Eltern über fehlende Inklusion: „Mit so einer deutschen Bräsigkeit“
Wütende Eltern haben ein Protestcamp vor dem UN-Gebäude in Genf aufgebaut. Dort wird die deutsche Umsetzung der Behindertenrechtskonvention geprüft.
taz: Frau Thoms, gerade prüft die UN die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland. Sie sind dafür extra nach Genf gereist. Was haben Sie vor?
Eva-Maria Thoms: Wir werden ab Dienstag auf dem Platz der Nationen, also vor dem UNO-Gebäude hier in Genf, ein Protestcamp aufbauen und während der gesamten Gespräche der Staatenprüfung dort ausharren.
ist Vorsitzende des Kölner Vereins Mittendrin e.V., der sich für schulische Inklusion einsetzt. Gemeinsam mit anderen Eltern ist sie nach Genf gereist, um anlässlich der Staatenprüfung auf Defizite bei der deutschen Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention aufmerksam zu machen.
Wer ist „wir“?
Wir sind ein bunter Haufen von Eltern aus verschiedenen kleineren und größeren Initiativen – vom Berliner Bündnis für schulische Inklusion bis zum Münchner Verein Kunterbunte Inklusion. Wir haben uns zusammengefunden, weil nach der letzten Staatenprüfung 2015 Deutschland zwar eine fette Rüge bekommen hat für sein nichtinklusives Bildungssystem, das aber in der Öffentlichkeit und auch in den Medien fast gar nicht wahrgenommen wurde. Deshalb sind dieses Mal rund 30 von uns hierhergefahren, um beim UN-Ausschuss, der Regierungsdelegation und in der Öffentlichkeit auf uns aufmerksam zu machen.
Was erwarten Sie von der Bundesregierung?
Deutschland hat die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert, damit ist sie seit 2009 Bundesgesetz. Darin gibt es einen Artikel 24, der uns dazu verpflichtet, ein inklusives Schulsystem aufzubauen. Dann würden wir erwarten, dass es mal umgesetzt wird. Wir haben in Deutschland ja das Problem, dass Schulpolitik Ländersache ist, und müssen jetzt feststellen, nach 14 Jahren Rechtsgültigkeit, dass gerade mal drei Länder das ernst nehmen und vorantreiben und da auch Pläne erstellen.
Welche sind das?
Hamburg, Bremen und Schleswig-Holstein. Dort ist auch längst nicht alles perfekt, aber die Landesregierung gibt sich Mühe, es geht was voran. Alle anderen Länder umgehen die Vorgaben oder verschleppen sie oder lassen sie gleich links liegen.
Das ist ein vernichtendes Urteil.
Ich habe selbst eine Tochter mit Behinderung und beobachte die ganze Diskussion von Köln aus, schon seit es die Behindertenrechtskonvention gibt. Unser Verein Mittendrin hat sich quasi zeitgleich gegründet. In Nordrhein-Westfalen hatten wir einen kurzen Aufbruch zwischen 2010 und 2016. Seitdem tut sich gar nichts mehr. Im Gegenteil, es geht rückwärts und es werden neue Sonderschulen gebaut.
Es gibt Eltern und Lehrer*innen, die sagen, das Förderschulsystem hat seine Berechtigung und ist für viele Kinder geeigneter.
Die Taktik, die in Deutschland läuft, ist ja die, dass man nichts für die Inklusion tut und dann sagt, och, das läuft ja gar nicht richtig, also müssen wir die Förderschulen erhalten. Jedes Kind hat ein Recht auf inklusive Bildung. Inklusion ist ein Prozess und die Politik muss etwas dafür machen, dass sie verwirklicht wird. Aber es wird ja von den Regierungen nicht einmal politisch vertreten, geschweige denn über Maßnahmen debattiert. Die halbe Welt versucht Inklusion umzusetzen und in Deutschland setzen wir uns hin, verschränken die Arme und sagen mit so einer deutschen Bräsigkeit, nee, also, unsere Förderschulen sind so toll, da sind die Kinder besser aufgehoben.
Aber das sind sie nicht?
Jedes Kind, das auf eine Förderschule geht, wird dafür aus seinem lokalen Umfeld rausgerissen, und allein das ist schon ein Grund dagegen. Wie soll denn Integration oder sogar Inklusion im Erwachsenenalter funktionieren, wenn wir es als Kinder nicht üben?
Glauben Sie, deutsche Politiker*innen lassen sich von ein paar Dutzend Eltern im fernen Genf beeindrucken?
Immerhin hat sich schon eine Reihe von Politikern fast aller Parteien angekündigt, in unserem Protestcamp vorbeizukommen, unter anderem der Bundesbehindertenbeauftragte. Aber wir werden in den kommenden Wochen natürlich auch dafür sorgen, dass der Abschlussbericht der UN in Deutschland diskutiert wird, sobald er da ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“