Endlich 18 – der Geburtstag: Das Fest
Der 18. Geburtstag ist ein Tag der Sehnsucht und der Angst. Emilie Kleinschmidt hat sich lange darauf vorbereitet.
Das ist ihr Abend. Sie will endlich tanzen. Aber jemand hat die Anlage übernommen. Jetzt geht nur stampfen. Oder eben draußen rauchen. Kleinschmidt sucht in ihrer Bauchtasche nach Tabak. Während sie dreht, überlegt sie: Viel trinken oder doch eher wenig? „Ich muss ja morgen hier alles aufräumen.“
Die Bässe schallen in die nebelige Nacht hinaus. Sie haben etwas zu verkünden: Emilie Kleinschmidt wird 18. Und jeder soll es hören.
18. Die heilige Zahl eines jeden Teenagers. Mit 18 fängt das Leben an. Die Freiheit. Das ist ein Grund zu feiern.
Oder?
***
Vier Wochen zuvor; es ist Anfang November. Am äußersten Rande von Worpswede, da, wo die Stadt sich im niedersächsischen Acker auflöst, sitzt Emilie Kleinschmidt am Tisch einer niedrigen Wohnküche, im ersten Stock eines alten Bauernhauses. Vor ihr dampft eine Tasse Tee. Die langen Beine hat sie zwischen Tischplatte und Körper geklemmt. Die blonden Haare fallen weich um ihr schmales Gesicht. Sie ist ungeschminkt. Ein schönes, großes Mädchen, das gleichzeitig kindlich und erwachsen wirkt.
„Ich hab irgendwie voll Angst vor dem, was auf mich zukommt“, sagt sie. Sie zuppelt an den bunten Stoffbändern, die sich um ihr schmales Handgelenk winden. Jedes Band ein Festival. Ein Konzert. Eine Erinnerung.
Liest man Studien, die sich mit der Lebenswelt von Jugendlichen beschäftigen, dann wirkt es, als würden sie Freiheit heute eher als bedrohlich wahrnehmen. Die Werte haben sich geändert. Wichtig sind jetzt: Sicherheit, Wohlstand, eine emotionale Gemeinschaft.
Wer „18 werden“ googelt, der stößt auf Foren-Einträge zum Thema: „Ist es normal, dass ich nicht 18 werden möchte?“ Besprochen werden dort Vor- und Nachteile der Volljährigkeit: mehr Verantwortung, weniger Kindheit. Themen, mit denen sich auch Emilie seit Wochen herumschlägt.
Ihr ganzes Leben hat sie hier auf dem umgebauten Bauernhof verbracht. In einem Hausprojekt mit mehreren Familien und einem Hofhund.
Während andere mit 16 ins Ausland gingen, blieb Emilie in Niedersachsen. Bei ihrer Mutter Irene und der zwei Jahre jüngeren Schwester Charlotte. Der Vater lebt in Köln. Ihre Tage verbringt sie zwischen Unterricht, Fahrschule, Reiterhof und Projekten am Theater Bremen. Ihre Mutter Irene ist dort Schauspielerin.
Seit zwei Jahren hat Emilie einen Freund. Tom. Erste große Liebe. Die beiden kennen sich seit der 5. Klasse. Im Sommer trifft Emilie ihre besten Freundinnen auf einem Hügel am Rande von Worpswede. Ab und zu rauchen sie was, trinken ein Bier. Bei klarem Wetter kann man bis nach Bremen schauen.
Was Emilie weiß: Nach dem Abitur im nächsten Jahr will sie reisen. Vielleicht nach Asien. Und ihr Abi sollte einigermaßen gut werden. Aber danach?
Ihre Mutter Irene, genauso blond und groß wie ihre Tochter, stellt Kuchen auf den Tisch. „Emilchen, du hattest doch gesagt, du wolltest vielleicht Physiotherapeutin werden.“
„Ja, Mama. Aber ich weiß es eben noch nicht genau. Vielleicht will ich auch Schauspielerin werden. Oder Tänzerin. Aber da bin ich nicht so gut drin.“
Irene Kleinschmidt lächelt. Mitfühlend. Sie kennt das schon. Emilie ist ihr drittes Kind, das flügge wird. Zwei ältere Geschwister sind schon ausgezogen. Wenn Emilie geht, bleibt ihr nur noch Charlotte. „Natürlich ist das ein großer Abschied“, sagt Irene Kleinschmidt. „Aber ich freue mich auch drauf.“
„Ich hab eigentlich vor allem Angst“, sagt Emilie Kleinschmidt. Das große Kind mit den vielen Gedanken. Sie sagt das leichtfertig. Und so undramatisch dramatisch, wie vielleicht nur ein Teenager es kann. Sie hat Angst, dass die Grenzen in Europa dicht gemacht werden. Vor den Auswirkungen des Brexit und vor Menschen, die Flüchtlinge hassen. Und davor, dass ihr Leben vielleicht nicht so läuft, wie sie es sich vorstellt.
***
Dann der große Tag! Emilie Kleinschmidt wird 18 – und sie hat sich stark erkältet. Am liebsten würde sie im Bett bleiben, so erschöpft ist sie. Ihr Vater kommt trotzdem aus Köln und bringt ihr einen Kalender mit. Mit Tipps für ein „chilliges Leben“. Ihre Mutter hat ihr zwei Alben mit Kindheitsfotos und den ersten handgeschriebenen Zetteln geschenkt.
„Macht euch keine Sorgen. Ich bin mit dem Fahrrad unterwegs. Stimmung: verzweifelt wegen der Hausaufgaben.“
Abends sind sie in Bremen essen gegangen. „In einem spanischen Restaurant. War schön, und ich hab auch kurz geheult.“ Vor allem vor Rührung, weil nicht nur ihr Vater extra aus Köln kam. Sondern auch ihr kleiner Halbbruder.
***
Zwei Wochen später ist Emilie wieder einigermaßen gesund, aber sie fühlt sich noch etwas abgekämpft. Vermutlich auch wegen der anstrengenden Prüfungsphase. Jede Klausur zählt jetzt schon für die Abiturnote.
Es ist der 1. Dezember, ein Freitag. Kalt und klar. Emilie wuchtet Kartons und Bierkästen aus dem grauen Kleinbus ihrer Mutter. Heute Abend steigt die Party. „Wir planen diesen Abend seit dem Sommer“, sagt Emilie. Wer mit wem? Freier Einlass oder Türsteher? Erfolg oder Desaster?
Es ist 16 Uhr. In vier Stunden kommen die ersten Gäste. Gefeiert wird im evangelischen Jugendzentrum. Einem einstöckigen Backsteinhaus, in dem normalerweise Hortkinder zu Mittag essen. Gemauerte Wände, Tische, die sich gut abwischen lassen. Bunte Boxen mit Stiften und Bastelkram in den Regalen. Emilie sieht sich um und stöhnt. „Hier waren wir auch als Kinder. Und es war voll schrecklich.“
Schrecklich oder nicht. Wer in Worpswede feiern will, der muss es hier tun. Oder eben gar nicht. Oder in Bremen. Einmal in der Stunde fährt ein Bus in die Stadt. Wer den verpasst, der muss trampen oder die Eltern fragen. Emilie erzählt von nächtlichen Fahrdiensten ihrer Mutter. „Mit 14 auf dem Erntefest. Da hab ich gelernt, so zu tun, als wäre ich nüchtern.“ Sie lacht.
Zweimal die Woche geht Emilie zur Fahrschule. „Aber ich bin voll schlecht in Theorie.“ Der alte Škoda ihrer Mutter wartet schon auf dem Hof.
„Los, Mädchen!“, treibt Irene Kleinschmidt an. Sie steht draußen vor der Tür und überwacht das Abladen. Sie muss los. Nach Bremen, dort hat sie gleich eine Vorstellung am Theater. Emilie hat noch einen Auftrag für die Mutter. Es fehlen noch Becher. „Danke, Mama! Ich hab dich lieb.“
Emilie und ihre Mutter sind sehr eng. Vielleicht liegt es daran, dass Irene Kleinschmidt alleinerziehend ist. Vielleicht auch am jahrelangen Fahrdienst. Wie soll man gegen jemanden rebellieren, auf den man angewiesen ist?
Eine Flasche Erdbeersekt, zwei Flaschen Rosé und eine Tüte gefrorene Erdbeeren. Emilie und ihre Schwester Charlotte rühren die Bowle an. Die Tische schieben sie an den Rand. Überschüssige Stühle verschwinden hinter einem Vorhang. Ein Freund kommt vorbei und schließt die Anlage an. Zwei Theaterscheinwerfer spenden rotes Licht, Batiktücher verdecken die hässlichen Wände. Geschafft. Aus den Boxen kommt jetzt Musik:
„Ich mache keine Witze, ich ficke jede Bitch im Game. Guck, wer dich heut vernichtet – jetzt bin ich dein Problem.“
Die 16-jährige Charlotte, die noch ein bisschen größer und blonder ist als ihre Schwester, lacht heiser. Eigentlich ist sie noch krank. Die letzten Tage hatte sie 39 Grad Fieber. Aber egal. „Mama hat gesagt, ich soll früher nach Hause gehen. Aber das mache ich auf keinen Fall.“
Emilie ist schlecht. Vor Aufregung. Es ist 18 Uhr, in zwei Stunden geht es los. „Ich hoffe, es geht nichts kaputt, und ich hoffe, es gibt keinen Stress“, sagt Emilie. Sie erzählt von komplizierten Beziehungsgeschichten und von Jungs, die gerne mal was zerlegen. „Ich will doch nur, dass es allen gefällt“, sagt sie.
Wie fühlt es sich an, jetzt 18 zu sein?
„Ganz okay. Ich habe Angst, aus Versehen irgendwas Illegales zu machen.“
Der Müll muss noch raus, bevor es losgehen kann. Charlotte soll das übernehmen, hat aber keine Lust. Zwei Jahre trennen Emilie und Charlotte. Das war es aber eigentlich auch schon. Den ganzen Rest machen sie zusammen. Freunde treffen, Klamotten kaufen, Partys feiern. Wenn sie alleine zu Hause sind und nachts die Dielen knarren, dann schlüpft die eine bei der anderen ins Bett.
Eine Stunde später im Bauernhaus der Kleinschmidts. Die Mädchen machen sich schön. Bauchfreies Glitzertop, Hochwasserjeans, Harry-Potter-Socken und weiße Sneaker. Zu freizügig, findet Emilies Freund. Tom ist mit dem Bus gekommen. Ein wortkarger junger Mann, der in „OHZ“ wohnt. In Osterholz-Scharmbeck. Sie lässt das Outfit trotzdem an.
Zurück zur Party geht es in dem kleinen roten Auto einer Freundin. Leona, klein und forsch, ist seit ein paar Wochen 18 und hat schon den Führerschein. Kurzer Zwischenstopp am Supermarkt. Leona braucht noch was zum Vorglühen. „Boah“, macht sie, als sie wieder einsteigt. An der Kasse saß ihr Ex und an der zweiten sein bester Freund. Worpswede ist klein. Wem das zu viel ist, der muss wegziehen.
Trotzdem sind sich die Mädchen einig: Worpswede, ein staatlich anerkannter Erholungsort und berühmt für seine Künstlerkolonie, ist schön. Besonders für Kinder – und wenn sie die haben, dann kommen sie wieder zurück, sagen sie. Spätestens.
20 Uhr. Die ersten Gäste sind da. Auf einer Seite die Kiffer, auf der anderen Seite die Wodka-Redbull-Fraktion.
„Trainierst du?“
„Ja, Mann.“
„Gut, Junge.“
Die Mädchen sehen aus wie 21. Dunkel geschminkte Augen, rote Lippen. Süß und laut. Mittendrin Emilie, die an diesem Abend noch erwachsener und noch kindlicher wirkt als sonst. Aufgeregt und selig über jedes Geschenk: einen riesigen Chips-Weihnachtskalender. „Voll süß“. Eine Flasche Tequila. Blumen. Eine kleine Kiste mit Fotos ihrer Freundinnen und einer Schildkröte aus Glas. „Das sind meine Lieblingstiere“, sagt Emilie. „Ich heule gleich.“
Später am Abend. Die Mädchen auf der einen Seite, die Jungs auf der anderen. Irgendjemands Exfreundin ist da. Jetzt gibt es ein Problem. Und alle sind dabei. Emilie sitzt draußen vor der Feuerschale und raucht. Sinniert ein bisschen. „Ich fühle mich eher wie 10 und nicht wie 18. Sollte das nicht andersrum sein?“
Sie war dann doch ziemlich betrunken. Am nächsten Tag hat Emilie ausgeschlafen. Ihre Mutter hat für sie aufgeräumt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren