Ende des 9-Euro-Tickets: Komm bald wieder!
Die Realität kann manchmal hart sein, also: Das 9-Euro-Ticket ist Geschichte. Viele Menschen lässt das traurig zurück. Ein persönlicher Abschied.
Liebes 9-Euro-Ticket, ich hasse Abschiede, nur Abschiedsbriefe hasse ich noch mehr, aber dich kann ich nicht alleine mit einer Umarmung und Tränen gehen lassen. Dafür hast du mir und vielen anderen zu viel bedeutet.
Du bist ein Frühlingskind. Ich erinnere mich gut an den Tag, an dem ich die erste Nachricht von dir bekam. Ohne Witz, ich konnte es erst gar nicht glauben, als die Meldung auf meinem Bildschirm aufploppte. Die Ampel-Parteien hätten sich auf dich geeinigt, stand da Ende März. Manchen, auch mir, schoss gleich die Frage durch den Kopf: Warum nur für die Monate Juni, Juli und August? Warum nicht für immer?
Für die Bundesregierung, die damals das zweite Entlastungspaket angesichts der sozialen Folgen der Ukrainekrise auf den Weg brachte, magst du ein kleiner Schritt gewesen sein. Für viele Menschen, für die Idee von Demokratie, gesellschaftlicher Teilhabe und sozialer Gerechtigkeit und für das Klima warst du aber ein riesengroßer. Ja, ich weiß, nicht alle sehen das so.
Manche sind froh, dass sie dich jetzt los sind. Sie haben behauptet, du würdest eine „Gratismentalität“ befeuern – was auch immer das bedeutet. Dass dieser Vorwurf von Ministern solcher Parteien kommt, die Menschen vertritt, die sich nie über etwas freuen konnten, das es gratis gegeben hat, weil sie ohne eigenes Zutun immer mehr als genug von allem hatten und deshalb nie auf „gratis“ angewiesen waren; Menschen also, für die „gratis“ deshalb ein Schimpfwort zu sein scheint – das sagt jedenfalls schon viel über diesen Vorwurf.
Gesellschaftliche Ressourcen
Diese Leute sind nicht nur beim Thema Mobilität so drauf, auch bei anderen gesellschaftlichen Ressourcen setzen sie sich gegen deren gerechte Verteilung ein, weil ihr Reichtum auf ungerechter Verteilung basiert. Nimm dir ihr Gerede deshalb bitte nicht zu Herzen, liebes 9-Euro-Ticket.
Andere aber streiten darüber, ob du denn nun die Aufgabe erfüllt hast, deren Erfüllung sie sich von dir erhofft haben; dass du nämlich die notwendige Verkehrswende vorantreibst, also die Menschen dazu bringst, vom Auto auf die Bahn umzusteigen. Sie argumentieren mit vorläufigen Studienergebnissen, die unterschiedliche Antworten andeuten.
Du kannst sicher wie ich nachvollziehen, dass das eine wichtige Frage ist. Es ist auch begrüßenswert, dass diese Menschen sich in ihrer Auseinandersetzung über dich um Fakten bemühen – und sich nicht wie die Ersteren allein an ihren Ressentiments orientieren. Aber ich verstehe auch, wenn es dich kränkt, dass sie dich auf den Aspekt Klima reduzieren, dich allein als Experiment sehen. Ich kann dir versichern: Viele andere und ich sehen dich als Anfang von etwas Neuem, als Realwerden des scheinbar Undenkbaren, als gelebte Utopie. Warum? Weil du, zumindest im Bereich Mobilität, gezeigt hast, dass eine gerechtere Gesellschaft trotz vermeintlicher monetärer Sachzwänge im Hier und Jetzt praktikabel ist.
Auch wenn du jetzt gehen musst, diese egalitäre Erfahrung wird bleiben. Menschen zeigten sich selbst in vollen Zügen glücklich über dich, sie machten Platz füreinander, halfen einander mit dem Gepäck – weil sie wussten, dass du vielen, die es sich sonst nicht leisten können, Reisen ermöglicht hast. Das habe ich oft erlebt, auch als ich dich das erste Mal gelöst und aus Euphorie eine 13-stündige Fahrt von Berlin nach Bayern auf mich genommen habe, obwohl ich es mir mittlerweile leisten kann, mit dem ICE zu fahren.
Aus Prinzip
Ich habe mich aus Prinzip für dich entschieden. Ob im Regionalzug oder morgens in der U-Bahn auf dem Weg zur Arbeit – in den drei Monaten mit dir habe ich mich oft an jugendliche Bahnfahrten ohne gültigen Fahrschein erinnert, vor allem an die Angst dabei. Daran, dass ich das Geld für die Schülermonatskarte, das für meine Familie viel Geld war, immer wieder als Taschengeld zweckentfremdet habe, weil ich sonst an mancher Unternehmung mit Freund:innen nicht hätte teilnehmen können.
Ich bin überzeugt, dass die sehr kurze Erfahrung mit dir in Zukunft nicht allein als Material nostalgischer Anekdoten dienen wird. Menschliche Erfahrungen waren für gesellschaftliche Entwicklungen schließlich schon immer entscheidender als politische Parolen und Parteiprogramme. Deshalb, liebes 9-Euro-Ticket, mach’s gut und bis ganz bald wieder!
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