Entwicklung von Coronamedikamenten: Am besten als Tablette
Die Impfquote dümpelt, die Maßnahmen nerven – und die Inzidenz steigt. Zeit für die Frage, was eigentlich aus den neuen Mitteln gegen Covid wurde.
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Jens Spahn war merklich stolz. Die neuen Corona-Arzneien würden ab der folgenden Woche „in Deutschland als erstem EU-Land eingesetzt“, sagte der Bundesgesundheitsminister im Januar dieses Jahres. 200.000 Dosen sogenannter monoklonaler Antikörper hatte die Bundesregierung gerade eingekauft, fast eine halbe Milliarde Euro war der Spaß teuer gewesen.
Man wolle Risikopatienten mit dem Mittel schützen, hieß es. Mit der Arznei und den Impfungen, so sah es damals aus, würde man sich der Pandemie endlich entledigen können. Ein Fall, der leider nie eintrat. Vielversprechende Medikamente gab es zwar noch häufiger. Das Virus breitet sich dennoch wieder stark aus. Was also wurde aus den neuen Arzneien, die das Überleben trotz Infektion sichern können?
Kandidaten gab und gibt es reichlich. Der Verband forschender Arzneimittelhersteller in Deutschland zitiert aktuell die ungeheure Zahl von 625 Wirkstoffen, die als Therapeutika gegen eine Corona-Infektion oder Coviderkrankung erforscht werden, teils sogar schon an Patienten. Und ein Expertenteam der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA listet zehn dieser Wirkstoffe bereits als „vielversprechend“. Das ist zwar keine große Ausbeute. Aber ein paar wirksame Mittel, und seien es zwei oder drei, würden ja womöglich schon helfen im Angesicht der kommenden Wintermonate.
Da ist zunächst die Tablette mit dem – wie üblich unaussprechlichen – Namen Molnupiravir. Es handelt sich um ein Mittel, das grob gesagt die Vermehrung des Virus sabotiert und damit zur Gruppe der antiviralen Therapeutika gehört, also zu jenen Stoffen, die direkt am Erreger ansetzen. Die bislang unveröffentlichten Daten aus einer großen Phase-3-Studie hatten Anfang Oktober Aufsehen erregt, unter anderem, weil die Studie wegen der offenkundigen Wirksamkeit des Mittels vorzeitig abgebrochen wurde. Molnupiravir verhindert demnach die Hälfte aller Hospitalisierungen und damit auch einen Teil der Todesfälle. Das ist mehr als jede andere Corona-Arznei bislang geschafft hat.
Vorteil Tablette
„Molnupiravir kann einen Unterschied machen“, sagt der Molekularbiologe Patrick Cramer vom Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen. Cramer ist Experte für eines der Schlüsseleiweiße in der Vervielfältigung genetischer Informationen, genannt RNA-Polymerase. Auch Viren wie Sars-CoV-2 besitzen ein solches Enzym, es kopiert die Erbinformation des Erregers für die nächste Virengeneration. Molnupiravir wird während des Kopiervorgangs als falscher Baustein in die neue RNA eingebaut und produziert Fehler. So wird verhindert, dass vermehrungsfähige Viren entstehen. Ein großer Vorteil der neuen Tablette: Es ist eine Tablette. Orale Medikamente sind wesentlich leichter anzuwenden als Infusionen oder Spritzen.
Doch natürlich gibt es auch ein paar Haken. Einer ist, dass Molnupiravir, wie viele der jetzt beforschten Medikamente, nicht gegen Sars-CoV-2 entwickelt wurde und deshalb womöglich weniger gezielt wirkt, als es eigens für das Pandemievirus entwickelte Arzneien könnten. In diesem Fall hatte Hersteller Merck den Wirkstoff gegen die Grippe entwickelt.
Selbiges gilt für Favipiravir, das vor mehr als 20 Jahren von einer Fujifilm-Tochterfirma in Japan auf den Markt gebracht wurde. Favipiravir kam ab 2014 auch gegen Ebola zum Einsatz, in der gleichen Epidemie, die Remdesivir hervorbrachte. Remdesivir von Gilead wiederum galt lange als große Hoffnung gegen Covid, allerdings ist inzwischen gezeigt, dass es die Sterblichkeit nicht senkt. Wie Favipiravir und Molnupiravir wirkt es an der RNA-Polymerase von Sars-CoV-2. PF-07321332 von Pfizer, einer der wenigen wirklich neuen Wirkstoffe, zielt auf ein anderes Enzym des Virus, die Tablette wird derzeit in Studien erprobt.
„Entscheidend ist, dass die Polymerasehemmer und das Pfizermedikament nur helfen können, wenn sie frühzeitig im Infektionsverlauf eingesetzt werden“, sagt Ralf Bartenschlager von der Universität Heidelberg. Im späteren Infektionsstadium sei nur noch wenig Virus da, das Medikament laufe ins Leere. Der Präsident der Gesellschaft für Virologie sieht an dieser Stelle auch ein zentrales Problem der Wirksamkeitsstudien. „Wenn sie diese Wirkstoffe an bereits schwer Erkrankten erproben, wird man kaum einen Nutzen erkennen“, sagt Bartenschlager. Besser sei es, die Arzneien in den ersten Tagen nach der Ansteckung zu testen, an Patienten zudem, die zusätzliche Risikofaktoren mitbringen. Für sie könnten früh verabreichte Wirkstoffe schwere Verläufe verhindern.
Ungenutzt liegengeblieben
Ähnliches gilt für die monoklonalen Antikörper, die Spahn im Januar für teures Geld eingekauft hat. In den Augen von Patrick Cramer stellen sie tatsächlich einen der wenigen echten Fortschritte in der aktuellen Medikamentenentwicklung dar, zumal sich die Abwehreiweße schnell verändern und neu anpassen lassen. „Die Entwicklung neuer kleiner Moleküle dagegen dauert 15 Jahre und ist extrem mühselig“, sagt Cramer. Doch die Antikörper, von denen mittlerweile zahlreiche wirksame existieren, gibt es nicht als Tablette. Sie müssen kurz nach Beginn der Infektion infundiert, also über Stunden in die Blutbahn verabreicht werden. In der hausärztlichen Versorgung fehle dafür oft die Infrastruktur, sagt Cramer. Die von der Bundesregierung gekauften Antikörper sind deshalb wohl meist ungenutzt liegengeblieben.
Einen Hoffnungsschimmer aber gibt es doch. Er heißt AZD7442, ist eine Kombination zweier monoklonaler Antikörper und wird nicht infundiert, sondern in den Muskel gespritzt. Dort bildet die Arznei von AstraZeneca eine Art Depot. Ersten Studienergebnissen zufolge schützt AZD7442 Infizierte mit hohem Risiko gut vor einem schweren Verlauf, wenn es frühzeitig gegeben wird. Und es könnte sich auch als Prophylaxe eignen, denn die Antikörper verbleiben über Monate im Körper.
„Für Ältere und Vorerkrankte, die trotz drei- oder viermaliger Impfung keinen guten Schutz aufbauen, könnte AZD7442 ein Segen sein“, sagt Clemens Wendtner von der München Klinik Schwabing. Der Infektiologe sieht aber wiederum auch einen Wermutstropfen: Die USA hätten bereits reichlich AZD7442 reserviert. Auch Frankreich soll bereits einen Zuschlag für die Arznei haben, weil Teile der Studien dort stattfanden. Deutschland dagegen hat Wendtner zufolge noch keine Option auf das Mittel. „Wir werden dieses Antikörperpräparat vermutlich erst 2022 bekommen“, sagt Wendtner. Zu spät, um die unfreiwillig Ungeschützen in der nun beginnenden Welle gegen das Virus zu wappnen.
Mit den steigenden Infektionszahlen wird es also wieder mehr schwere Verläufe geben. Ernst erkrankte Covidpatienten leiden jedoch weniger unter einem sich vermehrenden Virus, sondern mehr unter der eskalierenden Antwort ihres eigenen Immunsystems auf die schon nachlassende Infektion. Die Intensivmedizin ist mithin eine andere Therapiewelt, hier wird nicht mehr mit dem Virus gekämpft, sondern mit dem menschlichen Körper. Noch fast zwei Jahre nach Beginn der Pandemie ist es ein ernüchternder Kampf, denn wirksame Medikamente fehlen hier fast vollständig.
Kein Gamechanger in Sicht
„Im Großen und Ganzen stehen uns derzeit zweieinhalb Wirkstoffe zur Verfügung“, sagt Stefan Kluge vom Universitätsklinikum Eppendorf. Entsprechend der aktuellen Leitlinie für stationäre Covid-19-Behandlungen setzt der Intensivmediziner wie alle Kollegen entzündungshemmende Mittel in der Therapie schwer Erkrankter ein. In erster Linie ist das Dexamethason, ein klassisches Kortisonpräparat. Hinzu kommt je nach Verlauf ein Rheumamittel. Neben den Blutverdünnern, die Thrombosen verhindern sollen, ist die Medikation damit im Grunde schon ausgeschöpft. „Wir können die Sterblichkeit etwas senken“, sagt Kluge. „Aber einen Gamechanger haben wir nicht. Ich erwarte auch nicht, dass er noch kommt“.
Unterdessen erfüllt sich eine Prognose von Clemens Wendtner. Er hatte im September vor einem erneuten starken Anstieg der Infektionszahlen gewarnt – und davor, dass es dann auch wieder mehr schwere Verläufe und Intensivpatienten gebe. „Ich wünschte, ich hätte unrecht gehabt“, sagt der Infektiologe. Die Klinik im zentralen Stadtteil Schwabing betreue inzwischen wieder 42 Covidpatienten, Ein Drittel davon liege auf der Intensivstation, fast ausschließlich Ungeimpfte.
Noch sei die Lage unter Kontrolle. Aber einer neuen Belastung werde man nicht mehr so gut gewachsen sein wie noch im vergangenen Jahr. „Wir haben 20 Prozent Kündigungen im Bereich der Intensivpflege“, sagt Wendtner. Auch die Zahl der Intensivbetten mit Beatmungsgeräten in Deutschland sei um ein Viertel zurückgegangen.
Niemand weiß, ob nicht doch noch ein Ruck durch die Menge der Unentschlossenen geht, auf dass die Impfquote bis Weihnachten erheblich steigt – was sowohl Wendtner als auch Bartenschlager, Cramer und Kluge als einzige echte Option sehen, derzeit, um Schlimmeres zu verhindern. Nach so einem Ruck sieht es aber nicht aus. Wie meinte Jens Spahn noch, im Januar dieses Jahres? „Wir hatten alle zusammen das trügerische Gefühl, dass wir das Virus gut im Griff hätten“, sagte der Minister damals. „Die Wucht, mit der Corona zurückkommen könnte, ahnten wir, wollten es aber in großer Mehrheit so nicht wahrhaben.“
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