Essayist Max Czollek über Chemnitz: „Eskalation mit Ansage“

Max Czollek hält den Integrationsdiskurs für falsch. Die Gesellschaft brauche ein neues Modell. Er plädiert für eine „Gesellschaft der radikalen Vielfalt“.

Ein Mann mit Sonnenbrille hält ein Plakat mit der Aufschrift „What is this Heimat you keep talking about“ hoch

Demonstrant mit Verständnisfrage Foto: dpa

taz: Herr Czollek, Spiegel Online titelte am Sonntagabend zum rechtsextremen Aufmarsch in Chemnitz: „Alternative für Deutschland: Wer sie wählt, wählt Nazis“. Wie richtig finden Sie diese Formulierung?

Max Czollek: Die AfD ist keine Nazi-Partei im klassischen Sinne. Historisch ist es unscharf, sie nationalsozialistisch zu nennen. Was ich aber sinnvoll finde, ist, darüber nachzudenken, welche politischen Traditionen sich in der AfD bahnbrechen. Und ich würde das als neovölkisches Programm bezeichnen.

Was meinen Sie mit „neovölkisch“?

Es geht um Homogenität, aber diese Homogenität wird nicht mehr über „Rasse“ gedacht, wie zur NS-Zeit, sondern vielmehr über Kultur, über das Abendland, über Religion – über eine bestimmte Zuspitzung der Arroganz der „Leitkultur“ gewissermaßen.

Den „Leitkultur“-­Begriff verwenden aber viele Politi­ker*innen, die nicht der AfD angehören. Das kritisieren Sie auch in Ihrem gerade erschienenen Buch „Desintegriert euch“. Indem Begriffe wie „Heimat“ und „Leitkultur“ auch in linken Kontexten übernommen und normalisiert werden, erfolgt eine Entsolidarisierung mit jenen, die von diesen Begriffen ausgegrenzt werden, schreiben Sie. Was steht dieser Solidarität im Weg?

Ich glaube, die Antwort auf diese Frage erzählt viel über das Adjektiv „deutsch“, welches ich in meinem Buch verwende, um die Position der Dominanz­kultur in diesem Land zu bezeichnen. Was bedeutet es, eine „deutsche“ Perspektive zu haben? Es bedeutet, vor allem sich selbst zu sehen und wie ­selbstverständlich davon auszugehen, das wäre die einzige ­Perspektive, die es in diesem Land gibt. Und das betrifft nicht nur Konservative und Rechte. Teil dieser deutschen Per­spektive ist der Glaube, man würde ohne Heimat und Leit­kultur keine Mehrheiten gewinnen können. Doch wenn man sich die demografische Entwicklung mal anschaut, stimmt das nicht.

Meinen Sie, weil ein Viertel der Bevölkerung Deutschlands einen Migrationshintergrund hat?

Genau. Das, was Sarrazin nervös macht, stimmt mich geradezu optimistisch. Dazu kommen noch die vielen Menschen ohne Migrationsgeschichten oder entsprechende Diskriminierungserfahrungen, die einfach keine Lust auf diese ganze „Heimat“-Sache haben. Es gibt ja keine geschlossenen Blocks, deren politische Haltungen qua Identität vermittelt sind. Ich bin überzeugt, dass ein erheblicher Teil der Gesellschaft politisch aktivierbar wäre, wenn sich eine Linke dazu durchringen würde, zu sagen: dies ist eine vielfältige Gesellschaft. Der Schutz der Staatsmacht gilt für die ganze Bevölkerung. Alle gehören dazu, auch wenn sie keine Tore schießen.

Glauben Sie, dass der rechtsextreme Aufmarsch der vergangenen Woche in Chemnitz wenigstens helfen wird, den gesellschaftlichen Blick auf die AfD nachhaltig zu verändern? Also weg von „besorgten Bürgern“ hin zu einer ernsten Gefahr für unsere Demokratie?

Schön wär’s. Aber diese Gefahr hätte auch schon früher erkannt werden können. Und wurde es nicht. Ich frage mich, warum Leute über die Hetz­jagden in Chemnitz so überrascht sind. Das ist doch eine Eskalation mit Ansage. Nicht nur der NSU, auch die regelmäßigen Angriffe auf Geflüchteten­unterkünfte und ihre Bewohner und Bewohnerinnen – allein 2017 wurden gut 250 solcher Angriffe verzeichnet, das ist fast ein Angriff pro Tag.

Wird die Dimension dieses strukturellen Problems nicht auch heruntergespielt, indem Rechtsextremismus zu einer sächsischen Sache gemacht wird?

Rechtsextremismus ist ein gesamtdeutsches Problem. Aber speziell in Sachsen organisieren sich Rechte seit Jahrzehnten und die regierende CDU sieht weg oder macht sogar mit wie in Bautzen. Dieses Problem muss konkret benannt werden. Angesichts dessen von Rufschädigung seines Bundeslandes zu sprechen, wie es Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer tut, halte ich für ­zynisch. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, um über Imageprobleme zu sprechen, sorry. Das Thema ist: Rechte machen Jagd auf Menschen, die anders aussehen, als sie sich in ihrem rassistischen Weltbild Deutsche vorstellen. In Sachsen.

Welche Rolle spielen bei der Radikalisierung in Sachsen soziale Probleme?

Die spielen eine immense Rolle. Gleichzeitig muss man aber auch die nicht bewältigten politische Denktraditionen reflektieren. Und zwar nicht nur in Ostdeutschland. Das Schockierende ist doch, dass man mit neovölkischer Propaganda ein Fünftel der Bevölkerung mobilisieren kann. Die AfD ist in derzeitigen Umfragen zweitstärkste Kraft in Sachsen! Frustration hin oder her. Die Wähler*innen der NSDAP waren zum Teil sicherlich auch frustriert. Na und? Das zentrale Problem ist, dass es für viele Deutsche offenbar keine Scham und keine Barrieren gibt, ihr Kreuz hinter so einem Konzept zu machen.

wurde 1987 in Berlin geboren. Er besuchte die Jüdische Oberschule Berlin, studierte Politikwissenschaften und promovierte am Zentrum für Antisemitismusforschung. Mit Sasha Marianna Salzmann kuratierte er 2016 „Desintegration. Ein Kongress zeitgenössischer jüdischer Positionen“. Czollek schreibt Lyrik und Essays und ist Mitherausgeber der Zeitschrift Jalta – Positionen zur jüdischen Gegenwart.

„Desintegriert euch!“, Hanser 2018, 208 Seiten, 18 Euro

Als einen ersten Schritt, dieses Denken zu überwinden, nennen Sie in Ihrem Buch die Emanzipation vom Integrations­diskurs – die Desintegration. Würden Sie sagen, dass dieser Diskurs, der ja ganz klar ein „Wir“ und „die Anderen“ konstruiert, den Boden bereitet für Vorfälle wie in Chemnitz?

Ja, das Integrationsdenken kann das völkische Denken nicht verhindern. Es erzeugt keinerlei Barriere in diese Richtung. Das zeigt sich auch am Umgang des demokratischen Parteienspektrums mit der AfD. Es ist kein Zufall, dass die Gegenstrategien äußerst bescheiden ausfallen.

Welche Gegenstrategien erkennen Sie da?

Auf der einen Seite gibt es die Strategie der Bagatellisierung, Kretschmer-Style: „Das sind nur ein paar Chaoten, damit haben wir nichts zu tun.“ Die andere Strategie ist die der Eingemeindung. Anstatt sich konzeptionell abzugrenzen von der AfD, sollen ihre Wähler*innen nun über ein Heimatministerium und eine linke Sammelbewegung reingeholt werden.

Ist so was überhaupt möglich?

Es braucht sehr viel Optimismus, um so etwas zu glauben. Historisch ist das jedenfalls sehr unwahrscheinlich. KPD und SPD haben schon in den zwanziger Jahren probiert, das völkische Denken der NSDAP in ihr eigenes Programm einzubinden – und waren damit maximal erfolglos.

Wie könnte eine erfolgreiche Strategie aussehen?

Wir müssen die Grundpfeiler des neovölkischen Denkens weghauen – Homogenisierung, kulturelle Dominanz. Wir brauchen neue Modelle, die Gesellschaft nicht mehr vom Integrationsparadigma her denken. Das hat den angenehmen Effekt, das wir damit gleichzeitig näher an die gesellschaftliche Realität heranrücken würden. Denn in der Realität gibt es keine dominante deutsche Leitkultur. Im Gegenteil! Die deutsche Kultur ist unübersehbar angereichert mit Einflüssen von Migrant*innen und anderer marginalisierter Gruppen. Was für eine langweilige Veranstaltung wäre denn die deutsche Kunst, das Theater, die Musik ohne diese Einflüsse. Ich meine, selbst Helene Fischer ist Russlanddeutsche.

In Ihrem Buch plädieren Sie immer wieder für einen Ort der radikalen Vielfalt. Wie können wir diese Vielfalt, die für viele von uns existenziell ist, verteidigen?

Wir müssen Position beziehen. „Desintegriert euch“ ist ein Versuch, all denen, die keine Lust auf ein Deutschland nach AfD-Ideal haben, zu kommunizieren: Lasst uns diese Gesellschaft nicht aufgeben. Lasst uns nicht einfach sagen: ‚Was für ein kartoffeliger Mist läuft hier eigentlich?‘, sondern dem etwas Eigenes entgegenstellen. Es ist ja nicht alles nur Absturz. Zeitgleich mit dem Aufstieg der AfD beobachten wir ja beispielsweise auch den Aufstieg von Migrant*innenkindern, die nun gesellschaftliche Diskurse mitgestalten, in der Kulturbranche, an der Uni. Die Auseinandersetzung mit den neovölkischen Deutschen ist noch nicht verloren. Sie hat kaum richtig begonnen.

In letzter Zeit wird häufig davor gewarnt, das Heute mit den zwanziger Jahren zu vergleichen. Was denken Sie darüber?

Na ja, es wäre ja absurd zu glauben, man würde dasselbe erleben wie damals. Aber die Frage, wo sich Vergangenheit und Gegenwart reimen, ist zentral, um zu verstehen, was hier gerade passiert. Diese Frage nach Kontinuität stellt man ungern, weil man die letzten Jahre ja immense emotionale Ressourcen investiert hat, damit man endlich wieder die Deutschlandfahnen rausholen kann. Was derzeit auf dem Spiel steht, ist demnach für viele gar nicht so sehr die Demokratie, sondern das Selbstbild Deutschlands. Dass die hochgeliebte Normalisierung flöten geht, die man sich so mühsam aufgebaut hat. Dieses Festhalten am normalisierten Selbstbild müssen wir erst mal überwinden, damit wir überhaupt dazu kommen, die Renaissance völkischen Denkens in diesem Land anzugehen.

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