Enthüllung über Bundesbehörden: Geweihe und Corona-Boni
Eine Recherche zeigt, dass Personen mit IP-Adressen von Bundesbehörden emsig auf Wikipedia tätig sind. Eine wollte Artikel über Grüne verändern.
Manchmal waren es kleine Änderungen, etwa Ergänzungen zu den Wachstumsstadien von Hirschgeweihen. Doch es gab auch größere Eingriffe. So wurde versucht, Anschuldigungen gegen Grünen-Politiker*innen in deren Wikipedia-Einträge zu weben. Und das nicht nur einmal. Laut Recherchen von Marvin Oppong, die die FAZ veröffentlichte, haben 17.000 Mal Personen über dieselben 19 IP-Adressen versucht Wikipediaeinträge zu verfälschen. Das brisante an der Sache: Diese IP-Adressen können laut FAZ dem Bundesamt für Sicherheit und Informationstechnik (BSI) zugeordnet werden. Genutzt würden die von mehreren Bundesbehörden, eine genaue Zuordnung sei nicht möglich.
Dass die Einträge in Wikipedia nicht einfach geändert werden können, liegt an einem System der Sichtung. Neue Nutzer*innen und solche, die ohne Account schreiben, können Beiträge zwar bearbeiten, doch diese Bearbeitungen sind vorerst nicht sichtbar. Erst müssen sie erfahrene Wikipedianer*innen freigeben. Manche Bearbeiter*innen scheitern an diesen Prüfungen.
So etwa die Person, die sich hinter einer IP-Adresse verbirgt, die die FAZ dem BSI zugeordnet hat. Im Januar 2022 hat sie versucht, die Artikel zu Jamila Schäfer, Ricarda Lang und Robert Habeck zu verändern – immer mit dem gleichen Inhalt, dem Hinweis auf mutmaßlich zu Unrecht ausgezahlte Corona-Boni an den Bundesvorstand der Grünen.
Die Änderungen wurden jedoch wegen mangelnder Quellen innerhalb weniger Minuten entfernt. Auch beim zweiten Versuch. Kurz darauf wurde der gesamte Artikel wegen dieses Hickhacks für zwei Wochen geschützt. Nur noch angemeldete Wikipedianer*innen konnten dann den Text bearbeiten. Außerdem bekam die IP-Adresse eine einmonatige Sperrung.
Eine mächtige Quelle
Die Wikipedia ist ein beliebtes Ziel für Ideolog*innen, ist die Seite doch eine der wichtigsten und mächtigsten Wissensquellen im digitalen Raum. Sie erleichtert Schüler*innen und Studierenden die Ausbildung, dient als Orientierung über die Episoden der liebsten TV-Serien und ermöglicht jedem einen barrierearmen zeitgeschichtlichen Überblick. In Deutschland gehörte Wikipedia laut Alexa Internet im letzten Monat zu den fünft meistbesuchten Webseiten. Im März wurde die Seite fast 700 Millionen Mal aufgerufen.
So viel Einfluss weckt Begehrlichkeiten. Anfang April forderte etwa die Medienaufsicht Russlands, dass die russische Wikipedia Angaben zum Angriffskrieg gegen die Ukraine löscht. Angeblich würden dort falsche oder „ungenaue“ Informationen veröffentlicht werden. Die angedrohte Geldstrafe von vier Millionen Rubel (etwa 48.000 Euro) wurde dann Mitte April noch mal verdoppelt. Im März wurden rund 100.000 Versionen der russischen Wikipedia über die Seite Kiwix.org von User*innen heruntergeladen, vermutlich um vorzusorgen, falls die Seite gesperrt wird. In der Türkei war die Seite von April 2017 bis Januar 2020 abgeschaltet, weil in zwei Artikeln Verbindungen der Türkei zu „Terrororganisationen“ im Bürgerkrieg in Syrien beschrieben wurden.
Die Bearbeitungsversuche über IP-Adressen des BSI wirken im Vergleich harmlos. Doch Kleinigkeiten können große Wirkung haben: Laut der FAZ-Recherche versucht jemand mit BSI-IP im Sommer 2021 das Wort „weniger“ im Artikel zu illegaler Einwanderung und illegalem Aufenthalt zu entfernen. Ein kleiner Eingriff, der den Inhalt komplett verdreht: „Der Zusammenhang von illegaler Migration und Kriminalität besteht weniger darin, dass einzelne Einwanderer kriminelle Delikte begehen.“
Dass derlei Änderungen schnell entdeckt und rückgängig gemacht werden, liegt vor allem am Engagement vieler Wikipedianer*innen. Sie verfolgen Änderungen, überprüfen den Inhalt, die Quellen, Rechtschreibung und Relevanz. Bei über 2,6 Millionen Artikeln kann das nur funktionieren, wenn sich viele Autor*innen einbringen. Doch die Zahl sinkt. Im März 2022 waren knapp über 6.000 Autor*innen auf der deutschsprachigen Wikipedia aktiv, vor 15 Jahren waren es noch über 10.000.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Israels Brüche der Waffenruhe
Die USA sind kein neutraler Partner