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Erdoğan attackiert Grünen-Chef erneutÖzdemir als „charakterlos“ bezeichnet

Der türkische Staatschef pöbelt gegen Cem Özdemir. EU-Parlamentschef Schulz und Bundestagspräsident Lammert reagieren scharf auf Erdoǧans Angriffe.

Pöbelt weiter: Erdoǧan Foto: ap

Straßburg/Istanbul/Berlin afp/dpa | Nach der Völkermordresolution des Bundestags hat der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoǧan den Grünen-Vorsitzenden Cem Özdemir erneut scharf angegriffen. Er warf Özdemir vor, „charakterlos“ zu sein, ohne ihn beim Namen zu nennen. In einer Ansprache vor Dorfvorstehern am Mittwochabend in Ankara umschrieb der Staatschef den türkischstämmigen Özdemir als „den Mann, der in Deutschland sein eigenes Land des Völkermordes beschuldigt und bei so einer Entscheidung die führende Rolle spielt“.

Erdoǧan fügte hinzu: „Ich frage, was ist er, wenn nicht charakterlos?“ Er verwendete wie schon zuvor einen Begriff („kani bozuk“), der sowohl als „charakterlos“ als auch als „verdorbenes Blut“ übersetzt werden kann. Der Präsident betonte am Mittwochabend, er habe den Begriff nicht in seiner biologischen Variante und vor allem nicht rassistisch verwendet. „In unserer Kultur bezieht sich der Begriff ‚kani bozuk‘ auf den Charakter.“

Allerdings hatte Erdoǧan am Sonntag, drei Tage nach der Abstimmung im Bundestag, Blutproben jener türkisch-deutschen Abgeordneten gefordert, die für die Resolution gestimmt hatten. „Ihr Blut muss durch einen Labortest untersucht werden“, forderte er und stellte damit ihre türkische Herkunft in Frage. Die Forderung hatte in Deutschland heftige Kritik ausgelöst.

In der Armenien-Resolution des Bundestags werden die Massaker an den Armeniern im Osmanischen Reich 1915 als Völkermord eingestuft.

Schulz wirft Erdoǧan „absoluten Tabubruch“ vor

Mit scharfen Worten hat nun auch der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz (SPD), auf die verbalem Attacken des türkischen Staatschefs gegen Abgeordnete des Bundestags reagiert. „Parlamentarier, die sich im Rahmen ihres Mandats positionieren, dürfen unbeschadet etwaiger Meinungsverschiedenheiten in einer politischen Frage keinesfalls in die Nähe von Terroristen gerückt werden“, heißt es in einem Brief von Schulz an Erdoǧan, aus dem Spiegel Online am Donnerstag Auszüge veröffentlichte.

Er habe „mit großer Sorge“ Berichte zur Kenntnis genommen, nach denen Erdoǧan Bundestagsabgeordnete wegen ihres Abstimmungsverhaltens verbal angegriffen hat, schreibt Schulz weiter. „Ein solches Vorgehen stellt einen absoluten Tabubruch dar, den ich aufs Schärfste verurteile.“ Die freie Mandatsausübung von Abgeordneten sei ein „entscheidender Grundpfeiler unserer europäischen Demokratien“.

In dem Brief stellt sich Schulz vor die angegriffenen Bundestagsabgeordneten, aber auch vor oppositionelle türkische Parlamentarier, deren Immunität diese Woche per Gesetz aufgehoben wurde. Eine Reihe der betroffenen Parlamentarier „zählen zu meinen langjährigen Kollegen und stehen mir zum Teil auch persönlich sehr nahe“, schrieb der Präsident des Europaparlaments. „Ich fühle mich verpflichtet, diese Kolleginnen und Kollegen, wo es mir möglich ist, zu schützen.“

Auch Lammert findet deutliche Worte

Nach den deutlichen Worten von Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) zu den verbalen Angriffen aus der Türkei gegen Bundestagsabgeordnete hat die Linke ihren Antrag auf eine aktuelle Stunde zu dem Thema zurückgezogen. Die Erklärung Lammerts sei „stark und treffend“ gewesen, sagte Linken-Fraktionssprecher Michael Schlick am Donnerstag der Nachrichtenagentur AFP. „Das reicht.“

Die Linke hatte eine Aktuelle Stunde beantragt zur Bedrohung von Bundestagsabgeordneten infolge der Armenien-Resolution des Bundestags. Die Diskussion sollte eigentlich am Mittag stattfinden. Zu Beginn der Sitzung äußerte sich Lammert jedoch zu dem Thema und kritisierte den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoǧan scharf.

Die „zum Teil hasserfüllten Drohungen und Schmähungen“ besonders gegen türkischstämmige Abgeordnete seien auch durch Äußerungen hochrangiger türkischer Politiker gefördert worden, sagte Lammert. „Dass ein demokratisch gewählter Staatspräsident im 21. Jahrhundert seine Kritik an demokratisch gewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestages mit Zweifeln an deren türkischer Abstammung verbindet, ihr Blut als verdorben bezeichnet, hätte ich nicht für möglich gehalten.“

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4 Kommentare

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  • Glückwunsch! Da scheint er doch was richtig gemacht zu haben, der gute Cem Özdemir, wenn einer wie Erdoǧan gegen ihn pöbelt. Völlig „charakterlos“, jedenfalls, kann ein Mensch gar nicht sein, wenn ein anderer es nötig findet, ihm den Charakter abzusprechen.

     

    Und sollte doch nicht die Rede vom Charakter gewesen sein, sondern eine vom „Blut“, das angeblich „verdorben“ ist, dann um so besser für Herrn Özdemir. Dann läuft er wenigstens nicht Gefahr, auf irgendwelchen Altären geopfert zu werden vom Obertürken Erdoǧan.

     

    Dass einzelne deutsche Hinterwäldler ähnlich ticken wie dieser archaisch auftretende Möchtegern-Pascha, der offenbar nicht weiß, wo sein eigener Machtbereich seine Grenzen hat, müsste für einen Spitzenpolitiker in Deutschland jedenfalls das größere Problem sein – wenn denn eine wesentliche Zahl deutscher Wähler ähnlich vorsintflutlich drauf wäre wie der Typ vom Bosporus.

     

    Schön, immerhin, dass Martin Schulz und Norbert Lammert sich nicht ebenso rückgratlos verhalten, wie die Mehrheit der türkischen Parlamentarier bzw. Wähler. Sieht aus, als hätte wenigstens diese Beiden was gelernt aus der Geschichte. Kunststück. War ja auch eine deutsche.

     

    Kanzlerin Merkel stünde es übrigens gut, wenn sie an dieser Stelle übernehmen würde – und führen. Dieser Vertrag, den sie zu schützen sucht, war schließlich von Beginn an eine dämliche Idee. Sie sollte dieses Experiment spätestens jetzt abbrechen, statt es gleich mehrfach zu kopieren. Was raus kommt bei so etwas, ist jetzt schließlich klar.

  • Man kann sich nur wundern. Ein Mann der die Türkei jahrelang modernisiert hat fällt auf das Level eines Diktators zurück. Ein Fall für den Psychiater oder eine geriatrische Aufgabe?

    Wir werden es nie erfahren, leider wieder mal ein Fall von Machtbesoffenheit im Alter und zunehmender Beschränkung des intellektuellen Horizonts?

    Er kann von den süßen Kirschen nicht lassen der alte Mann. Also doch mal darüber nachdenken die Dauer von Ämtern und politischer Aktivität zu begrenzen.

     

    Und den jüngeren Leuten kann man nur zurufen den Nationalismus durch Mut zu Neuem zu ersetzen.

    Kurzum: Wir bleiben interessierter Beobachter. Mehr ist nicht drin, sorry Turkey.

    • @Tom Farmer:

      Erdogan merkt nur wie viele andere Politiker auch, dass zur Zeit mit Emotionen besser zu wuchern ist als mit Appelle an die Vernunft. Er ist da wahrlich nicht der Einzige und wird gewiss auch nicht der Letzte sein, der das merkt.

       

      Und spielt da ein sehr geschicktes Spiel mit der Macht, die die Türkei als Drehpunkt an vielen Stellen hat. Letztlich facht er Träume eines neuen Osmanischen Reichs an, denen viele Türken durchaus nachhängen, und das Herausfordern und Provozieren ist Teil dieses Tanzes. Ob es auf lange Sicht klug ist, Wind zu säen, sei dahingestellt.

  • Schreibt Erdogan bei Gauland ab, oder Gauland bei Erdogan? Wie dem auch sei, fanatischer Nationalismus führt regelmäßig zu geistiger Verwirrtheit.