Ende der Homeoffice-Pflicht: Kein Zurück zum alten Normalbetrieb
Die Arbeit zuhause ist für manche bequem, für andere eine Überforderung. Sinnvoll ist ein hybrides Modell, das feste Termine im Büro vorsieht.
D er Begriff „Normalbetrieb“ fällt im Streit über das Homeoffice. Die mittelständischen Unternehmen müssten endlich zum „Normalbetrieb“ zurückkehren können, so der Chef des Mittelstandsverbands. Die Frage ist nur, was der „Normalbetrieb“ ist, wenn die Coronapandemie abflaut.
Die Pflicht zum Homeoffice entfällt Ende Juni, theoretisch also könnten sich die Beschäftigten spätestens nach den Sommerferien wieder morgens in den Bus quetschen, in die Büros strömen, ihre vertrauten Plätze einnehmen, die Teeküche putzen, den Kollegenplausch halten und am späten Nachmittag den Heimweg antreten. Aber ganz so wird es nicht sein. Die Coronapandemie, während der ein Drittel und mehr der Beschäftigten zumindest zeitweise von zu Hause aus arbeiteten, hat die Jobwelt verändert.
Der Geist ist aus der Flasche. Es gibt zwar keinen Anspruch auf Homeoffice, aber viele Unternehmen stellen sich darauf ein, dass ihre Mitarbeiter:innen auf Dauer zumindest tageweise von zu Hause aus ihren Job machen wollen. Das „hybride Arbeiten“ ist im Kommen. Von zu Hause aus arbeitet gern, wer einen langen Anfahrtsweg zum Job hat, zu Hause über viel Platz verfügt, daheim nicht isoliert ist, dessen oder deren Kinderbetreuung geregelt ist – und der oder die sich gut selbst organisieren kann.
Am Ende könnte Corona die Individualisierung in der Jobwelt vorantreiben, aber auch zu feinen Spaltungen führen. Der Trend zum flexiblen Arbeiten könnte für manche zu einer Überforderung werden, denn so flexibel ist der Mensch in seiner Seele gar nicht. In einer Zeit, in der vor allem in den Metropolen die Zahl der Singlehaushalte zunimmt, kann die neue Flexibilität eine innere Einsamkeit verstärken, erst recht, wenn als Minderleister dasteht, wer sich ohne feste Strukturen von außen auch innerlich nicht so gut organisieren kann.
Ein gewohnter Arbeitsplatz, ein vertrautes Kollegenteam können sensiblen Naturen Sicherheit geben. So haben die Gewerkschaften recht, wenn sie sagen, dass die Homeoffice-Regelungen im Betrieb Gegenstand kollektiver Diskussionen sein sollten, bei denen die ganze Belegschaft angehört werden muss. Die neue Freiheit darf weder kategorisch beschnitten werden noch zu klandestinen Einzelvereinbarungen führen. Regelmäßige Präsenz- und Besprechungstage sollte es immer geben.
Firmen, die feste Schreibtische im Unternehmen aufgeben wollen, sollten sich das gut überlegen, denn der Mensch ist ein Territorialwesen. Die Seele ändert sich nämlich nicht so schnell, nur weil die Computer heute vieles möglich machen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken
Waffen für die Ukraine
Bidens Taktik, Scholz’ Chance