piwik no script img

Ermordeter Peter de VriesKampf auf Europas Kokainmarkt

Die Niederlande verabschieden sich am Mittwoch von Crime-Reporter Peter R. de Vries. Der Fall wirft ein Schlaglicht auf das Land als Narko-Standort.

Am Tatort in Amsterdam, wo Peter Rudolf de Vries am 6. Juli angeschossen wurde Foto: Ramon van Flymen/epa

Amsterdam taz | Es wird ein Abschied im großen Stil: Von 11 bis 20 Uhr ist das Amsterdamer Theater Carré an diesem Mittwoch geöffnet. „Jeder, dem Peter in seinem Leben etwas bedeutet hat“, so die Traueranzeige, kann an den ermordeten Crime-Reporter Peter R. de Vries auf Wunsch an der Bahre einen letzten Gruß richten. Mit großem Andrang wird gerechnet, so die Website von RTL Boulevard, der Sendung, in der de Vries zu Gast war, bevor er am 6. Juli im Zentrum Amsterdams niedergeschossen wurde. Am Donnerstag wird das Theater dann zur geschlossenen Gesellschaft für Familie und Freunde.

Art und Umfang des Abschieds machen die Position deutlich, die de Vries in der niederländischen Gesellschaft hatte, erworben in Jahrzehnten, in denen er sich an die Fersen der organisierten Kriminalität heftete. Er, der nach mehr als einer Woche seinen schweren Verletzungen erlag, war ein Typ, wie man ihn liebt in den Niederlanden: eigensinnig, charismatisch, mit Abstand zu den Autoritäten, aber auch ein Junge des Volks, treu an der Seite der Eltern ermordeter Kinder, mit einem großen Herz für den Fußballclub Ajax Amsterdam.

Der Fall reicht aber noch wesentlich weiter. Afshin Ellian, Juraprofessor an der Universität Leiden, forderte in einer Kolumne in der Boulevardzeitung Telegraaf, der Mord müsse ein „nötiger Wendepunkt im Kampf gegen die Drogenkartelle“ sein. Für Ellian ist der Anschlag ein „Resultat des Wegschauens von der Gesetzlosigkeit“. In einem anderen Kommentar kurz nach dem Anschlag sprach er von „Gomorrha an der Nordsee“, prangerte den Einsatz von Jugendlichen für Auftragsmorde an und nennt Amsterdam „die Hauptstadt von Geldwäsche und organisiertem Verbrechen der Europäischen Union“.

Ellians Hang zu drastischen Formulierungen ist bekannt, doch dass seine Vorwürfe Substanz haben, ist unbestritten. Die Frage ist nun, inwieweit die Ermordung von de Vries über die Bestürzung ob der persönlichen Tragödie hinausreicht. Als vor knapp zwei Jahren Derk Wiersum, der Anwalt des selben Kronzeugen, dem auch de Vries später beistand, auf offener Straße ermordet wurde, schien das vielen die Augen zu öffnen.

Der Kampf um die Vorherrschaft auf dem Kokainmarkt macht eben nicht, wie man das offenbar lange dachte, an den Grenzen des „Milieus“ halt. Selbst 2018, als der Bruder des Kronzeugen in Amsterdam erschossen wurde, gab man sich in den bürgerlichen Innenstädten noch dieser Illusion hin.

Mexikanische Spezialisten vor Ort

Es mag an der starken sozialen Zweiteilung der Niederlande liegen, der Kluft zwischen der urbanen Agglomeration im Westen und den anderen Provinzen, dass man bestimmte ländliche Entwicklungen im Zentrum lange wenig zur Kenntnis nahm. Auch auf dem Land dort entwickelt sich mehr und mehr Infrastruktur des internationalen Narkomarkts.

Immer häufiger wurden in den letzten Jahren Drogenlabore in Scheunen und anderen leer stehenden Gebäuden gefunden. 2020 waren es 108, 20 Prozent mehr als im Vorjahr. Stark zugenommen hat vor allem die Crystal-Meth-Produktion. Wurden 2019 noch zehn Labore hochgenommen, waren es letztes Jahr 32.

Regelmäßig wurden dabei mexikanische Spezialisten angetroffen, die offenbar Expertise mitbringen, die einheimischen Produzenten fehlt. Fachleute befürchten, dass ihre Präsenz auf eine Zusammenarbeit mit mexikanischen Kartellen hinweist. Die entscheidende Frage ist, ob niederländische Organisationen diese angefordert haben oder sie aus Mexiko geschickt wurden.

Wie verbreitet solche Strukturen sind, zeigt eine Umfrage von 2020: Ein Fünftel von knapp 700 teilnehmenden Landwirten gab an, bereits von Personen auf der Suche nach ungenutzten Gebäuden kontaktiert worden zu sein. Zwei Drittel wussten über „Drogenkriminalität in der Gegend“ Bescheid, so das TV-Programm 1 Vandaag. Oft handelte es sich um Bauern mit finanziellen Problemen.

Gesellschaftliche Unterwanderung

Die Drogenproduktion in Scheunen hat eine lange Tradition. Sie geht zurück auf den kommerziellen Cannabisanbau und seine grotesk anmutende rechtliche Position. Während Besitz, Verkauf und Konsum von kleinen Mengen Gras oder Haschisch seit 45 Jahren geduldet werden, sind Produktion und Einkauf weiter strafbar – eine Konstellation, die als „illegale Hintertür der Coffeeshops“ bezeichnet wird und für das Entstehen eines klandestinen Markts überaus förderlich war.

Die gesellschaftliche Unterwanderung zeigt sich nicht nur an der Peripherie. Nach dem Mord an Anwalt Derk Wiersum 2019 beschloss sein Utrechter Amtskollege Willem Jan Ausma, keine Kronzeugenfälle mehr anzunehmen. „Ich finde das Leben schöner als mein Fach“, sagte er dem Lokalsender RTV Utrecht. Auf Nachfrage erklärte Ausma, es gebe „zum Glück genug andere“, die Kronzeugen nach wie vor zur Seite stehen wollten. Einer davon war Peter R. de Vries.

40.000 mal Danke!

40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • Wir sind in Europa zu kritisch gegenüber dem demokratischen Rechtsstaat, zum Beispiel was den Datenschutz angeht, und viel zu un kritisch und naiv gegenüber der organisierten globalen Kriminalität.



    Nicht der klassische „Staat“ wird in Zukunft unsere Freiheit und unsere Bürgerrechte bedrohen sondern in einer globalisierten Welt sind es Organisationen jenseits der Staaten, Mexiko ist ein Beispiel für die Zukunft auch bei uns aussehen könnte, wenn wir nicht gut aufpassen