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Erfahrungsbericht aus der KältehilfeTreppe nach ganz unten

Als Ehrenamtliche in der Kältehilfe: ein Erfahrungsbericht über die Freundschaft zu einem Junkie – und das Akzeptieren der eigenen Grenzen.

Eine Schüssel Abendbrot: in der Notübernachtung der Kältehilfe Foto: Karsten Thielker

Als ich Ben* das erste Mal in der Kältenotübernachtung sehe, am Weihnachtsabend 2018, gebe ich ihm bei der Essensausgabe eine Gänsekeule mit brauner Sauce, etwas Rotkohl und zwei Kartoffelklößen über die Theke und wünsche ihm einen guten Appetit. Er bedankt sich mit einem Lächeln. Er sagt, wie schick er meine Frisur fände. Seine Ex-Freundin sei auch Punkerin, sie habe sich die Haare an den Seiten genauso ausrasiert wie ich.

Seit Ende Dezember arbeite ich ehrenamtlich in der Notübernachtung 1 der Kältehilfe, kurz NÜ1, einer der größten Notunterkünfte der Stadt. Die NÜ1 ist eine von vier Notübernachtungen der Stadtmission. Obdachlose finden hier zwischen November und April an sieben Tagen in der Woche einen sicheren Schlafplatz und bekommen eine warme Mahlzeit. Hunde sind erlaubt. Im Gemeinschaftsraum im Souterrain können die Gäste den Abend verbringen. Es gibt dort ein warmes Essen, bevor sie von den Mitarbeitenden in die Schlafräume im ersten Stock begleitet werden.

Ich hatte schon lange überlegt, in der Notübernachtung als Ehrenamtliche zu helfen, jetzt bin ich endlich da. Gleich an meinem ersten Abend fragt mich Ben an der Ecke des Tresens, an dem ich das Essen ausgebe, ob ich denke, er sei ein Junkie. Ich schaue mir seine Haut an, seine Pupillen und die strahlend eisblauen Augen, die nicht besonders auffällig aussehen, und sage Nein.

Bens Frage ist rhetorisch. Er nehme seit fast zehn Jahren Heroin, erzählt er mir und zeigt mir beinahe stolz seine Unterarme. Man sehe die Einstichlöcher kaum, sagt er. Das stimmt. Ich beuge mich über den Tresen und habe Not, neben all den Tätowierungen die kleinen Löcher von der Spritze zu finden. Ich weiß nicht, was ich ihm entgegnen soll.

Die Art, wie er irgendwie stolz ist auf seine Drogensucht, verunsichert mich immer wieder. Ich will ihm helfen und weiß nicht, wie. Die vergangenen zwei Monate in der Kältehilfe und meine Verbindung zu Ben haben mir die Grenzen des Helfenwollens aufgezeigt – und ich habe gelernt, sie zu akzeptieren.

Ben ist mir auf Anhieb sympathisch. Er ist Mitte 20, hat ein verschmitztes, charmantes Lächeln. Er trägt immer eine Mütze über seinen blonden kurzen Haaren. Er hat etliche Tätowierungen, ist recht groß und, wie fast alle Obdachlosen, sehr schlank.

Zwei Hände voll Kleingeld

Ben kommt oft in die Notübernachtung in der Lehrter Straße 68. Tagsüber ist er in der U-Bahn unterwegs. Er schnorrt dort und verkauft Hefte gegen eine Spende. Er bekomme so recht viel Geld zusammen, erzählt er mir. Einmal zeigt er mir auch seine Tageseinnahmen, zwei Hände voll Kleingeld, darunter etliche 50-Cent-Stücke.

Um halb acht Uhr abends beginnt meine Schicht. Um diese Zeit warten schon etliche Obdachlose auf der Treppe hinunter ins Souterrain. Um neun Uhr gehen die Türen auf.

Die dort auf der Treppe warten, kommen aus unterschiedlichen Ländern. Viele von ihnen stammen aus Osteuropa, aus Russland und Polen. Die meisten sind junge Männer, aber es sind auch ältere darunter, denen das Leben auf der Straße ins Gesicht und in die Hände geschrieben steht.

Hände, Füße, Gesicht: die Körperteile, an denen sich ein Leben auf der Straße als Erstes zeigt. Die Obdachlosigkeit zehrt am Körper

Einige sind betrunken oder berauscht, manche wirken verwirrt. Sie reden mit sich selbst, haben Krätze, Läuse und Hepatitis C. Die meisten haben Probleme mit den Füßen. Das sind die ersten Körperteile, die bei einem Leben auf der Straße in Mitleidenschaft gezogen werden, lerne ich: Vielen mussten in der Kälte erfrorene Gliedmaßen amputiert werden. Das Leben auf der Straße zehrt extrem am Körper.

In der Notunterkunft gibt es einen medizinischen Notdienst und die Möglichkeit, sich zu duschen. Die Gäste können ein Fußbad nehmen, sie können sich rasieren, sich entlausen lassen und frische Kleider aus der Kleiderkammer bekommen. Etliche Gäste sind inkontinent, das bringt die Alkoholabhängigkeit oft mit sich. Einen Gast, der Läuse hatte, mussten wir neulich von oben bis unten neu einkleiden.

Ben ist ein Beispiel für einen Obdachlosen, der auf den ersten Blick weder berauscht noch verwahrlost wirkt. Andere Gäste müssen wir schon mal darauf hinweisen, sich zu duschen, bevor sie frische Kleidung anziehen, oder ihnen beim Waschen und Anziehen helfen.

Drogen und Alkohol sind tabu: Einlasskontrolle in der Notübernachtung I in der Lehrter Straße

Ein Shirt für Ben

Ich habe den Ehrgeiz, bei meiner Schicht in der Kleiderkammer den Gästen schöne und passende Klamotten herauszugeben. Man merkt schnell, wie die Laune und das Selbstbewusstsein wachsen, wenn sie etwas anhaben, das ihnen passt. Ich freue mich für sie, wenn sie sich vor mir im Kreis drehen und im Spiegel betrachten und sich bedanken. Ein Freund von mir hat etliche T-Shirts und Hosen aussortiert und mir mitgegeben. Ein Shirt davon geht an Ben. Er freut sich.

Erste Hilfe und Anlaufstellen

Über das Stadtgebiet verteilt gibt es verschiedene Anlaufstellen für Menschen mit Drogenproblemen. Einige Beispiele:

Karuna – Hilfe für suchtgefährdete und suchtkranke Kinder und Jugendliche e. V., Jessnerstr. 54, Friedrichshain.

BOA – Begegnung, Orientierung, Anfang. Offene Selbsthilfegruppen in Pankow, Erich-Weinert-Straße 145 und in Moabit, Stromstraße 47.

FrauSuchtZukunft – diverse Anlaufstellen für Mädchen und Frauen mit Suchtproblemen in Mitte, Dircksenstraße 47, in Schöneberg, Motzstraße 9 und im Wedding, Nazarethkirchstraße 42.

Integrierte Suchtberatung Lichtenberg, Möllendorffstr. 59. Wie der Name schon sagt, bei Suchtproblemen aller Art: Alkohol, Drogen, Spielsucht. (taz)

Da ich selber Punk bin, fällt mir der Umgang mit den Leuten von der Straße irgendwie leicht. Es gibt unter uns eine Art stille Übereinkunft von Augenhöhe und Vertrauen, die keine Sprachbarriere kennt. Trotzdem hatte ich am Anfang auch Berührungsängste: Der beißende Geruch vom Desinfektionsmittel, das wir Mitarbeitenden oft benutzen, erzeugt ein bisschen das Gefühl von Krankenhaus. Die sterilen Handschuhe, die wir alle fast ständig tragen, tragen zu diesem Gefühl bei. Immer wieder gibt es Momente, wo mir klar wird, dass manche Gäste in einem extrem desolaten Zustand sind. Viele haben frische Wunden, weil es immer wieder zu Streitereien zwischen ihnen kommt.

Die Zuwendung, die ich selber geben kann und will, fallen von Fall zu Fall unterschiedlich aus. Vor allem, wenn es um körperliche Berührungen geht, etwa darum, jemanden einfach mal in den Arm zu nehmen. Ben ist fast zu jeder meiner Schichten in der Stadtmission da. Er ist einer der Gäste, bei denen mir Zuwendung geben leicht fällt: persönliche Gespräche, eine gemeinsame Zigarette, eine Umarmung.

Wenn wir reden, nickt Ben immer mal wieder kurz weg. Das Wegnicken möge er gerne, das sei eine schöne Wirkung vom Heroin, sagt er. Ich soll ihn immer nochmal wecken, bevor meine Schicht eine halbe Stunde nach Mitternacht endet. Als ich einmal meinen Arm um seine Schultern lege, warnt er mich, er habe Wäscheläuse. Als ich zurückschrecke, lacht er über mich und sagt, er habe ja bloß einen Witz gemacht. Wenn mir die Menschen in der Notübernachtung sympathisch sind, vergesse ich manchmal, was ich mir vorgenommen habe: Handschuhe anzuziehen, Distanz zu halten.

An einem Abend soll ich bei einer gemeinsamen Zigarette an die Innenseite von Bens linkem Unterarm fassen. Da ist ein harter Knubbel unter der Haut. Ich spüre ihn deutlich. Hier habe er versehentlich mal danebengestochen, deswegen habe sich da eine Art Abszess gebildet. Da ist er wieder, dieser Stolz auf den Knubbel, auf seine Sucht. Vom Heroin spricht er wie von einer Freund*in. Nichts und niemand gebe ihm so viel Wärme und Geborgenheit, auch nicht sein Hund, dessen Porträt er als Tattoo auf dem Unterarm trägt, und auch nicht seine Ex-Freundin, mit der er eine Tochter habe. Er lächelt, wenn er von ihnen spricht. Ich glaube nicht, dass er sie oft sieht.

Es gebe kaum Schäden durch Heroin, will mir Ben immer wieder weismachen. Die Droge sei gar nicht so schlimm, wie alle sagen würden. Ich gucke an die Wand, an der Fotos und Namen von verstorbenen Gästen hängen. Viele von ihnen sind sehr jung, die meisten von ihnen in den 90er Jahren geboren.

Zwei Monate in der Kältehilfe machen mir meine Grenzen klar: Kann ich Menschen wie Ben helfen, wenn ich ihre Welt gar nicht verstehe?

Immer voll drauf

Ob das Runterkommen, wenn die Wirkung nachließe, nicht schrecklich sei, frage ich ihn ein wenig hilflos. Das sei doch ein Teufelskreis? Ich verstünde da was total falsch, sagt er mir daraufhin grinsend: „Ich komme niemals runter, ich bin immer drauf. Auch jetzt gerade.“ Das war mir nicht bewusst. Ich dachte, ich würde das merken, dass er mitten im Heroinrausch vor mir sitzt. Aber wie bei einem Alkoholiker scheint sich der Rausch mit dem Normalzustand assimiliert zu haben.

Das Drogen-Kultbuch des Berliner Künstlers Sick, „Shore, Stein, Papier. Mein Leben zwischen Heroin und Haft“, sei sein Lieblingsbuch, erzählt mir Ben. Er habe es aber verloren. Ich will das Buch lesen, vielleicht um das, was ich in der Kältehilfe erlebe, alles besser zu verstehen.

Seitdem ich in der Notübernachtung helfe, seitdem ich Ben kenne, mache ich mir immer wieder Gedanken: über die Droge und ob ich Menschen wie Ben helfen kann, wenn ich ihre Welt eigentlich gar nicht richtig verstehe.

Fälle wie die von Ben, so Julia Pudellek, stellvertretende Leitern der Notübernachtung in der Lehrter Straße, seien die, bei denen man durchaus noch Hoffnung haben könne. Denn Ben sei kognitiv immerhin noch in der Lage, einen Entzug anzutreten. Hilfloser machen die Sozialarbeiterin Fälle, in denen die Personen weder psychisch noch physisch in der Verfassung seien, Hilfe anzunehmen. Mein hilfloser Versuch jedenfalls, Ben den Spiegel vorzuhalten, ihm seine Abhängigkeit deutlich zu machen, sei selten von Erfolg gekrönt, sagt Pudellek.

Tödlicher Rausch

Das Bundeskriminalamt listet im Bundeslagebild Rauschgift 2017 – neuere Zahlen gibt es noch nicht – für Berlin 168 Rauschgifttote. Insgesamt lag die Zahl der Drogentoten in Deutschland bei 1.272.

Drogentote sind meist Männer (bundesweit 952). 173 Frauen und 147 Menschen unbekannten Geschlechts starben an Drogenmissbrauch. Durchschnittsalter: 39 Jahre.

Mehr als die Hälfte starb durch eine Vergiftung in Verbindung mit Opioiden/Opiaten, etwa Heroin. (taz)

Die Kältehilfe der Stadtmission sei aber auch eben nur eine Notunterkunft, betont Pudellek. Es gehe um die Notversorgung, den Schutz vor dem Kältetod draußen auf der Straße. Alles Weitere – Zuwendung, Beratung – könne nur ein Versuch bleiben bei bis zu 160 Gästen pro Abend.

Man müsse sich deshalb auch sehr klar machen, sagt Pudellek, mit welcher Motivation man hier selbst als Ehrenamtliche ankomme. Zudem zeige einem der körperliche und psychische Zustand der Obdachlosen schnell die Grenzen des Möglichen als Helfer*in auf.

Durchs Sozialsystem gefallen

Sie sagt, das werfe natürlich auch grundsätzliche Fragen auf: Warum Menschen überhaupt so weit durch die Maschen des Sozialsystems rutschen können, bis sie in der Notübernachtung der Kältehilfe landen.

Tatsächlich ist ja auch die öffentliche Anteilnahme am Elend dieser Menschen symptomatisch dafür: Im Sommer, wenn es warm ist und kein Obdachlose*r erfriert, fällt die mediale Aufmerksamkeit deutlich geringer aus. Wenn wir können, gucken wir weg.

Nach zwei Monaten in der Kältehilfe muss ich mir eingestehen: Ich kann als Helferin nur sehr bedingt etwas tun – sogar dann, wenn ich mich Menschen wie Ben verbunden fühle. Mir wird klar, dass alles, was ich sage, um Ben vielleicht umzustimmen, nichts bringen wird und dass seine Selbstwahrnehmung durch die Droge getrübt ist. Ich bin mir nicht mal sicher, wann er lügt und wann er die Wahrheit sagt. In seiner Welt dreht sich alles darum, an den nächsten Schuss zu kommen.

Aber auch wenn die Notunterkunft nur wie eine Feuerwehr arbeiten kann, die hier und da kleine Brände löscht: Ich werde weitermachen in der Lehrter Straße, auch im kommenden Winter. Während meiner letzten beiden Schichten war Ben nicht da. Ich hoffe, dass er wieder auftaucht. Obwohl, wenn ich ehrlich bin, würde ich ihn lieber auf Entzug besuchen und ihn danach mal mit unseren Hunden im Park treffen als in der Lehrter Straße.

*Name geändert

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