: Entwickeln. Nicht vergleichen
Zum Lernen fahren Deutsche jetzt in den Norden, nach Finnland oder Schweden. Auch GAL-Bildungsexperte Armin Oertel besuchte schwedische Schulen. Denn die liegen bei der Studie PISA International auf Rang neun – zwölf Plätze vor Deutschland
Interview: SANDRA WILSDORF
taz: Was ist denn nun so anders an den schwedischen Schulen?
Armin Oertel: Eigentlich das ganze Schulsystem. In Schweden gibt es seit den 60er Jahren eine Schule für alle. Die Kinder kommen mit sechs Jahren in die Vorschule und werden mit sieben eingeschult. Und dann gehen sie neun Jahre in die Grundschule. Danach wechseln 95 Prozent noch weiter aufs Gymnasium.
Es ist kaum zu glauben, aber etwa 74 Prozent der schwedischen Jugendlichen machen dort auch ihr Abitur. Anders ist übrigens auch, dass die Professionen viel enger als bei uns kooperieren. ErzieherInnen, LehrerInnen und SozialpädagogInnen werden alle an Universitäten ausgebildet und haben sogar das gleiche Grundstudium.
Das heisst, in der Schule für alle werden unterschiedlich begabte Kinder gemeinsam unterrichtet?
Ja – die Schülerinnen lernen dabei zum Teil auch in altersgemischten Gruppen. Und wenn eine mit ihrer Aufgabe fertig ist, dann gibt der Lehrer ihr eben noch eine. Auf diese Weise werden die Schwachen ebenso wie die Leistungsstärkeren gefördert und gefordert. Und bis zur achten Klasse gibt es keine Noten, aber in Gesprächen und Berichten gibt es regelmäßige Rückmeldungen an die SchülerInnen und ihre Eltern. Deshalb geht es auch nicht um das ständige Vergleichen mit anderen Schülern, sondern darum, wie sich die Kinder individuell entwickeln.
Im Mittelpunkt steht das individuelle Fortkommen. Dafür haben alle SchülerInnen eine eigene Mappe – eine Art Portfolio – in der ihre Arbeitsfortschritte dokumentiert sind. Ein Schulleiter hat das so beschrieben: ,Wir haben Respekt vor den Schülern, wollen sie nicht beschämen. Dabei gehen wir immer auf die Suche nach dem Guten‘.
Aber wie werden da Standards gesichert?
Die Schulen haben Bildungsziele, die sie von der nationalen Bildungsagentur Skolverket bekommen. Beispielsweise muss ein Kind in Klasse 5 soundso gut lesen, das und jenes rechnen können. Wie die einzelne Schule das erreicht, ist ganz ihr überlassen. Ob sie es schafft, wird von nationalen Schulinspektoren überprüft: Alle Schüler werden nach der neunten Klasse verbindlich und nach der fünften freiwillig getestet. Trotzdem machen fast alle mit. Und das Interessante ist, dass am Ende trotz unterschiedlicher Methoden die Leistungsstandards im ganzen Land sehr homogen sind.
Wie sieht es mit Kindern aus, die die Schule wechseln müssen?
Das haben wir auch gleich gefragt, die Schweden hat das eher gewundert. Denn das Problem sehen die mit ihrem System gar nicht: Ein Kind kommt auf eine neue Schule und wird so lange besonders gefördert, bis auf dem Stand der anderen ist.
Wirken schwedische Schüler motivierter?
Ja, sehr. Wir haben auch eine Schule mit 98 Prozent Migrantenkindern besucht. Da war beispielsweise auffällig, wie gut die alle Englisch sprechen. Der Schulleiter hat das mit Respekt vor den Kindern erklärt: ,Das Wichtigste ist, dass sie es spüren, dass sie als Menschen etwas wert sind, nicht nur als Schüler. Dann lernen sie auch etwas.‘
Wie schaffen die Schulen Motivation?
Es gibt häufig eine ganz andere Identifikation mit der eigenen Schule. Beispielsweise auch dadurch, dass die Schüler ihre eigene Schule verschönern und sauber halten. An einer eigentlich häßlichen Schule hatten beispielsweise die Mädchen keine Lust mehr auf ihr Klo und haben es umgebaut. Jetzt sieht es aus wie in einem Luxushotel, mit Sofa und alles ganz blank. Wenn die Schüler ihren Dreck selber wegmachen müssen, machen sie gleich gar nicht so viel. Und die beste Gruppe bekommt Kinogutscheine, das motiviert zusätzlich. Die Schüler bekommen so ein Gefühl dafür, dass ihre Arbeit einen Wert hat. Übrigens nicht nur das Saubermachen, sondern auch, wenn sie beispielsweise Theater spielen.
Wie sind schwedische Schulen organisiert?
Fast alle schwedischen Schulen sind Ganztagsschulen. Es gibt in der Regel Frühstück und ein kostenloses Mittagsessen für alle. Die Schulräume sind teilweise bis in den Abend geöffnet, viele Schulen bieten in den Ferien eine „Sommerschule“ an. Eine der besuchten Schulen hat auch eine „Premiumschule“ für die leistungsstärksten SchülerInnen im Angebot. Da gibt es zusätzliche Lernangebote, das ist sehr beliebt. Ganz generell gibt es in vielen Schulen schon lange keinen 45-Minuten-Schulstunden-Takt mehr, sondern mehr selbständiges Lernen, Projekte und Lernen in Gruppen.
Die Schulen haben übrigens auch eigene Budgets. Wenn sie beispielsweise entscheiden, die Schule von Schülern sauberhalten zu lassen, haben sie Geld für Projekte oder mehr Lehrer. Auch da bestimmen sie selbst, welche Lehrer und wieviele sie einstellen. Der Schüler-Lehrer-Schlüssel ist aber generell besser als bei uns, im Kindergarten liegt er beispielsweise bei 1 zu 7, in Deutschland bei 1 zu 12.
Mehr Lehrer kosten aber mehr Geld.
Lehrer sind bei uns teurer als in Schweden: Die schwedischen Lehrer verdienen durchschnittlich 2500 Euro brutto. Das steigt aber momentan ein bisschen, weil es auch in Schweden Lehrermangel gibt und die Gehälter individuell verhandelbar sind.
Erfordert die individuelle Betreuung nicht auch, dass die Lehrer mehr Zeit in der Schule verbringen?
Ja, die arbeiten in der Woche etwa 45 Stunden, davon 35 in der Schule, übrigens inklusive Selbstreflexion und Überprüfung der eigenen Arbeit. Berechnet wird das Ganze in einem Jahresarbeitszeitmodell mit einer Jahresarbeitszeit von etwa 1700 Stunden, und das ist in etwa das gleiche wie in Deustchland. Aber natürlich hat in Schweden jeder Lehrer einen Arbeitsplatz in der Schule. Und, besonders wichtig: Sie arbeiten alle im Team zusammen.
Was hat man denn in Schweden zu PISA gesagt?
Das hat da kaum jemanden interessiert, sie haben nur immer gesagt, ,wir sind ja so schlecht‘ – und die Lehrer haben sich gefragt, was sie bisher falsch gemacht haben, wenn ihre Schüler so abschneiden. In Schweden war PISA nur eine Untersuchung von ganz vielen. Es gibt regelmäßig landesweite Tests. Die Lehrer verstehen das Testen als eine Chance festzustellen, ob ihre Arbeit die erwünschten Wirkungen hat.
Sollte Deutschland das schwedische System übernehmen?
Es wäre schon gut, wenn man vieles davon in deutschen Schulen umsetzen würde, aber dafür bräuchte es fundamentale Veränderungen im Denken über Schule. Wir haben hier in Hamburg schon Ansätze wie die sechsjährige Grundschule, Gesamtschulen oder die integrierten Haupt- und Realschulen, die sich dem Stadtteil öffnen. Aber momentan erleben wir ja gerade eher ein pädagogisches Rollback mit Noten ab der zweiten Klasse und noch mehr Selektion.
Alles spricht für eine Schule für alle – wenigstens bis zur achten oder neunte Klasse. Dem entsprechen auch die deutschen Gesamtschulen mit ihrem Kurssystem nicht, auch wenn sie der Sache am nächsten kommen. Aber vor allem müssen wir weg von einer Lernkultur, die auf Sanktionen und Noten beruht.
Bei uns verlieren viele Kinder in der Schule ihre natürliche Wissbegier. Aber jeder Mensch will von Geburt an lernen. Dass meine sechs Monate Tochter beispielsweise lernt, sich hinzusetzen, tut sie, weil sie das will, nicht weil ich das von ihr verlange.
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