Erste Linie Moskau–Krim: 33 Stunden bis Simferopol
Jetzt fährt ein Zug von Moskau auf die von Russland annektierte Krim. Eine Reise voller Erinnerungen an eine patriotische Vergangenheit.
A m 24. Dezember taucht Moskau den ganzen Tag nicht aus dem dunstigen Nebelfeld auf. Festtagsilluminationen und Laternen säumen die Parkwege im Stadtzentrum, Moskau spaziert in den Feierabend. Die Brücke zur Krim, die am Tag zuvor für den Eisenbahnverkehr freigegeben worden ist, scheint von alledem weit entfernt.
Eine Gruppe Studierende diskutiert nicht etwa die neue Linie von Sankt Petersburg und Moskau zur Krim, sondern die jüngsten Verurteilungen im Rahmen der „Moskauer Prozesse“, die in den vergangenen Wochen die russischen Medien in Atem gehalten hat: jene Serie von Gerichtsprozessen, geprägt von Willkür und hohen Gefängnisstrafen – und kein Ende ist in Sicht.
Die Eröffnung des Eisenbahnverkehrs auf die annektierte Halbinsel am Schwarzen Meer über die sogenannte Krim-Brücke gibt dem russischen Präsidenten Wladimir Putin die Gelegenheit, sich als Schöpfer des „historischen Bauwerks“ zu präsentieren. Nachdem die Brücke im Sommer 2018 für Autos und Lastwagen freigegeben worden war, folgt nun der letzte Abschnitt: Künftig sollen Passagier- und Güterzüge für einen flüssigeren Warenaustausch und leichteres Reisen sorgen.
Die Zugverbindung von Sankt Petersburg nach Sewastopol sei, 145 Jahre nach der Inbetriebnahme jener Strecke, auf einer „hoffnungsvollen, kräftigen Route“ wiederhergestellt worden, sagt Putin bei den Eröffnungsfeierlichkeiten in Taman. „Nur dreimal in der Geschichte des russischen Staats ist sie unterbrochen worden: während der Oktoberrevolution, nach dem Großen Vaterländischen Krieg und 2014.“
Am 24. Dezember bilden sich vor den vier Sicherheitsschleusen des Kasaner Bahnhofs in Moskau lange Schlangen bepackter Leute. Polizisten beobachten das Gedränge vor den Körperscannern aufmerksam. Auch auf den Bahnsteigen und im Zug ist das Sicherheitsaufgebot hoch – doch niemand schenkt den Schwerbewaffneten große Beachtung.
Lautsprecherdurchsage kurz vor Abfahrt des Zuges auf dem Moskauer Bahnhof Kasan
Kurz nach Mitternacht, eine weiche Frauenstimme hallt über die Gleise des Kasaner Bahnhofs und verkündet: „Der Grand Service Express nach Simferopol ist zum Einstieg bereit.“
33 Stunden dauert die Zugfahrt von Moskau nach Simferopol. Es gilt eine ungeschriebene Regel unter russischen Nachtzug-Reisenden: Für die gemeinsame Fahrzeit gehen sie untereinander eine Art Bündnis ein, das auf einer Mischung aus familiärem Vertrauen und diskreter Höflichkeit basiert und sich erst dann wieder auflöst, sobald man sich wieder in die Welt jenseits des Zugs verabschiedet.
Auf dem Bahnsteig drängt sich eine unruhige Menschentraube, Kamerateams und Journalist*innen umringen eine Zugbegleiterin mit ordentlichem Haar und Lippenstift, die den neuen Doppeldeckerzug „Tavria“ vorstellt. Dann werden die Zuggäste interviewt: eine alte Dame, ein kleiner Junge, zwei unsicher wirkende Jugendliche – alle sprechen einstimmig von ihrer Vorfreude auf die Fahrt mit dem neuen Express.
Patriotische Erinnerungen und ein Bild von Chruschtschow
Im Coupé: die Rentner Alexandr und Wladimir und eine junge Mutter mit Tochter. Kaum sind die ersten Begrüßungsworte gefallen, zückt Alexandr seine schwarze Handtasche und reicht eine hölzerne Streichholzdose herüber: Das Bild darauf zeigt den sowjetischen Politiker Nikita Sergejewitsch Chruschtschow auf der einen, Putin auf der anderen Seite. Chruschtschow war es, der im Jahr 1954 die Halbinsel Krim der Ukraine schenkte, Putin der Mann, der die Krim 2014 Russland wieder anschloss – gegen den Protest des Westens und bis heute völkerrechtlich nicht anerkannt. „Er gab sie. Er nahm sie“, steht unter den Bildern der beiden Regierungschefs geschrieben.
Es beginnt die lange Erzählung eines russischen Krim-Patrioten. Alexandr, diesem stämmigen Kerl um die siebzig, stehen die Tränen in den Augen, als er von jenen Ereignissen erzählt, die in Russland als „Rückkehr nach Hause“ und im Westen als „Krim-Annexion“ bezeichnet werden. Putin habe schnell und mutig gehandelt. „Und dann kam die Brücke, wir haben lange auf sie gewartet“, sagt Alexandr. Das Stimmungsbild damals sei doch klar gewesen, meint er: „95 Prozent waren für die Rückkehr nach Russland. Das ging alles ganz schnell, russische Pässe wurden ausgeteilt, die ukrainischen durften wir einfach behalten.“
Er scheint im Einverständnis mit den anderen beiden Passagiere gesprochen zu haben. Denn jetzt werden Dosen und Plastiktüten ausgepackt – der Proviant für die nächsten eineinhalb Tage. Der Geruch mitgebrachter Frikadellen verteilt sich in dem kleinen Coupé. Später gehen die Männer hinaus, damit die Frauen sich ungestört umziehen können – eine weitere ungeschriebene Regel des Nachtzug-Kodexes.
Die Inneneinrichtung des modernen Doppeldeckers ist in Beige-Blau gehalten wie auch die Uniformen der Zugbegleiter*innen. In jedem der fünfzehn Wagen gibt es Vorrichtungen zur Mülltrennung und drei Toiletten. Trotz dieser modernen Vorzüge sind schon bald nach der Abfahrt unzufriedene Stimmen im Zug zu hören: Die Coupés seien zu eng. „Ich fühle mich wie ein Fisch in der Dose“, sagt die eine – „Bringt uns die großräumigen sowjetischen Wagons wieder!“, eine andere Stimme.
Eine kleine, feine Dame im blauen Nachthemd steht im Gang, spricht über das Brücken-Maskottchen Kater Most. Gerade habe sie gelesen, dass nach Putin der Brücken-Kater über die Brücke gefahren ist. „Hätte Putin auch noch die unmöglichen Hochbetten in unserem Coupé getestet, sähen die Abteile jetzt vielleicht anders aus“, schimpft sie.
Geschichtsunterricht ist inklusive
Eine Reise mit dem Grand Express ist auch eine Lektion im Geschichtsunterricht: Jeder Wagen ist ausstaffiert mit einem Kapitel der russischen Geschichte, die mit der Krim verbunden ist: die Gründung der Schwarzmeerflotte, der Krim-Krieg, der Erste Weltkrieg oder der Große Vaterländischer Krieg, wie der Zweite Weltkrieg hier genannt wird, und schließlich das Kapitel der Krim-Brücke werden in Kurzbeschreibungen in einfacher Sprache und reduziert auf die Auflistung abgewehrter Angriffe und heldenreicher Verteidigungen der seit Jahrhunderten umkämpften Halbinsel skizziert. Der Schutz vor dem Feind steht, so die Botschaft, bis heute an erster Stelle.
Zwei junge Männer hantieren im Gang mit ihrer Kamera. Sascha und Nikita wurden von ihrem Arbeitgeber, einem linientreuen Internetmedium, geschickt. Ihre Aufgabe: Passagiere zu befragen, warum sie mit diesem ersten Zug fahren, was die Brücke für sie bedeutet. „Natürlich ist die einzige Reaktion pure Begeisterung, wir haben einen ganzen Film voll davon“, sagt Nikita. Wenn sie eine andere Meinung auffangen würden, dürften sie diese aber nicht zeigen.
Sie schauen sich den Instagram-Account der Krim-Brücke an, Nikita hebt die Arme in die Höhe – und erklärt sich: „Diese Geste machen wir immer dann, wenn Patriotismus in hochkonzentrierter Form vorliegt“, meint er lachend.
Der Zug schaukelt durch eine graue-weiße Nebellandschaft, die Sträucher entlang der Bahnschienen sind von feinem Frost ummantelt. Nachbar Wladimir steht auf dem Gang, starrt aus dem Fenster. Er fährt zu seinem Onkel nach Ewpatoria, das letzte Mal war er noch mit der Fähre über die Kertscher Wasserstraße übergesetzt.
„Was die Brücke angeht: Das Wichtigste ist, dass die Menschen von ihr profitieren. Ich interessiere mich nicht für Politik, aber diese Hooligans vom rechten Sektor … Natürlich gibt es solche auch bei uns. Aber wir sind gut geschützt, über die Brücke kommen sie jedenfalls nicht. Hast du nicht das ganze Sicherheitspersonal gesehen?“, fragt er nüchtern.
„Putin, der größte Patriot des Landes“
Eine halbe Stunde Halt auf dem Bahnsteig in Rostow am Don, eine Passagierin in elegantem Pelz zieht an einer dünnen Zigarette. Sie heiße Olga, sei echte Krimtschanka und Krim-Patriotin. „Ich war mir immer sicher, dass die Krim wieder russisch wird; aber ich weiß, dass es auch Menschen auf der Krim gibt, die anderer Meinung sind“, sagt sie. Sie lebe und arbeite aber seit zwanzig Jahren in Moskau. „Putin ist der größte Patriot des Landes. Ich wünsche mir Stabilität, will nicht zurück in die Neunziger – ich habe sie selbst durchlebt.“
Taman, die letzte Station vor der Kertscher Brücke. Es ist halb zwei in der Nacht, trotzdem stehen viele Reisegäste in Schlappen und Schlafhosen auf dem Bahnsteig, halten ihre Handykameras in die Luft. Irgendwo dort, jenseits des Bahnhofs, sollte die Brücke zu sehen sein – ist sie aber nicht. Plötzlich wieder Jubelgeschrei, irgendein Moderator schart die Passagiere um sich und seine Kamera, treibt die Stimmung in die Höhe. „Hurra!“
Und bald nach der Weiterfahrt sind wir auf der Brücke. An den Fenstern kleben die Gesichter der Passagiere, man starrt angestrengt hinaus in die Dunkelheit: ein Mann mit dem Partei-Shirt der Partei „Einiges Russland“ mit seiner Frau, die feine Dame im blauen Nachthemd. Olga vom Bahnsteig duckt sich mit ihren Coupé-Nachbarinnen vor dem Fenster auf den Boden, um besser sehen zu können.
Der Zug gleitet ruhig über die neuen Schienen durch die schwarze Nacht. Schienen auf der einen, Straße auf der anderen Seite. Irgendwann blitzt Wasser zwischen den Stahlträgern hervor. „Man sieht wirklich nicht sonderlich viel, aber es ist beeindruckend!“, höre ich Olgas Stimme. Presst man den Kopf noch näher an die Scheibe, dann sind die symbolträchtigen Brückenbögen, ausgeleuchtet in den Farben der russischen Trikolore, zu erahnen. Mit leisen Hurra-Rufen verabschiedet man sich in die Betten.
Die nächsten Stationen sind Kertsch und Bagejowo. Vor dem Bahnhofsgebäude stehen einige Dutzend Menschen und winken aufgeregt, fotografieren den Zug. Das Sicherheitspersonal ist noch sichtbarer als bisher: Jeweils zwei bis drei Vertreter der Miliz, der Verkehrspolizei, der Nationalgarde „Rosgwardija“ und der Sondereinheit der russischen Miliz „OMON“ sind zu sehen. Sie alle drehen langsam ihre Runden, auf dem Bahnsteig, im Zug. Niemand scheint sich zu wundern.
Ein Volksfest bei der Ankunft in Simferopol
Neun Uhr früh, Simferopol: Eine jubelnde Masse steht bis dicht an die Fenster des einfahrenden Zuges, wedelt wild mit Fahnen und Smartphones. „Ist das eine Demonstration oder was?“, kommentiert Alexandr, gerührt und irritiert von dieser gewaltigen Begrüßung.
Auf dem Bahnsteig laufen Tränen, werden Selfies gemacht, Fahnen verteilt. Eine Militärparade spielt trotz dicker Regentropfen Marschmusik. Aber bald, die Reisenden haben sich schon fast alle entfernt, ist nur noch eine große Gruppe älterer Männer und Frauen übrig, die begeistert zur Livemusik klatscht. Präsident Putin blickt von einem erhobenen Plakat auf den patriotischen Karneval hinab, leidenschaftlich werden Gedichte vorgetragen, es geht um die russische Krim und um den historischen Brückenbau.
Nur wenige junge Leute brechen mit diesem Bild des Rentnertreffs: Zhanna ist sportlich gekleidet, selbstbewusst und Journalistin der Komsomolskaja Prawda. „Das ist der erste Zug, der seit fünf Jahren in unseren Bahnhof einfährt, deshalb muss man die Leute schon verstehen“, meint sie. Simferopol zehre noch immer von den Wintermonaten 2013, als ukrainische Aktivisten die Krim vom Stromnetz getrennt hätten: „Dreieinhalb Monate waren wir ohne Elektrizität, das vergisst man nicht so schnell“, sagt die junge Frau.
Das Referendum zum Anschluss an Russlandf? „Natürlich, es waren keine 95 bis 97 Prozent, aber 70 Prozent waren auf jeden Fall für die Angliederung an Russland“, sagt nachsichtig.
Eine Fahrt im Autobus über schlechte Straßen in den Kurort Aluschta führt aus der Stadt hinaus vorbei an kleinen Datschen und Blechzäunen. Dann breitet sich eine nebelverhangene Hügellandschaft aus, es folgen leichte Terpentinen, Weinberge. Aluschta: Die Stadt wirkt wie zusammengeschustert – sozialistische Hotelblöcke, Sanatorien, zum Teil verfallen, markante Plattenbauten, goldene Zwiebeltürme, Moscheen.
An der Strandpromenade sind einige Büdchen aufgebaut, eine davon ist ein Kaffeestand. „Wir sind die einzige Kaffeerösterei hier“, sagt Wladimir, ein junger Mann mit langen blonden Haaren. Seit zwei Jahren führt er in Aluschta sein Geschäft Coffee Juice. „Für vieles kann man die Politiker verurteilen, aber nicht für alles“, sagt er. Seit 2014 habe sich vieles verändert, einiges zum Besseren, einiges zum Schlechteren. „Die Gehälter wurden wenn dann nur minimal angehoben. Am schlimmsten aber seien die Sanktionen, es sei schwierig, an gute Technik und andere spezielle Produkte zu kommen. Das meiste müsse er teuer über Zwischenhändler bestellen.
Eine Weinhandlung nahe der menschenleeren Strandpromenade. „Ja, vom ersten Zug haben wir gehört, alle reden davon. Man hat uns mehr Gäste versprochen – und wo sind die? Wir stehen hier und warten“, ruft die Verkäuferin. „Ihr seid die ersten Zuggäste, die wir sehen.“ Ein anderer Gast nimmt seinen letzten Schluck Rotwein und geht leise auf die Brücke schimpfend hinaus in den Regen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen