Ende des Zweiten Weltkriegs: Siegesfeier oder stilles Gedenken?
Der Blick auf den 9. Mai verändert sich. Während der Kreml ihn weiter propagandistisch ausschlachtet, entsorgt man in der Ukraine Sowjetdenkmäler.
Ungeachtet der Tatsache, dass sich im aktuellen Krieg zwischen Russland und der Ukraine beide Seiten gern gegenseitig Nazis nennen, haben die Regierungen beider Länder sehr unterschiedliche Einstellungen zum Zweiten Weltkrieg. Und diese Diskrepanz innerhalb des ostslawischen Kulturraums war noch nie so groß wie jetzt.
Der russische Diktator stellt den „Großen Vaterländischen Krieg“, wie der Zweite Weltkrieg in der Sowjetunion hieß und im heutigen Russland weiterhin heißt, als größte Heldentat der Weltgeschichte dar. Der Präsident der Ukraine, der natürlich auch Rücksicht auf seine Wähler nehmen muss, bezeichnet ihn als eine der größten, vielleicht sogar die größte Tragödie für sein Land.
Dabei hat Wladimir Putins außenpolitische Propaganda es geschafft, weitgehend die Illusion zu erzeugen, die Politik des Kremls gebe die Meinung des russischen Volks wieder.
Die Menschen in Russland und der Ukraine aber haben, wie soziologische Untersuchungen zeigen, gar nicht so unterschiedliche Auffassungen über den Zweiten Weltkrieg, wie man vor dem Hintergrund des aktuellen Blutvergießens zwischen ihnen annehmen könnte.
Trauer um Millionen Tote
Nach Angaben der ukrainischen Meinungsforschungsgruppe Rating lag die Zahl der Menschen in der Ukraine, die diesen Feiertag im Mai als „Tag des Sieges“ bezeichnen, im April 2014 bei 73 Prozent und vier Jahre später bei 58 Prozent. Im April 2022 war ihre Zahl auf 15 Prozent gesunken.
Dementsprechend hat sich in acht Jahren die Zahl derjenigen, die diesen Tag vor allem als Gedenktag für die Kriegsopfer sehen, mehr als verdreifacht: von 24 Prozent 2014 auf 80 Prozent im Jahr 2022. Von April 2018 bis April 2022 stieg die Zahl derer, die diesen Feiertag generell als ein Relikt der Vergangenheit betrachten – von 7 auf 36 Prozent. Sie hat sich also verfünffacht.
Nach Angaben des Moskauer Lewada-Zentrums, des einzigen unabhängigen Meinungsforschungsinstituts in Russland, antworteten im April 2019 auf die Frage, welche Gefühle sie mit dem „Tag des Sieges“, also dem 9. Mai, verbänden, 27 Prozent der Russen, sie „trauerten um die Millionen Toten“. 48 Prozent gaben an, „Freude über den Sieg unseres Landes“ zu empfinden.
Wie Lew Gudkow, Direktor des Lewada-Zentrums, auf taz-Anfrage mitteilte, hat seine Organisation in den Jahren 2021 und 2022 keine Umfragen zum „Tag des Sieges“ durchgeführt. Ob und wie sich dieses Verhältnis in letzter Zeit verändert hat, wissen wir also einfach nicht.
Der Kult um den Sieg wurde aufgeblasen
Aber die Statistiken zeigen, dass im Bewusstsein der Menschen in Russland dieser Feiertag, trotz der massiven neosowjetischen Propaganda, ebenso wie in der Ukraine langsam der Vergangenheit angehört: Während 2017 noch 54 Prozent der Befragten in Russland den 9. Mai begehen wollten, waren es ein Jahr später nur noch 20 Prozent. Seit 2019 hat es keine Umfrage mehr dazu gegeben. Diese Angaben zeigen, wie der Kult um jenen Sieg, der in der Bevölkerung „Siegesrausch“ genannt wird, in den vergangenen Jahren aber künstlich aufgeblasen wurde.
Und vielleicht ist das auch einer der Gründe dafür, dass in diesem Jahr die traditionellen Paraden zum 9. Mai in vielen russischen Regionen ganz abgesagt oder zumindest der Umfang der Feierlichkeiten stark reduziert wurde? Als offizielle Begründungen wurden Sicherheitsmaßnahmen angegeben.
In der Zentral- und Ostukraine kam es durch den aktuellen Krieg zur nächsten Entsowjetisierungswelle, die im Gegensatz zu denen von 1991–94 (nach der Unabhängigkeit des Landes) und 2014–15 (nach Euromaidan, Krim-Annexion und Kriegsbeginn im Dombas) weit weniger nachsichtig mit den Erinnerungsartefakten in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg war.
So wurde zum Beispiel im Zentrum von Kyjiw ein Denkmal für Nikolai Watutin, Kommandeur der Ersten Ukrainischen Front 1943–1944, abgebaut. In Dnipro hat man einen T-34-Panzer aus dem Stadtbild entfernt.
Dies sind jedoch Einzelfälle und kein abgeschlossener Entsowjetisierungsprozess. Vor wenigen Wochen sprach sich der Stadtrat von Sumy dagegen aus, zwei Straßen umzubenennen, die nach sowjetukrainischen Kriegshelden benannt wurden. Und in Kyjiw trägt die Schule Nr. 13 den Namen des Partisanenkommandeurs Iwan Chitritschenko, der unter anderem 1943 gefangene Polizisten bei lebendigem Leib öffentlich verbrennen ließ. Der Name der Schule wird nicht geändert, obwohl man in der ukrainischen Hauptstadt dank wissenschaftlicher Veröffentlichungen und Medienberichten diese Fakten kennt.
Die Einstellungen zum sowjetischen System bilden den Kern der aktuellen ideologischen Auseinandersetzungen, wenn wir versuchen, den derzeitigen Krieg als ideologischen Konflikt zu betrachten.
Das Erbe Lenins
Autoritarismus in Osteuropa ist rot angestrichen – und die neosowjetische Reaktion hat zuerst Lukaschenko und später Putin an die Macht gebracht. Deren Angriffe auf die Demokratie, die eine Entkommunisierung anstrebt, ist die aktive Verteidigung des Lenin’schen Erbes. So lächerlich das von außen betrachtet auch zunächst wirken mag.
Dabei hat die Entkommunisierung in Russland selber auch Befürworter. Aber deren Aktionen sind hinter der Fassade der Diktatur nur wenig sichtbar. Ein besonders gutes Beispiel dafür sind die Ereignisse in Tarusa, einer Kleinstadt 140 Kilometer südlich von Moskau. 2020 hat der Stadtrat dort 16 sowjetische Straßennamen durch historische ersetzt, was ein großes Echo in ganz Russland ausgelöst hat.
Nur einen Monat nach Beginn des Kriegs, am 25. März 2022, hat derselbe Stadtrat unter dem Druck staatlicher Behörden diese Umbenennung wieder rückgängig gemacht.
Während der mehr als 20 Jahre von Putins Herrschaft haben die westeuropäischen und US-amerikanischen Regierungen die ideologische Komponente des Kremlregimes ignoriert. In internationalen Verhandlungen hat man sich mit wirtschaftlichen, militärischen und ökologischen Fragen und der politischen Zusammenarbeit beschäftigt. Aber auf den Gebieten der Kultur und der Geisteswissenschaften standen der neostalinistischen Propaganda Tür und Tor offen.
Schleichende Resowjetisierung
Die Forderungen des Kremls, alle Errungenschaften des roten Totalitarismus zu loben oder zumindest zu würdigen, wurden als harmlose Spinnerei abgetan, auf die man sich einlassen konnte, um Vereinbarungen über andere, scheinbar wichtigere Themen zu erzielen.
Aus einer Reihe von Gründen hat diese Fahrlässigkeit in Deutschland besonders krasse Formen angenommen. Die 2013 überarbeitete Dauerausstellung des Museums Berlin-Karlshorst, des ehemaligen deutsch-russischen Museums, ist ein gutes Beispiel für diese Schönfärberei des Stalinismus.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Die Türen vieler Universitäten und profilierter Forschungszentren haben sich zudem einer schleichenden Resowjetisierung geöffnet. Und einige Medien veröffentlichten immer wieder Artikel mit der primitiven Dichotomie: Alles, was gegen den Nazismus war, war generell progressiv.
Vermutlich haben solche und ähnliche Gedanken auch dazu geführt, dass der Park, neben dem ich in Berlin wohne, bis heute den Namen des gehorsamen stalinistischen Politikers Ernst Thälmann trägt. Thälmann war ein erbitterter Kämpfer gegen die Demokratie im Allgemeinen und die Sozialdemokratie im Besonderen.
Langsam jedoch ändert sich im Westen die Einstellung zu diesen Fragen, wie nach dem 24. Februar 2022 deutlich wurde: Die neosowjetische Ideologie und der historisierende Militarismus führen in der Ukraine zu Blutvergießen und Zerstörungen im großen Stil. Und mehr noch: Die durch diesen Konflikt verursachten ökonomischen und ökologischen Katastrophen betreffen den gesamten Planeten.
Mit Blick auf all die anderen Herausforderungen, mit denen die Menschheit konfrontiert ist, könnte diese Ideologie deshalb zu einem zusätzlichen Faktor werden, der die Lösung einer ganzen Reihe von Problemen unmöglich macht.
Mit anderen Worten: Europa und insbesondere Deutschland stehen vor der Aufgabe, ihren eigenen historischen und kulturellen Raum zu entputinisieren und zu entsowjetisieren – vor allem in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg.
Aus dem Russischen von Gaby Coldewey
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag