Erfolg der Massenproteste in Chile: Weg frei für eine neue Verfassung
Unter dem Druck der anhaltenden Proteste gibt Chiles Kongress nach: Ein Referendum im April soll über einen Verfassungskonvent entscheiden.
„Es ist ein historischer Tag, an dem wir eine 100-prozentig demokratische Verfassung anbieten“, sagte Senatspräsident Jaime Quintana am Sitz des Kongresses in Santiago de Chile. Die Verhandlungen gestalteten sich schwierig, da jede Einigung vom Kongress mit einer Zweidrittelmehrheit angenommen werden muss.
In der nun erzielten Einigung wurde das Wort Asamblea Constituyente (Verfassunggebende Versammlung) durch Convención Constitucional (Verfassungskonvent) ersetzt. Die Kommunistische Partei hatte nicht an den Verhandlungen teilgenommen.
Noch immer gilt in Chile die Verfassung der Pinochet-Diktatur (1973–1990) aus dem Jahr 1980, die de facto den Neoliberalismus als alleinige Wirtschaftsdoktrin festschreibt. Deshalb ist auch knapp 30 Jahre nach dem Ende der Diktatur noch immer nahezu alles in privater Hand, darunter Bildung, Gesundheit, Renten, selbst die Wasserversorgung.
250.000 Menschen auf der Straße
Ob nach dem jetzt ausgehandelten Kompromiss zwischen den vier Parteien der Regierungsallianz Chile Vamos und den oppositionellen christdemokratischen, liberal- und sozialdemokratischen, sozialistischen Parteien sowie der linken Frente Amplio die Proteste abflauen, ist offen.
Präsident Sebastián Piñera hatte am Dienstagabend ein Abkommen über eine neue Verfassung unter der Beteiligung der Bürger*innen sowie ein Referendum über deren Annahme angekündigt. Zuvor hatte er lediglich zugestanden, der Kongress solle eine neue Verfassung ausarbeiten und verabschieden. Der Präsident beugte sich damit dem Druck durch die seit einem Monat anhaltenden Proteste.
Diese hatten letzten Dienstag mit einen 24-stündigen Generalstreik und 250.000 Menschen auf den Straßen des Landes einen neuen Höhepunkt erreicht. Am Abend war es zu schweren Ausschreitungen zwischen der Protestierenden und Carabineros gekommen. 114 Geschäfte wurden geplündert, 30 Gebäude in Brand gesetzt und 20 Polizeireviere angegriffen, wie das Innenministerium am Tag danach mitteilte. 1.020 Menschen wurden festgenommen.
Auch am Donnerstag war es landesweit zu massiven Protesten gekommen. Die Protestierenden erinnerten an den vor einem Jahr von Carabineros erschossenen Camilo Catrillanca. Dem 24-Jährigen vom Volk der Mapuche war auf dem Weg zur Feldarbeit bei Ercilla in der Region de La Araucanía von einer patrouillierenden Spezialeinheit der Carabineros in den Hinterkopf geschossen worden. Von den Carabineros gemachte Videoaufnahmen des Vorgangs waren anschließend verschwunden. Ein Augenzeuge bestätigte jedoch den Mord. Am kommenden 26. November beginnt der Prozess gegen sieben angeklagte ehemalige Carabineros sowie einen Rechtsanwalt.
Chiles Wirtschaft bricht ein
Druck kam auch aus der Wirtschaft. „In wirtschaftlicher Hinsicht braut sich in Chile ein perfekter Sturm zusammen“, sagte Juan Pablo Swett, der Vorsitzende des Lateinamerikanischen Unternehmerverbands, der BBC. Wirtschaft, Konsum sowie Investitionen stünden gegenwärtig still. „Bislang sind 70.000 Arbeitsplätze verloren gegangen“, so Swett. Sollte sich die Situation in den kommenden Tagen nicht normalisieren, drohe der Verlust von weiteren 500.000 Arbeitsplätzen.
Laut einer Studie des Wirtschaftsministeriums sind rund 6.800 Geschäfte, Läden und kleine Unternehmen von Raub, Plünderung oder Brand betroffen. Der Wert des chilenischen Pesos fiel auf ein Rekordtief.
Die Unruhen hatten am 18. Oktober begonnen. Bisher sind mindestens 20 Menschen ums Leben gekommen. Menschenrechtsorganisationen haben mehrfach Menschenrechtsverletzungen durch die Ordnungsorgane angeprangert. Amnesty International hat nach eigenen Angaben in nur einer Woche mehr als 10.000 Anzeigen sowie zahlreiches Videomaterial über Gewaltanwendung von Carabineros und Militärs erhalten.
„Es ist offensichtlich, dass Präsident Sebastián Piñera nicht alle ihm zur Verfügung stehenden Maßnahmen ergriffen hat, um die schweren Menschenrechtsverletzungen und möglichen Völkerrechtsverbrechen zu stoppen“, sagte Erika Guevara Rosas, Amnesty-Direktorin für die Region Amerika.
Nach der letzten Bilanz des autonomen, staatlichen Nationalen Instituts für Menschenrechte INDH vom 10. November wurden 5.629 Menschen vorübergehend festgenommen, darunter 634 Minderjährige. Unklar ist, wie viele weiter in Haft sitzen.
2.009 Menschen wurden verletzt, davon 1.071 vor allem durch Gummigeschosse, die bei 197 Personen zu schweren Augenverletzungen oder Verlust des Augenlichts führten. Bisher liegen 267 Anzeigen vor, darunter 5 wegen Mordes, 6 wegen versuchten Mordes und 192 wegen Folter, 48 wegen sexueller Gewalt und 4 wegen Vergewaltigung.
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