Ergüns Fischbude: Neubeginn in Neukölln
Nach Jahren des Kampfes muss „Ergüns Fischbude“ ihren Standort verlassen. Die gute Nachricht: In Neukölln hat das Kultlokal eine neue Location gefunden.
Der Raki fließt, die Gäste fassen sich an den Händen, wirbeln weiße Servietten durch die Luft und tanzen Halay, einen türkischen Volkstanz. Auf den Tischen reihen sich halbleere Raki-Flaschen zwischen Fischgräten und frittierten Calamari auf. Auf dem Bildschirm am anderen Ende des verrauchten Raums ist Cem Karacas Silhouette nur schemenhaft zu erkennen. Die Stimme der türkischen Rocklegende dröhnt durch die Boxen, übertönt vom Grölen der Gäste. So sah ein Samstagabend im Spätsommer in „Ergüns Fischbude“ in Moabit aus. Mittendrin: Sezgin Sanar – in seinem Element.
Ein paar Monate später erzählt der Restaurantbetreiber: „In den ersten Monaten dominierten Traurigkeit, Wut und Existenzängste.“ An diesem Dezemberabend ist die Stimmung weniger ausgelassen. Gäste essen Fisch, quatschen, trinken Raki. Sanar sitzt in grauem Jogginganzug und weißen Sneakern an einem Tisch. Das schwarze Haar trägt er an den Seiten kurz, oben zu einem Zopf gebunden.„Inzwischen denke ich: Eine Tür schließt sich und drei wunderschöne Türen öffnen sich.“
Dem 35 Jahre alten Fischlokal in den Viaduktbögen nahe dem S-Bahnhof Bellevue war der Mietvertrag gekündigt worden. Ende Juni 2024 hätten sie eine Räumungsklage der Deutschen Bahn mit einer dreimonatigen Frist erhalten, so die Betreiber*innen. Nach Protest sei die Klage zwar zurückgezogen, aber durch Auflagen ersetzt worden. Noch bevor sie alle hätten erfüllen können, entschied das Gericht Mitte September: Sie müssen das Lokal räumen.
„Eineinhalb Jahre lang haben wir vor Gericht gekämpft, voller Hoffnungen, Tränen und Sorgen“, sagt Sanar. „Es war vergeblich.“ Eine Sprecherin der Deutschen Bahn wollte auf taz-Anfrage keine Gründe für die Kündigung nennen. Sie erklärt lediglich, zu vertraglichen Details könne man sich öffentlich nicht äußern.
Fischbude eröffnet ab Januar in Neukölln
Nach Recherchen des Instituts für Handelsforschung gehen in Deutschland jedes Jahr bis zu 30.000 Kleinunternehmen unter. Ergüns Fischbude wehrt sich, Teil dieser Statistik zu sein – mit Erfolg. Nach langer Suche haben die Betreiber*innen nun neue Räume gefunden. Ab Mitte Januar ziehen sie nach Neukölln, in deutlich größere Räumlichkeiten, mit zwei Kegelbahnen. „Ergün wäre stolz“, glaubt Sanar.
Ergün Çetinbaş hatte das Restaurant in Moabit 1992 eröffnet. 1969 war er als Gastarbeiter aus Bursa im Nordwesten der Türkei nach Deutschland gekommen. Schon in der Türkei hatte er Fisch vertrieben, später die Ware aus Istanbul nach Berlin gebracht. Die Räume der heutigen Fischbude dienten ihm damals als Lagerhalle. „Nach Markt-Wochenenden hat er dort sonntags ein paar Tische und einen kleinen Herd aufgestellt, mit seinen Kumpels Raki getrunken und Fisch gegessen“, erzählt Sanar. Der Duft lockte irgendwann die ersten deutschen Kund*innen an – und so entstand das Restaurant.
2021 verstarb Ergün im Alter von 74 Jahren. „Er hat gut gelebt“, sagt Sanar und lacht. „34 Jahre lang hat er am Stück getrunken und geraucht.“ Vor sieben Jahren übernahm der gebürtige Schöneberger den Laden, damals mit gerade mal 18 Jahren, zusammen mit Ergüns Tochter, Mine Çetinbaş. „Ohne meinen Vater wäre das nicht möglich gewesen“, sagt Sanar. „Er hat von Anfang an mich geglaubt und in den Laden investiert.“ Der Vater arbeitet heute in der Buchhaltung des Betriebs, Sanars Mutter am Karaoke-Mikro, Cousins und Freund*innen im Service. „Die Kellner mögen sich, alle sind nur am Lachen. Deswegen lieben die Leute es“, sagt der 25-Jährige.
Sezgin Sanar
Dem Umzug nach Neukölln steht er ambivalent gegenüber: „Es ist wie eine Trennung: Der Laden hier ist mein Baby, aber er war ohnehin zu klein geworden.“ Freitags und samstags drängen sich hier mehrere hundert Gäste – Tendenz steigend. Der Grund: Social Media. Im Frühjahr begann Sanar, Instagram und Tiktok zu bespielen. Der Laden boomte über Nacht. Früher sei alles nur über Mundpropaganda gelaufen, jetzt kämen auch Menschen aus anderen Städten gezielt, um das Lokal zu besuchen. „Ich war sprachlos“, sagt Sanar.
Der Fischladen ist ein Zuhause
In der Fischbude gibt es Bauchtänze und Karaoke, Bayram und Zuckerfeste werden gefeiert. „Dieser Ort ist mehr als nur ein Laden. Hier haben sich Menschen kennengelernt, verlobt oder geheiratet“, sagt Sanar. „Es ist ein Zuhause. Ein Erbe, das wir bewahren und weitergeben möchten.“ An einer Wand hängt ein Bild von Ergün: Zwei Fische hält er in die Kamera, einen dritten im Mund.
Zwischen bunten Zetteln mit Erinnerungen an verschwommene Abende hängen Bilder von Mustafa Kemal Atatürk neben Hertha-Spielern und Fenerbahçe-Schals. Dazwischen Fotos von Stars und Sternchen aus Deutschland und der Türkei: Der Sänger Fatih Ürek, Angela Merkel, Frank-Walter Steinmeier und der Sänger Ugür Dündar waren schon in Ergüns Fischbude zu Gast. Sanar zeigt auf ein Foto des Sängers İbrahim Tatlıses und sagt lachend: „Unsere Helene Fischer.“ Die Fotowände sollen abgeschraubt und in Neukölln wieder aufgehängt werden, damit Ergüns Vermächtnis auch in Neukölln weiterlebt.
Es ist spät geworden, die Gäste haben gegessen und machen sich auf den Heimweg. Draußen stehen zwei Frauen mit Kinderwägen. „Wir wollten noch einmal vorbeikommen, bevor ihr schließt“, sagen sie, als sie Sanar sehen. Schon seit ihrer Kindheit seien sie hierhergekommen, ihr Vater habe das Lokal geliebt. Als Sanar ihnen die gute Nachricht überbringt, freuen sie sich: „Wir sehen uns in Neukölln.“
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