützung von allen relevanten gesellschaftlichen Akteur:innen. Von der Bürgermeisterin über den Vermieter bis hin zum einzelnen Bürger.
Stefano Lombardo startete also an einem Freitag im August – mit zwei Restaurants im Portfolio, zwei, die er selbst mochte. Und die er mit einem Freund, ebenfalls ehemaliger Deliveroo-Fahrer, selbst akquiriert hatte, genau wie Lieferando-Gründer Gerbig in seiner Anfangszeit. Und mit einem eher übersichtlichen Plan darüber, was die nächsten Tage bringen würden. Am ersten Wochenende hatten sie fünf Bestellungen, zwei waren von Freunden. „Es war alles sehr improvisiert“, sagt Lombardo. Ziel sei gewesen: jedes Wochenende eine Bestellung mehr. Es kam dann anders.
Lombardo und Kagel sind nicht die Einzigen, die die Idee haben, dass es Plattformen doch auch irgendwie in besser geben muss. Einige Versuche, das umzusetzen, gibt es bereits: Fairmondo etwa, das eine Alternative bieten will zu Amazon, schon seit Jahren aber in einer sehr übersichtlichen Nische bleibt. Jünger und vielleicht vielversprechender: Fairbnb, das mittlerweile in fünf Städten beim Wohnungsvermieten hilft – aber anders als Airbnb mit lokalen Behörden zusammenarbeitet und die Hälfte der Provision an lokale Projekte spendet. Oder der Streamingsdienst Resonate, der mit dem Motto „Play fair“ eine Alternative zu Spotify sein will.
„Viele Menschen merken mittlerweile, dass die herkömmliche Plattformökonomie undemokratisch ist und die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinandertreibt“, sagt Ela Kagel.
Slack, Facebook, Spotify. Match, Uber, Takeaway. Wer sich die Plattformen anschaut, stellt fest, dass sie eines gemeinsam haben: Sie müssen kaum in materielle Güter investieren wie noch die produzierende Industrie. Sie können also sehr viel Geld für das ausgeben, was sie in die marktbeherrschende Stellung bringt: Marketing. Klassischerweise läuft es daher so: Das Unternehmen steckt so lange Investorengelder in die Neukundengewinnung, bis es quasi ein Monopolist ist. Konkurrenten, die zu vielversprechend werden, versucht man, zu übernehmen. Jörg Gerbig sagt daher auch: „Für uns ist die größte Herausforderung Wachstum.“
Stefano Lombardo hat kein Budget für Werbung, als er im August mit Kolyma 2 loslegt. Er hat einen Twitter-Account, einen Instagram-Account, einen bei Facebook. Und Freunde. Und offenbar gibt es eine Überschneidung zwischen denen, die sich Essenslieferungen leisten können, und denen, die ein aus dem Boden gestampftes Kollektiv, das zwar teurer ist und schlechter organisiert als der Marktführer, sympathisch finden. Leute, die bewusst dort bestellen. Und Trinkgeld geben. Und es weiter empfehlen, an Freunde und Arbeitskolleg:innen.
Die Zahl der Bestellungen steigt. Restaurants klopfen an, neue Fahrer:innen kommen dazu, die Zahl der Bestellungen steigt weiter. Irgendwann sind es etwa 60 Menschen, die in irgendeiner Form bei Kolyma 2 mitmachen. Die Essen ausliefern oder am Dispatching arbeiten, also daran, die Kurier:innen möglichst effizient von Restaurant A zu Kunde B und danach zu Lokal C zu schicken.
Und mittendrin Lombardo, der versucht, den Überblick zu behalten, Konflikte zu schlichten, eine Struktur reinzubringen. Dabei wollte er eigentlich nur Fahrrad fahren. Es passieren damals merkwürdige Sachen, erzählt Lombardo im Rückblick. Dynamiken im Team, die nicht gerade dazu beitragen, dass es eine gute, gleichberechtigt arbeitende Gemeinschaft ist.
Manche hätten sich geweigert, beim Organisatorischen mitzuhelfen, und nur Lieferungen gemacht. Das Problem: Nur wer liefert, habe auch Geld verdient, eine Umlage habe gefehlt. Dazu seien Rivalitäten zwischen verschiedenen Gruppen entstanden, schlechte Stimmung, Überarbeitung. „Wir haben sieben Tage die Woche gearbeitet, zwölf Stunden am Tag“, sagt Lombardo.
Im Oktober versucht Ela Kagel noch zu retten, was fast nicht mehr zu retten ist. Sie organisiert ein Treffen, bei dem sie nach dem Ostrom'schen Konzept das machen will, was helfen kann: die Stakeholder zusammenbringen. Sie sollen das schaffen, was Lombardo und seine Kolleg:innen bislang vergeblich versucht haben: aus einem interessanten Projekt mit Potenzial ein auch auf längere Sicht laufendes Unternehmen zu machen. Einen Businessplan aufstellen, Fördermöglichkeiten suchen, politische Unterstützung ausloten.
„Wenn wir eine klassische Unternehmensberatung wären“, sagt Kagel, „dann hätten wir gesagt, die haben keine Chance.“ Improvisierte Organisation, prekäre Arbeitssituation für einen Teil der Mitarbeitenden, interne Konflikte. Und dann ist die Gewinnmarge bei Essenslieferungen ohnehin klein. Kann da noch etwas zu retten sein? Es wäre leicht gewesen, zu sagen: Lasst es einfach bleiben. Kooperatives Unternehmen gut und schön, aber prekäre Arbeitsbedingungen und interne Konflikte kann man bei anderen Kurierdiensten auch haben. Warum also braucht es noch einen weiteren Lieferdienst?
„Natürlich, dass Kolyma 2 die Leute fair behandelt und es schafft, dem ganzen Plastikberg in dem Geschäft etwas entgegenzusetzen, müssen sie erst noch beweisen“, sagt Kagel. Aber kollektiv wirtschaftende Unternehmen hätten all den GmbHs und AGs, den UGs und Limiteds, die in Vorständen und Führungsebenen organisiert sind, eines voraus: „Sie geben ihren Gewinn an die Gemeinschaft zurück.“ Dadurch werde die Asymmetrie abgebaut, die sonst lautet: Die oben haben mehr Geld als Arbeit, die unten mehr Arbeit als Geld.
Doch Kolyma 2 schafft es nicht. Am 4. November 2019 stellen sie ihr Geschäft ein. Zunächst einmal, das ist der Plan. „Winterschlaf“ steht auf der rudimentären Retro-Website, die sie für ihre Kund:innen gebaut haben. Doch statt zu schlafen, macht Lombardo weiter. „Ziel des ersten Anlaufs war es, zu zeigen, dass es möglich ist, einen Lieferservice in Selbstverwaltung aufzubauen“, sagt er. „Jetzt geht es darum, das auch wirtschaftlich und nachhaltig zu machen.“
Lombardo trifft sich zum Beispiel mit Magdalena Ziomek. Sie ist selbst Gründerin und hat eine Genossenschaft aufgebaut, die eines der zentralen Probleme von Selbstständigen, von Kleinunternehmer:innen und allen, die mit ihren Arbeitsformen irgendwie aus dem klassischen Raster herausfallen, lösen soll: Sie können sich über die Genossenschaft anstellen lassen, führen einen Teil ihrer Einnahmen ab und bekommen im Gegenzug bezahlbare Versicherungen. Die Genossenschaft unterstützt beim Administrativen, etwa bei der Rechnungsstellung. Ela Kagel sagt über Ziomek und die Smart-Genossenschaft: „Sie hacken das System, und zwar auf eine gute und legale Art und Weise.“
Vielleicht ist Lombardo auch einfach an einem Punkt, an dem Jörg Gerbig nach der Gründung von Lieferando war. Als er und seine beiden Mitgründer sich die Kundenbetreuungsschichten aufteilten, der Pizza hinterhertelefonierten. An dem Punkt, an dem man auch für sich selbst entscheiden muss: Ist es das? Und wenn ja: Soll das nur etwas für mich selbst sein oder will ich ein Unternehmen aufbauen, das es auch dann noch gibt, wenn ich selbst nicht mehr Burger in Wärmeboxen ausliefern möchte?
Lombardo und Gerbig nähern sich auf jeden Fall gerade wieder an – unabsichtlich. Denn mit dem Coronavirus zeichnen sich auch Veränderungen in der Logistikbranche ab. Große wie die, dass die Lieferfenster von Lebensmittellieferdiensten und Drogerien über Wochen im Voraus ausgebucht sind und Amazon als eines der größten Plattformunternehmen 100.000 neue Jobs ausschreibt, um die gestiegene Nachfrage bewältigen zu können. Und kleine Veränderungen. Für Takeaway und Kolyma 2 heißt eine davon: kontaktlose Lieferung. Die Kurier:innen stellen die Lieferungen vor die Tür, Bezahlung, Trinkgeld, alles bargeldlos.
Eine steigende Nachfrage von Restaurants wegen Corona bemerkt auch Lombardo zurzeit. Im Februar hatte er gerade mit zwei Mitstreiter:innen einen zweiten Anlauf gestartet, zunächst am Wochenende. Doch nun, wo gilt, Verkauf nur außer Haus, fragten Restaurants, ob sie auch unter der Woche liefern könnten. Eine Handvoll seien es täglich, erzählt Lombardo Ende März. Er achtet beim Fahren und Ausliefern jetzt darauf, genug Abstand zu anderen zu halten. Jeden Abend wäscht er seine Kleidung, auch Kappe und Handschuhe.
Er will es diesmal mit seinem Lieferdienst anders machen als beim letzten Mal. Bewusst klein denken, einen Schritt nach dem nächsten, sich nicht überrollen lassen. Und sein nächster Schritt könnte sein: Einkäufe liefern. Nicht von Rewe oder Edeka, das machen die selber und mit einer ganz anderen Logistikinfrastruktur. Sondern von kleinen Bioläden oder Biosupermärkten. „Angesichts der aktuellen Situation ist das sinnvoller, als einzelne Mahlzeiten zu liefern“, sagt Lombardo mit Blick auf die Ausgangsbeschränkungen.
Ela Kagel dachte schon vor Corona in eine ähnliche Richtung: „Die könnten ein ganz neues Mobilitätsnetzwerk aufbauen“, sagt sie. Ihr schwebt ein Dienst vor, der weite Teile der privaten Logistik abnimmt – autofrei natürlich. Jemanden per Fahrradrikscha zum Arzt fahren etwa oder das Altglas wegbringen. Kagel ist überzeugt: „Darin liegt ein Riesenpotenzial, das irgendwann ausgeschöpft werden wird.“
Vielleicht ist dann ja mal nicht eine investorenfinanzierte Plattform die erste. Sondern ein kleines Kollektiv, in dem es vor allem um Selbstbestimmung geht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Rekordhoch beim Kirchenasyl – ein FAQ
Der Staat, die Kirchen und das Asyl
Preise fürs Parken in der Schweiz
Fettes Auto, fette Gebühr