Ende der Globalisierung: „Weltwirtschaft wird regionaler“
Die wirtschaftliche Integration wird weitergehen, sagt Chefvolkswirt Jörg Krämer von der Commerzbank, aber mehr auf regionaler Ebene.
taz: Herr Krämer, vor 20 Jahren forderte der philippinische Intellektuelle Walden Bello die Deglobalisierung, um ärmere Länder vor dem Zugriff der reichen zu schützen. Nun sagen Sie, dass die Deglobalisierung wirklich kommt. Was meinen Sie damit?
Jörg Krämer: Wir Volkswirte verstehen unter „Globalisierung“ die Intensivierung der internationalen Arbeitsteilung. Diese nimmt zu, wenn der Welthandel schneller wächst als das globale Bruttoinlandsprodukt. Vom Zweiten Weltkrieg bis zur Finanzkrise ab 2007 war das so. Seitdem jedoch ist der Prozess ins Stocken geraten. Handel und BIP nehmen nun ungefähr im gleichen Tempo zu. Und ich befürchte, dass der wirtschaftliche Austausch in den kommenden Dekaden im Vergleich zur Wirtschaftsleistung zurückfällt. Das wäre dann eine Deglobalisierung.
Im Gegensatz zur Zeit zwischen 1980 bis etwa 2015 distanzieren sich jetzt die großen Wirtschaftsblöcke USA, China und Europa voneinander. Welche Faktoren könnten außerdem zu einer Entkopplung der Wirtschaftsbeziehungen führen?
Seit der Finanzkrise macht sich ein Misstrauen gegen Marktwirtschaft und Freihandel breit. Die Immobilienblase in den USA, der Verkauf toxischer Wertpapiere, der Zusammenbruch der Lehman-Bank und die Folgen wurden wahrgenommen als Scheitern des Marktes. Danach gingen Zehntausende Menschen gegen das Transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP) auf die Straße – obwohl Deutschland insgesamt von der Globalisierung profitiert. Der Fokus verschiebt sich: Die Verlierer der Globalisierung, die es ja neben den vielen Gewinnern immer gibt, erhalten mehr Beachtung. In den USA machte sich Ex-Präsident Donald Trump zu deren Wortführer. Ein weiteres Risiko für die Globalisierung ist der Antagonismus zwischen China und den USA. Die chinesische Regierung will die wirtschaftlich und politisch starke Position des Landes zurückgewinnen, die es vor den Opiumkriegen im 19. Jahrhundert innehatte. Diesen Aufstieg Chinas will die etablierte Supermacht USA bremsen, wozu sie auch auf Zölle und andere Handelsbeschränkungen zurückgreift. Unter diesem Konflikt dürfte der Handel zwischen den USA und China in den kommenden Jahren leiden.
56, ist Chefvolkswirt der Commerbank. Er ist zudem Mitglied des EZB-Schattenrats und seit 2017 Lehrbeauftragter der Universität Münster.
Haben Sie Zahlen parat, die in diese Richtung weisen?
Seit fast zwei Jahren bringt die Coronapandemie alles durcheinander. Aus den aktuellen Daten lässt sich meine These der Deglobalisierung noch nicht belegen.
Ihre These ist umstritten. Beispielsweise der Kieler Ökonom Rolf Langhammer hält eine neue Art der Globalisierung für möglich, bei der nicht mehr der Handel mit materiellen Gütern zunimmt, sondern eher der Austausch von Dienstleistungen, Kapital und Menschen.
In der Tat gibt es in dieser Frage noch keinen Konsens unter Ökonomen. Wer richtig liegt, wissen wir erst in einigen Jahren.
Wegen der Coronapandemie ächzen die weltweiten Lieferketten. Umfragen unter hiesigen Firmen zeigen nun, dass manche Vorstände nähere Lieferanten bevorzugen oder gar die Produktion nach Hause holen wollen. Könnte das in die Richtung Ihrer Annahme einer Deglobalisierung deuten?
Viele hiesige Unternehmen wollen ihre Lieferketten widerstandsfähiger machen, indem sie sich künftig nicht nur auf einen oder zwei, sondern mehrere Lieferanten für kritische Produkte stützen. Auch verstärkte Lagerhaltung wird erwogen, um Materialengpässe abzupuffern. Die Rückverlagerung von Produktion nach Europa ist eine weitere Möglichkeit.
Falls sich Ihre Annahme doch bewahrheiten sollte: Hätte eine Verlangsamung des Warenaustauschs denn Vorteile?
Die sehe ich nicht. Die Globalisierung hat in Asien Hunderte Millionen Menschen aus der Armut befreit. Sie leben jetzt in modernen Wohnungen, sind in die Mittelschicht aufgestiegen und machen Urlaub im Ausland.
Die Kehrseiten sind oft Umweltzerstörung und menschenunwürdige Arbeitsverhältnisse.
Nicht überall hat sich die Globalisierung positiv auf die Bevölkerung ausgewirkt. Ob es funktioniert, hängt von den Institutionen vor Ort ab – etwa von der Gewährleistung von Eigentumsrechten oder einer guten öffentlichen Infrastruktur.
Wenn der internationale Handel nicht mehr so stark wächst, würde der vom Schiffs- und Flugverkehr verursachte Treibhausgas-Ausstoß sinken.
Klar, die Globalisierung führt zu mehr Wohlstand, damit auch zu mehr Transport- und Individualverkehr. Aber man darf die Menschen im Namen des Klimaschutzes nicht zur Armut verdammen. Mit einer Bepreisung des CO2-Ausstoßes lässt sich die Atmosphäre schützen, ohne den ärmeren Länder den wirtschaftlichen Aufstieg zu verweigern, der ihnen zusteht.
Die Verlangsamung der internationalen Arbeitsteilung könnte Entwicklungs- und Schwellenländern den Anstoß geben, ihre Entwicklung auf die Binnenmärkte zugunsten der eigenen Bevölkerung zu lenken.
Eine Entwicklungspolitik, die auf Autarkie setzt, funktioniert nicht. Aufgestiegen sind dagegen die Länder, die sich in die internationale Arbeitsteilung integriert haben. Dann können ärmere Staaten von den Innovationen der reichen Länder lernen, sie imitieren, übernehmen, weiterentwickeln und auf ein höheres Wohlstandsniveau kommen. In China und anderen Staaten Asiens hat das geklappt. Eine Voraussetzung dafür ist allerdings immer, dass die heimischen Institutionen den Aufholprozess unterstützen und nicht behindern.
Welchen langfristigen Trend sehen Sie für die Globalisierung?
Ich glaube, es kommt immer mehr zu einer Regionalisierung. In einer großen asiatischen Wirtschaftszone wird China dominieren. Die USA dirigieren die nordamerikanische Freihandelszone, die EU setzt die Standards in Europa und seiner Nachbarschaft. Solche Freihandelszonen sollen eigentlich die Ausnahme sein. Denn die Welthandelsorganisation möchte die Handelsschranken für alle Länder abbauen. Aber wegen des abnehmenden Einflusses der USA und des Aufstiegs Chinas geht dieses Konzept immer weniger auf. Ausnahmen werden zur Regel. Die wirtschaftliche Integration wird weitergehen, aber mehr auf regionaler Ebene.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind