Erste Uni-Professorin Deutschlands: Die widersprüchliche Pionierin Mathilde Vaerting
Deutschlands erste Uni-Professorin wurde von Kollegen angefeindet und schließlich von den Nazis rausgeschmissen. Ihre Gedanken sind bis heute aktuell.
Statt – wie bei Antrittsvorlesungen üblich – in der großen, feierlichen Aula der Friedrich-Schiller-Universität, stand Vaerting an diesem Samstag in einem kleinen Hörsaal. Wenige waren gekommen, ein großes Presseecho über die erste Professorin blieb aus. Etwa zehn Jahre lehrte Vaerting in Jena. Sie wurde angefeindet, weil sie eine Frau war – aber nicht nur deshalb.
Mathilde Vaerting sei eine „sehr, sehr widersprüchliche“ Frau gewesen, sagt heute Margret Kraul. Wie Vaerting ist sie Professorin für Pädagogik, allerdings an der Uni in Göttingen. Sie beschäftigt sich seit mehr als 30 Jahren mit Vaertings Geschichte. „Für mich zeichnet sie sich durch eine angestrengte Ernsthaftigkeit aus“, sagt Kraul. Getroffen hat sie Vaerting nie, aber daraus, wie sie Briefe formulierte, sich in ihren Schriften ausdrückte oder wie andere über die erste Uni-Professorin urteilten, schließt Kraul das: „Ich kann sie mir nicht als locker vorstellen.“
Geradezu radikal habe Vaerting ihre Überzeugungen vertreten, war durchdrungen vom Wunsch nach Gleichberechtigung. Sie identifizierte Machtgefälle zwischen Generationen, „Rassen“ und Geschlechtern. Ihren Glauben. Ihre Überzeugungen habe sie auch in der Auseinandersetzung gegen große Widerstände beibehalten. Allerdings gebe es eben auch „Schattenseiten“ bei Vaerting, sagt Kraul. Etwa ihre aus heutiger Sicht unwissenschaftlichen Äußerungen zu „Eugenik“ nach dem Ersten Weltkrieg. Ebenso ihre „Radikalität – etwa das Ablehnen jeglichen Auswendiglernens – die keinerlei Kompromisse zugelassen habe“.
Vaerting hinterfragte Geschlechterordnung
Als Vaerting 1923 an die Uni Jena kam, waren ihre Ansichten zur „Eugenik“ nicht der zentrale Problempunkt. Ihre Professur galt als „Zwangsprofessur“. Nicht die Uni selbst hatte sie berufen, sondern der SPD-Bildungsminister Max Greil. In Thüringen regierte zu der Zeit eine Koalition der Sozialdemokraten mit der KPD. Um die Reformpädagogik zu stärken, berief diese neben Mathilde Vaerting auch Peter Petersen an die Uni-Jena. Für die Universitätsangehörigen ein Affront. „Nur, dass man sich bei Herrn Petersen an der Uni recht schnell damit abgefunden hat“, erzählt Kraul. Vaertings Lehre hingegen – sie stellte die herrschende Geschlechterordnung infrage – war umstritten. Sowohl sie selbst als Frau als auch ihre Thesen waren ihren Kollegen offensichtlich ein Dorn im Auge.
Die Vorstellung, Frauen seien weniger intelligent, war damals noch weiter verbreitet als heute. Und genau dagegen argumentierte Vaerting in ihren Schriften. Sie betrieb, was mittlerweile vielleicht Gender Studies heißen würde, und kritisierte etwa pädagogische Erhebungsmethoden, die männliche Probanden bevorzugten.
Bis heute dominieren Männer die Wissenschaft. Auch wenn der Frauenanteil unter Professor:innen in den vergangenen 10 Jahren um 8 Prozentpunkte gestiegen ist, lag er laut Statistischem Bundesamt 2023 nur bei 29 Prozent. Je nach Fach, gab es dabei Unterschiede: in den Geisteswissenschaften waren 43 Prozent weiblich, bei den Ingenieurwissenschaften 16 Prozent.
Besonders verglichen mit der Zahl der Hochschulabsolventinnen, die seit Jahren konstant die Hälfte ausmachen, ist der Anteil an Professorinnen immer noch niedrig. Je höher die Stufe der akademischen Karriere, desto niedriger der Frauenanteil.
Vorwurf „Feminismus“
Als Margret Kraul 1986 ihre Habilitation in Hannover abschloss und feststand, dass sie demnächst eine Antrittsvorlesung halten musste, suchte sie nach Inspiration. Wer war die erste Frau, die eine Professur für Pädagogik in Deutschland antrat? Sie fand den Namen Mathilde Vaerting – doch nicht viel mehr: „In Kürschners Deutschem Gelehrtenkalender etwa standen unterschiedliche Geburtsdaten.“ Also machte Kraul sich selbst auf die Suche. Ihren Worten nach folgte sie Spuren, telefonierte Namen ab, schaute sich den Geburtsort an, stieß auf Vaertings Lebensgefährten, der damals noch lebte, besuchte auch den und stöberte in alten Dokumenten.
Während Vaerting an der Uni in Jena ankam, änderten sich in Thüringen rasant die politischen Verhältnisse. Noch bevor Vaerting im November 1923 ihre Antrittsrede hielt, besetzten Truppen der Reichswehr die damalige Landeshauptstadt Weimar, um eine drohende Revolution der Kommunist:innen zu unterdrücken. Die KPD-Minister traten zurück, die SPD-Regierung blieb noch bis Februar im Amt. Danach kam der bürgerliche „Thüringer Ordnungsbund“ an die Macht – mit Unterstützung der „Vereinigten Völkischen Liste“, einer Tarnorganisation der zu der Zeit verbotenen NSDAP.
Obwohl die politische Rückendeckung verschwand, blieb Vaerting Professorin. Sie hielt kaum Vorlesungen, bekam kein Prüfungsrecht und war weiter Anfeindungen ausgesetzt. Der Zoologe, Sozialdarwinist und bekennende Antisemit Ludwig Plate veröffentlichte 1930 eine Schmähschrift gegen seine Kollegin Mathilde Vaerting unter dem Titel „Feminismus unter dem Deckmantel der Wissenschaft“, in der er ihre Kompetenz in Zweifel zog.
Während ihrer Zeit als Pädagogik-Professorin in Jena habe Vaerting versucht, eine andere Stelle zu finden. „Sie hat sich dann eigentlich sehr stark der Soziologie zugewandt“, erzählt Kraul. Doch am Ende ging Vaerting nicht freiwillig.
Vaerting versuchte erfolglos, sich der NSDAP anzudienen
„Sie war nie Mitglied der NSDAP. Und ich würde sagen, sie war eher links orientiert“, erzählt Kraul. Aber als sie entlassen werden sollte, diente sie sich in einem Schreiben den neuen Machthabern an. In einem Brief an Uni-Rektor Abraham Esau, der 1933 in die NSDAP eingetreten war, bat Vaerting, er möge sich für sie einsetzen. Begründend habe sie geschrieben, dass sie „nationalsozialistische Schüler“ in Berlin habe, die darauf aufmerksam machen könnten, wie viele „nichtarische“ Professoren in Jena noch an der Universität lehrten.
„Das ist eine ganz große Drohung der Universität gegenüber, von der sie fordert, dass sie sich für ihre Weiterbesetzung einsetzen soll“, so Kraul. Ein „Tabubruch“. Deswegen habe Kraul ihre Recherchen zur Geschichte Vaertings immer wieder weggelegt. Ihr sei allerdings weder klar, von welchen Schülern Vaerting geschrieben habe, noch welche „nichtarischen“ Professoren in Jena hätten weiter lehren dürfen. „Der Nationalsozialismus war in Jena schon weit fortgeschritten.“
Trotz der Drohung: Vaertings Zeit als Professorin endet 1933. Am 5. Mai, Adolf Hitler und seine NSDAP waren schon an der Macht, vermeldete die Saale-Zeitung: Das Thüringer Volksbildungsministerium habe sie und acht andere Professoren „beurlaubt“. Nach dem „Gesetz zur Herstellung des Berufsbeamtentums“ waren neben rassistischen und antisemitischen Gründen unter anderem die zu entlassen, von denen nicht zu erwarten sei, dass sie dem NS treu bleiben.
Auch nach dem Ende der NS-Diktatur bekam Vaerting keine Stelle mehr als Professorin. Sie gab zwar über Jahre die Zeitschrift für Staatssoziologie heraus, geriet aber weitgehend in Vergessenheit.
Individualität gegen Autoritarismus
Erst als sich Vaertings Amtseinführung 2023 zum hundertsten Mal jährte, wurde an der Friedrich-Schiller-Universität ein Symposium zu ihrem Leben und Wirken organisiert. Einen der vier Vorträge dazu hielt Sarah Ganss, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Historische Pädagogik und Globale Bildung in Jena.
Für das Symposium betrachtete Ganss vor allem, was Vaerting in ihrer Schrift, „Das Verhältnis der Geschlechter und seine Bedeutung für das politische Gleichgewicht“, über Gleichberechtigung und lebenslanges Lernen formulierte. „Wenn man liest, was sie vor etwa hundert Jahren geschrieben hat, ist das im Grunde super aktuell und sehr modern gedacht“, findet Ganss, auch wenn Vaerting als Kind ihrer Zeit etwa Geschlecht ausschließlich binär gedacht habe.
Welchen Mehrwert Ganss in Vaertings Theorie sieht? Beim Lesen sei Ganss ins Grübeln gekommen, „inwieweit Persönlichkeitsbildung zur Demokratiebildung beitragen kann“. Vaerting schrieb etwa, durch die Persönlichkeitsbildung entstehe ein moralischer Gerechtigkeitssinn. „Wenn Menschen eine Persönlichkeit bilden, könnten sie autokratischen Verführungen besser widerstehen“, so Ganss. Sie habe sich gefragt, ob das nicht ein interessanter Ansatz für die Demokratiebildung sei.
Vaerting schrieb über den Versuch des herrschenden Geschlechts der Männer, als Teil des Machtkampfs ein Frauenbild zu entwerfen und das zu einer einheitlichen, homogenen „Frauenmasse“ umzusetzen. Eine solche sei politisch einfacher zu beeinflussen als viele individuelle Frauen, so Vaerting. Im Gegensatz dazu wollte die erste Professorin keinen neuen Typus von Frau, Mann oder Kind ausrufen, sondern, „eine echte, individuelle Persönlichkeit“ ermöglichen.
Hundert Jahre nach ihrer unscheinbaren Antrittsvorlesung, gedachte die Universität Jena Mathilde Vaerting, indem sie bei der Einweihung einer Gedenktafel die Schauspielerin Johanna Geißler in ihre Rolle schlüpfen ließ. Diese holte nach, was Vaerting verwehrt geblieben war: Sie hielt ihre Lesung feierlich in der großen Aula.
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