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Erdbeben und VerantwortungDie Sache mit dem Schicksal

Höhere Gewalt entzieht sich der Einflussnahme. Doch das Ausmaß der Erdbebenkatastrophe in der Türkei hat von Menschen gemachte Ursachen.

Erdoğan in Kahramanmara am Mittwoch, 3 Tage nach dem Erdbeben Foto: Murat Cetinmuhurdar/reuters

I m Türkischen gibt es diese Redewendung: Geografie ist Schicksal. Es ist ein wehmütiger Spruch, einer, der sich vor allem auf die negativen Einflüsse bezieht, die die geografischen Bedingungen eines spezifischen Orts auf die dort lebenden Menschen haben. Unausgesprochen impliziert er, dass es dem Menschen in einer anderen Region, einer westlicheren etwa, besser ergehen würde.

Zugleich verneint aber der Schicksalsgedanke, dass die Situation änderbar ist. Die Vorbestimmung entzieht sich der Entscheidungsfreiheit des Menschen, weshalb eine Auflehnung oder Vorkehrungen sinnlos sind: Es ist schrecklich, wie es ist, aber so ist es nun einmal.

Von Schicksal sprach auch der türkische Präsident Erdoğan am Mittwoch, als er mit drei Tagen Verspätung im Epizentrum des verheerenden Erdbebens, im kurdisch-alevitischen Pazarcık, eintraf. Keine Frage, das Wort passt wunderbar zur religiösen Haltung der Regierungspartei AKP sowie zum politischen Vokabular eines Staatsoberhaupts, das die eigene Autorität mit dem Gehorsamsprinzip der Gottesfürchtigen zu rechtfertigen sucht.

Aber es gehört schon eine besondere Dreistigkeit dazu, vor eine Gruppe von Menschen zu treten, die seit Tagen bei Minusgraden auf den Katastrophenschutz warten, weil ihre Angehörigen in den Trümmern ihrer Häuser begraben sind, vielleicht noch schreiend, vielleicht bereits erfroren, und von Schicksal zu reden – anstatt von Verantwortung.

Gewiss lässt sich der genaue Zeitpunkt und Ort eines Erdbebens nicht berechnen, verhindern lässt sich ein Erdbeben auch nicht. Insofern entzieht es sich jeder Willenskraft, existiert als höhere Gewalt. Doch lässt sich durchaus erforschen, in welchen Regionen stärkere Erdbeben erwartet werden, und dass die Türkei sich in einer tektonischen Hochrisikozone befindet, ist hinlänglich bekannt. Vorkehrungen können getroffen werden.

AKP und Korruption

Das Erdbeben mag ein naturgegebenes Schicksal sein, das Nichteintreffen des Katastrophenschutzes in weiten Teilen des Landes ist es nicht. Das Einstürzen angeblich erdbebensicherer Hochhäuser ist es auch nicht. Und die Einschränkung der sozialen Netzwerke, wo Betroffene Informationen mit potenziellen Helfer_innen teilten, ist alles andere als Schicksal. Die Sperrung wurde staatlich angeordnet, wie das Ministerium für Kommunikation am Mittwochabend bestätigte. „Desinformation“ lautet die offizielle Begründung; Regierungskritik unterbinden, vermuten Oppositionelle.

Unterlassene Hilfeleistung ist das Eine. Vorkehrungen bewusst abzulehnen, um sich an den dafür nötigen Ressourcen zu bereichern, das Andere. Seit dem Korruptionsskandal Ende 2013 ist bekannt, dass die Familie Erdoğan und einige AKP-Minister profitable Beziehungen zum Bausektor pflegen. Zudem werden Fragen laut, wo die seit dem letzten großen Erdbeben 1999 erhobenen Erdbebensteuern abgeblieben sind. 37 Milliarden US-Dollar sollen seitdem von den Bürger_innen eingesammelt worden sein, für eine erdbebensichere Bebauung.

Ex-Finanzminister Mehmet Şimşek behauptet in einem gerade wieder aufgetauchten Video von 2011, das Geld sei zweckentfremdet und teilweise für das Rückzahlen von Staatsschulden verwendet worden. Allein die Gegenüberstellung der staatlichen Haushaltsmittel der Religionsbehörde Diyanet (35 Milliarden türkische Lira) und des Katastrophenschutzes Afad (8 Milliarden) verdeutlicht, wie wenig den Staat das körperliche Wohlergehen seiner Bürger_innen kümmert.

„Der Mensch braucht Gott. Er ist machtlos gegen das Schicksal“, heißt es an einer Stelle in Bertolt Brechts „Die Mutter“. Brecht, dessen 125. Geburtstags dieser Tage gedacht wird, begreift das Schicksal aber nicht als unabwendbares Los, sondern als ein durch Humanismus formbares, wenn er antworten lässt: „Wir sagen: Das Schicksal des Menschen ist der Mensch.“

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Fatma Aydemir
Redakteurin
ehem. Redakteurin im Ressort taz2/Medien. Autorin der Romane "Ellbogen" (Hanser, 2017) und "Dschinns" (Hanser, 2022). Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift "Delfi" und des Essaybands "Eure Heimat ist unser Albtraum" (Ullstein, 2019).
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6 Kommentare

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  • und, so gott will ...

    wird in einem jahr alles wieder augebaut sein (o-ton des türkischen präsidenten).

    überall also hat der liebe vater im himmel seine finger im spiel.

    was für ein glück nur, daß der türkische präsident sich immer in die zweite reihe derer die verantwortung tragen sollen stellen kann.

    wiederwahl gesichert.

  • Und trotzdem wählen die Türken Erdoğan .

  • Jetzt mal unabhängig von Korruption und mangelnder Vorsorge. Immer wenn in der jüngeren Vergangenheit in Beiträgen des ÖR TV Erdbebenforscher und andere Experten aus der Türkei und zum Gebiett der Türkei was gesagt haben wurde auf die Gefahren am Bosporus hingewiesen und dass wenn jetzt irgendwas passiert es sehr heftig wird, weil sich schon lange tektonsiche Spannungen aufgebaut haben.



    Da lässt sich in den Mediatheken sicher noch einiges zu finden.

  • Ein gutes Beispiel, wie die Bevölkerung in einer Erdbebenregion geschützt werden kann,ist Chile. Da gibt es ca. alle 20 Jahre ein Erdbeben dieser Stärke,aber kaum Todesopfer. Die Menschen und Gebäude sind darauf vorbereitet. Und obwohl das Land nicht zu den reichsten, im Unterschied zu Japan, gehört, gibt es genügend Ressourcen für Katastrophenschutz.



    Also wirklich kein Kismet! Erdogan schlachtet die Not mal wieder politisch aus. Man kann nur hoffen,dass ihn die Menschen in der Türkei bald abwählen.

  • 6G
    655170 (Profil gelöscht)

    "Das Schicksal des Menschen ist der Mensch."



    Erdogan aber, obwohl Mensch im biologischen Sinne, ist keineswegs das Schicksal der Türken und der Türkei.



    Der Grund des allermeisten Übels in der Türkei ist er allerdings.



    Aber nicht Schicksal.



    Das Schicksal ist die Dummheit all jener, die ihm trotz offensichtlicher Inkompeenz, andauernden Versagens und egomanisch-autokratischer Staatsführung immer noch anhängen.

  • Und wenn man nur mal im Kopf vage überschlägt, dass, aus welchen Gründen auch immer, eine hohe dreistellige Millionenzahl von Menschen weiter in Häusern lebt, die sie in Erdbebenregionen zu erwartbaren Opfern machen wird. Heute, oder morgen, oder in 50 Jahren.

    Die Lösung? Japan hat sie wohl für sich gefunden. Aber wie soll die weltweit umgesetzt werden?

    Eine rhetorische Frage.



    Ich sehe nicht, dass irgendwo mit Nachdruck die Antwort gegeben wird. Gewiss nicht aus dem wohlhaben Teil der Welt. Wir haben andere Pläne für den globalen Süden, und die drehen sich, in bekannter Manier, um uns. Um nur mal den sog. Grünen Wasserstoff zu nehmen, der bitte in rauhen Mengen exportiert werden soll dereinst, anstatt, dass seine Energiequelle, der lokal erzeugte Strom, mit wesentlich größerem Effekt, in den Ländern primär selbst eingesetzt werden soll.



    Das würde ja die Globalisierung, Industrialisierung und ähnliches Teufelszeug befördern und läuft unserem romantischen Bild zuwider, in dem wir edelmütig die Klimakatastrophe von diesen Menschen "dort unten" abwenden werden. Von unserer Aussenministerin z. B. vor Ort am fragilen Sandstrand von Tivalu versprochen.