Erfahrungen als Erzieherin: Mehr Unterstützung für die Kinder!
Ihr Leben lang hat Jutta Wüst als Erzieherin gearbeitet. Ihre Forderung: Wir brauchen endlich einen Systemwechsel.
Dieser Text ist Teil einer freundlichen Übernahme. Die taz Genossenschaft wird in diesem Jahr 30 Jahre alt. Zum Feiern haben 18 unserer über 22.200 Eigentümer*innen eine eigene taz gemacht. Die ganzen 16 Seiten gibt es am 2./3. Juli am Kiosk oder hier.
Wir müssen mehr Verantwortung für unsere Kinder und Jugendlichen übernehmen. Sie sind die Zukunft. Sie politisch unterstützen, beschützen, uns privat für sie einsetzen, für ihre Rechte kämpfen. Denn all das wird eine riesige Wirkung haben, die wir auch als Antwort spüren werden.
Wer wirklich seine Aufmerksamkeit auf sie richtet, wird erleben, dass es einfach ist, sie in ihrem Aufwachsen zu unterstützen. Doch obwohl es so einfach und wichtig scheint, wird im Kinder- und Jugendbereich politisch so vieles verkehrt gemacht. Das konnte ich in meinem Beruf miterleben.
Ende der 70er Jahre schloss ich meine Ausbildung zur Erzieherin ab. Im Laufe der Jahre arbeitete ich unter anderem in einem „Vollheim für schwer erziehbare männliche Jugendliche“. Dort wurde ich für die geschlossene Abteilung eingeteilt. Hierher kamen Jungen im Alter von 13 bis 18 Jahren, die in sehr schwierigen Verhältnissen herangewachsen oder straffällig geworden waren. Zucht und Ordnung war das oberste Prinzip. Hilfe oder Therapie bekamen die Jugendlichen nicht. Abgeschafft wurden diese Heime erst 1980.
1985 wurde ich Mutter. Ein riesiges Glück, allerdings war ich alleinerziehend und berufstätig. Mit einer 30-Stunden-Woche als Erzieherin auf einem Bauspielplatz und meinen Kindern also voll ausgelastet. Auf den Spielplatz kamen täglich Kinder aus den Sozialwohnungen in der Nähe, die die gesamte Öffnungszeit über blieben. Zu Hause kümmerte sich niemand um sie, gab es nur Streit, Gewalt, Vernachlässigung, Drogensucht.
Ausbeuterische Arbeitsbedingungen
Einfluss nehmen konnten wir kaum. Nur in zwei Fällen gelang es uns in Zusammenarbeit mit dem Jugendamt, zwei Geschwister aus einer übergriffigen, gewalttätigen Familiensituation zu befreien. Da wir nur zu zweit oder zu dritt als Pädagogen vor Ort für sehr viele Kinder zuständig waren, wurde vielen nicht geholfen.
Später arbeitete ich in familienanalogen Lebensgemeinschaften; kleine Wohngruppen von meistens vier Kindern, die nicht bei ihren Familien leben können. Für diese Kinder die allerbeste Lösung. Nicht erfreulich und letztendlich unerträglich sind allerdings die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen, die schlechte Bezahlung und die fehlende Anerkennung in der Gesellschaft für die BetreuerInnen. Wir waren zwei KollegInnen, die rund um die Uhr im Wochenwechsel arbeiteten.
Am Ende meines Berufslebens arbeite ich jetzt in einer sozialtherapeutischen Wohngemeinschaft mit aus der Psychiatrie entlassenen Jugendlichen ab 14 Jahren. Wie am Anfang meines Berufslebens treffe ich auf junge Menschen, die kaum eine Chance haben, ein lebenswertes Leben zu führen.
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Nicht, weil sie „schwer erziehbar“ sind, sondern weil sie schwierige Ausgangsbedingungen hatten, ihre Seele, vielleicht auch ihr Körper sehr früh schon Schaden genommen haben.
Heute bin ich vierfache glückliche Großmutter. Das Erlebte hat mich bestärkt: Wir brauchen dringend ein anderes System, das unsere Kinder und Jugendliche in den Fokus stellt, von Anfang an und auf allen Ebenen unterstützt, schützt und fördert. Alle müssen mithelfen, die Kinder sind unser aller Zukunft!
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