Erkenntnisse aus der WM: Ab jetzt alle zusammen
Die Fußball-WM war als eine WM der Stars angekündigt. Doch während Heldinnen oft tragisch ausschieden, kam es zum Triumph des Kollektivs.
Einen Moment lang sah es aus, als würde diese WM doch noch zur Saga einer einsamen Heldin werden. Da nämlich, als Sam Kerr im Halbfinale gegen England mit einem überragenden Distanzschuss, den nicht viele auf der Welt so zu schießen vermögen, ihre Australierinnen unwiderstehlich schön zum Ausgleich brachte.
Was wäre das für eine Geschichte gewesen nach der Wadenverletzung, nach all dem Hoffen und Bangen. Aber nein, es war auch ihr nicht vergönnt, zur Überfigur zu werden. England ging erneut in Führung, eine müde Kerr vergab zwei hochkarätige Chancen. Und in Australien kritisierte mancher nachher, man habe sie unverantwortlich früh nach der Verletzung über 90 Minuten spielen lassen, zu hohem Druck ausgesetzt.
Die tragische Figur Kerr passte zu einem Turnier, dem keiner der großen Namen einen Stempel aufdrücken konnte. In einer Welt mit obszön bezahlten Männerfußball-Superhelden, Armadas voller Marvel-Superhelden und autoritären vorgeblichen Politsuperhelden war dieses Turnier ein angenehmes Gegenbild: ein Triumph der Kollektive. Der unerwarteten Randfiguren. Ein Sieg des Spektakels Fußball. Und der Beleg, dass das mindestens ebenso gute Unterhaltung ist.
US-Team scheiterte an der eigenen Arroganz
Das Turnier wurde damit auch eine Art Gegenstück zur letzten WM. 2019 war unzweifelhaft eine Heldinnen-WM, die der Ikone Megan Rapinoe. Ihr Charisma und ihr wahrhaft großer Aktivismus, ihre überragenden Flankenläufe, ihr erfolgreicher Kleinkrieg gegen Donald Trump, das Führungstor im Finale: Die triumphal ausgebreiteten Arme Megan Rapinoes werden für immer das Symbol jener WM bleiben.
Bei dieser WM 2023 aber blieb Rapinoe wie so viele Stars blass. Das favorisierte US-Team scheiterte im Viertelfinale auch an der eigenen Arroganz, während Rapinoe auf ihrer Abschiedstournee zur Einwechselspielerin degradiert blieb. Beim Aus im Elfmeterschießen lachte sie selbst bitter über die Ironie dieses Scheiterns – Rapinoe verschoss zum ersten Mal in ihrer Profikarriere einen Elfmeter. Bisweilen wirkte die WM wie eine schwarzhumorige Serie, die ihre Superstars konsequent scheitern ließ. Oder ihnen bittere Nebenrollen verschaffte.
Die große Marta fand bei ihrer letzten WM so wenig ins Spiel der Brasilianerinnen, dass man glatt vergessen konnte, dass sie überhaupt teilgenommen hatte. Von Ada Hegerberg und ihren chronisch zerstrittenen Norwegerinnen bleibt nicht mehr als eine kuriose Selbstauswechslung Sekunden vor Spielbeginn in Erinnerung.
Erfolg hatte, wer klug im Kollektiv spielte
Beth Mead und Fran Kirby fehlten verletzt, die große Defensivkünstlerin Mapi León und Patri Guijarro fehlten in streikendem Protest. Und die mit enormen Hoffnungen beladene Weltfußballerin Alexia Putellas blieb nach ihrer schweren Verletzung ein Schatten ihrer selbst, und an Spaniens Finalmärchen auch dann, wenn sie spielte, kaum beteiligt. Ähnlich wie bei Kerr kam ihr Team ohne sie klar.
Ob England oder Spanien, Kolumbien oder Schweden, Japan oder Australien: Erfolg hatte, wer klug im Kollektiv spielte. Wie aus der Zeit gefallen wirkte dagegen das deutsche Spiel, mit peinlich durchsichtigen Flanken auf die unzerstörbare Heldin Alex Popp. Und es sagt durchaus auch etwas, dass vor dem Finale die erfolgreichsten drei Torschützinnen des Turniers zu ausgeschiedenen Teams gehören. Erfolg hatte, wer variabel war.
Die Einzelschicksale waren oft schmerzhaft. Diese WM schuf damit aber auch Raum für neue, leisere und vielfältigere Geschichten. Die spanische Zeitung El País schrieb: „Geschichte schreiben bedeutet, dass Mädchen nicht mehr nur Alexia sein wollen. Sie wollen auch Aitana, Salma, Jenni, Olga, Cata, Alba sein.“
Mit Coolness den Ball vom Kasten ferngehalten
Es war die WM der kometenhaft aufgestiegenen Ex-Leichtathletin Salma Paralluelo, sinnbildlich für Spaniens hochbegabte junge Generation, es war die WM von Entdeckung Teresa Abelleira und die der genialen Aitana Bonmatí, die sich endlich aus dem Schatten von Putellas spielte. Es war die WM der irren schwedischen Torfrau Zećira Mušović, die kaum jemand auf dem Zettel hatte, mit ihrer Coolness den Ball fast schon qua Willenskraft vom Kasten fernhielt und Schweden gegen die USA im Alleingang in die nächste Runde trug.
Es war die WM der 23-jährigen Hinata Miyazawa, die unglaubliche fünf Tore erzielte, und eine Showbühne für Mina Tanaka und ihre wunderschönen Schnittstellenpässe. Und auch die WM der wieder hervorragenden niederländischen Torhüterin Daphne van Domselaar. Im recht humorlos auftretenden englischen Team waren es erneut die beiden seit Kindertagen befreundeten Alessia Russo und Ella Toone, die selbst ernannte Partycrowd, die die Spielfreude und oft die Tore besorgten.
Und nicht zuletzt war es ein Turnier der Unterschätzten und Übersehenen. Wer schon hatte vorher vom kolumbianischen Wunderkind Linda Caceido gehört? Wer von der 18-jährigen Ana María Guzmán, die in Kolumbiens Defensive so abgezockt spielte, als mache sie den Job seit zehn Jahren, und der man ebenfalls einen Wechsel in eine große Liga nachsagt?
Eine WM der diversen Geschichten
Im australischen Team wurde die flinke Dribblerin Mary Fowler, geboren in Papua-Neuguinea und eine der wenigen Indigenen in der Auswahl, zum Idol nicht nur indigener Kids in Australien, sondern auch vieler Fans im pazifischen Raum. In Papua-Neuguinea gab es ihretwegen WM-Rudelgucken. Auch der erst 20-Jährigen von Manchester City dürfte eine große Karriere bevorstehen.
Und niemand sollte die weltweite Wirkung von Marokkos Verteidigerin Nouhaila Benzina unterschätzen, die als erste WM-Spielerin der Geschichte mit Hidschab auflief – unter anderem ausgerechnet gegen Frankreich, das den Hidschab auf dem Fußballplatz verbietet. Es war eine WM der diversen Geschichten, der multipolaren Triumphe. Gut so.
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