Entbindungsschnitt für Erstgebärende: Unkontrolliert gebären
Ich hänge der verkitschten Vorstellung an, dass Geburten natürliche Vorgänge sind. Schon Marx wusste, dass sie mit Arbeit nichts zu tun haben.
So“, sagte meine Friseurin und tätschelte mir die Schulter, „ich verpass’ dir jetzt den Entbindungsschnitt“. Es ging um meine Haare, wenige Tage vor dem errechneten Geburtstermin. Wie alle ihre erstgebärenden Kund:innen war ich überzeugt, dass mein Leben, so wie ich es kannte, vorbei sein würde, sobald das Kind draußen ist. Das ist zwar richtig – aber zum Friseur schaffen es die meisten dann doch, bevor das Kind läuft.
Nur wenn es zu alt ist für den hausgemachten Topfschnitt, braucht man mit ihm nicht zu Jessi zu gehen. Meine Friseurin sagt, sie habe nichts gegen Kinder, sie wolle ihnen nur nicht die Haare schneiden. „Dafür fehlt mir die Geduld.“ Das denke ich auch jeden Morgen. Ich habe nichts gegen Kinder, ich will sie nur nicht wecken müssen, dafür fehlt mir die Geduld. Dabei ist Jessi sehr geduldig mit ihren erwachsenen Kund:innen und wird nur streng, wenn sie eine Gefahr für Leib oder Seele abwenden muss. Etwa eine Dauerwelle.
Und dann dieses Gequatsche den ganzen Tag! Personen können ja nicht nur weiblich gelesen, sondern auch gehört werden. Viele reden nämlich sehr gerne sehr viel. Weniger, um zu zeigen, wie viel sie aus dem aktuellen Spiegel oder Karl Lauterbachs Twitteraccount behalten haben, sondern um in Beziehung zu bleiben. Ich rede, also werde ich geliebt.
Ich bewundere Jessi dafür, dass sie das aushält. Weil ich selbst eine miese Zuhörerin bin, wenn mich ein Thema nicht interessiert, zum Beispiel der Inhalt der jüngsten Pokémon-Folge. Damit riskiere ich die geistige Verblödung meiner Kinder und ihr Abdriften in Computerwelten, weil nach Ansicht aller Expert:innen zum Thema das einzige Gegenmittel darin besteht, Interesse am Medienkonsum der Kinder zu … ähm … zeigen.
Jessi zeigt Interesse an dem, was ihre Kund:innen beschäftigt. So hat sie auch mir zugehört, als ich minutiös die Geburten meiner Kinder beschrieben habe. Wie der Kopf von Kind zwei schon draußen war, sich dessen Schulter aber hinter meinen Beckenknochen verkantet hatte und ihm deshalb kopfüberhängend das Fruchtwasser in den Mund lief.
Der Stuhlgang entzieht sich der Kontrolle
Niemand hatte geahnt, wie schwer dieses Kind war, und das war ein Segen, denn sonst hätte meine Gynäkologin besorgt geguckt und mir die Wahrscheinlichkeit vorgerechnet, mit der Kinder über vier Kilo im Geburtskanal stecken bleiben, und ob es nicht besser wäre, nicht ins Geburtshaus, sondern eine Klinik zu gehen.
Ja, genau, Geburtshaus. Ich bin eine der wenigen, die mehr Angst vor den Komplikationen haben, die in Krankenhäusern produziert werden, als vor denen, die einfach so passieren, weil Geburten unberechenbar sind. Davon abgesehen habe ich die völlig verkitschte Vorstellung, dass die meisten Geburten natürliche Vorgänge sind, denen am besten ihr Lauf gelassen wird und dazu magisch, mystisch, einzigartig. Typisch Akademikerin halt. Zu viele Statistiken gelesen.
Wenn ich aber eins nicht leiden kann, ist es das Wort „Geburtsarbeit“, das viele Geburtshaus-Hebammen sehr gerne verwenden. „Arbeit“ definiert zumindest Karl Marx als einen „Prozess, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt, regelt und kontrolliert“. Aber Geburten hat Marx damit bestimmt nicht gemeint, denn ab einem bestimmten Punkt lässt sich ja nicht mal mehr der Stuhlgang kontrollieren.
Und haben Sie mal versucht, mit vollständig geöffnetem Muttermund und Wehen alle zwei Minuten in die Mittagspause zum Italiener nebenan zu gehen?! Oder hören Sie sich sagen „Tschüssi, ich mach Feierabend und morgen weiter“?
Ich möchte auch nicht, dass irgendwer misst, wie gut ich meine Geburtsarbeit erledigt habe. Meine Hebammen hingegen haben ihren Job genauso gut gemacht wie meine Friseurin. Bevor ich die Frage „Ist das eine Schulterdystokie?“ beendet hatte, hatten sie mich so positioniert, dass der Rest des Kindes hinterher kommen konnte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!