Erzählband von Eva Schmidt: Blicke aus dem Fenster
In „Die Welt gegenüber“ versuchen Frauen aus den Care-Berufen der Einsamkeit zu entkommen. Eva Schmidt wählt dafür eine ruhige, unprätentiöse Prosa.
Über den Blick aus dem Fenster schrieb Robert Walser einmal, er erzeuge in uns eine Sehnsucht. Und sehnsüchtig sein heiße „nicht wissen, wohin man möchte“. Entzündet sich dieses diffuse Verlangen aber einfach so? Oder vor allem am Anblick anderer Menschen, den das Medium Fenster zugleich vermittelt, wie es sie auf Distanz hält? Letzteres lässt jedenfalls Eva Schmidts Erzählung „Die Störung“ vermuten.
In ihr hat die Hauptfigur, Ehefrau und Mutter zweier erwachsener Töchter, buchstäblich alles getan, um einmal ohne das Wissen ihrer Familie ein „ungestörtes Wochenende“ zu genießen. In einer einsam gelegenen Hütte irgendwo in den verschneiten Wäldern nahe Kanada quartiert sie sich ein. Ihrem nur um sich selbst kreisenden Mann hat die Psychotherapeutin die Teilnahme an einer Konferenz aufgetischt.
Ganz so, als ginge es bei ihrem Vorhaben um einen Seitensprung und nicht darum, „einfach mal ein paar Tage allein zu sein“, ohne dass sich jemand in ihr Leben einmischt.
Als sie plötzlich von draußen Geräusche hört, werden zunächst Bedrohungsängste getriggert. Doch dann steht die Frau, die unbedingt allein sein wollte, am Panoramafenster und verfolgt gebannt, wie sich in der Winteridylle eine Menschengruppe über einen zugefrorenen See bewegt, langsam und zielstrebig wie auf einer Expedition. Ein Aufbruch ins Unbekannte, von dem offen bleibt, ob ihm die Frau am Fenster folgen wird.
Der Fensterblick als Leitmotiv
Wie schon in früheren Werken hat Eva Schmidt auch in ihrem neuen Buch, einem Erzählband, den Fensterblick zum Leitmotiv ihres Figurenpersonals gemacht. Programmatisch ist schon der Titel des Bandes: Denn die „Welt gegenüber“ ist es, die in den Protagonist*innen der österreichischen Autorin, meist älteren Frauen aus Care-Berufen, die Hoffnung wach werden lässt, der Einsamkeit doch noch zu entkommen.
In „Die Nacht“ beobachtet die Ich-Erzählerin von ihrem Pensionszimmer in Brighton aus das Paar in der Ferienwohnung gegenüber, registriert in einem „Zustand unerträglicher Wachheit“ eine Handbewegung hier, eine liebevolle Umarmung dort.
Eva Schmidt: „Die Welt gegenüber“. Jung und Jung Verlag, Salzburg 2021, 152 Seiten, 22 Euro
„Es waren nicht viel mehr als Andeutungen von Leben, kleine Ausschnitte von Alltäglichem, zusammengesetzt aus kurzen Auftritten und spärlichen Gesten mir vollkommen fremder Menschen, die meine Aufmerksamkeit auf sich zogen.“ Zuzusehen, wie gegenüber eine fremde Frau mit ruhigen, zupackenden Handgriffen das Frühstück anrichtet, vermag sogar die düsteren Gedanken zu verscheuchen, die der Ich-Erzählerin allnächtlich „wie eine Horde von Mäusen“ durch den Kopf wuseln.
Die zwölf Erzählungen des Bandes sind von unterschiedlicher Länge und unspektakulär selbst da, wo sie von Diebstahl, Stalking oder rechter Gewalt handeln. Ihre Protagonist*innen zeichnen sich durch eine Gemeinsamkeit aus: Fremdes Leben übt auf sie eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus.
Sympathisch ruhige, unprätentiöse Prosa
Charakteristisch für Schmidts Texte ist dabei eine sympathisch ruhige, unprätentiöse Prosa, die mit wenig Aufwand Atmosphäre schafft und vieles der Einbildungskraft der Leser*innen überlässt wie das Motiv des Mannes, der in „Das Fehlende“ einen Jungen aus schwierigen Verhältnissen auf eine leer stehende Almhütte entführt.
Auf formale Mätzchen verzichtet die 68-jährige Bregenzerin weitgehend, die es 2016 mit ihrem Roman „Ein langes Jahr“ auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises schaffte. Und sofern sie doch einmal etwas so Avanciertes wie etwa Perspektivwechsel einsetzt wie in „Der Mann von der Tankstelle“, worin die Gutmütigkeit eines einsamen Gärtners von einer jungen Ausreißerin ausgenutzt wird, verheddert sie sich prompt im Hin und Her.
Umso eindrucksvoller ist es, wie es der Autorin in ihren Texten ein ums andere Mal gelingt, die stillen Dramen erkennbar werden zu lassen, die sich unter der Alltagsoberfläche abspielen.
„Doch es gab nicht viel zu erzählen“, heißt es in „Vielleicht nach Skagen“, der wohl stärksten Erzählung des Bandes, als die beste Freundin es vor Neugier kaum aushält, nachdem die Protagonistin Anna eines Tages einen alleinstehenden Mann als Untermieter bei sich einziehen lässt.
Hunden kommt die Rolle stummer Nebenfiguren zu
Und richtig, die zart-distanzierte Freundschaft, die sich zwischen der pensionierten Hebamme Anna und dem wortkargen, ständig erschöpft dreinblickenden Theaterschauspieler Morten anzubahnen scheint, ist im Grunde ereignislos. „Er sei gern mit ihr zusammen, erwiderte er, wandte sich aber gleich wieder ab“: Mit diesem Satz auf einer Reise ist auch schon der Punkt maximaler Annäherung zwischen den beiden markiert.
Zu diesem Zeitpunkt ist längst klar, dass Morten schwer krank ist. Eine „unerhörte Begebenheit“ ist jedoch, mit welch fast schon unheimlicher Gefasstheit die Protagonistin sich nach Mortens Tod um ihn und seinen Nachlass kümmert – als hätte sie längst damit gerechnet, dass alles so und nicht anders enden würde.
Hunden kommt in dieser wie in anderen Erzählungen Schmidts die Rolle stummer Nebenfiguren zu, sie tragen so schöne Namen wie Myschkin, Igor oder Baldur. Mal dienen sie als Trostspender oder Signalgeber, ob einem Fremden zu trauen ist, mal wie in „Die Nacht, in der Jessica über das Seil stolperte“ als Vorwand, um stehen zu bleiben und das Treiben der neuen Nachbar*innen zu beobachten.
Sofern man es nicht längst wie die Ich-Erzählerin Olga, eine ehemalige Krankenschwester, vom Badezimmer aus im Blick hat, dabei mühsam auf einem Hocker balancierend, als böte das Fenster Fernseh- und Familienersatz in einem.
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