Elphi-Intendant über das Konzerthaus: „Unglaublich starke Stille“
Christoph Lieben-Seutter wuchs in Wien selbst zwischen Kammermusik und Rocklegenden auf. Jetzt gibt er der Elbphilharmonie ein spezielles Profil.
taz: Herr Lieben-Seutter, spielen Sie ein Instrument?
Christoph Lieben-Seutter: Ich habe ganz brav Klavier gelernt. Seit dem Abitur habe ich allerdings keine Fortschritte mehr gemacht. Hier und da möchte ich meinen klavierspielenden Töchtern noch zeigen, dass ich es auch noch kann. Aber ich hatte nie den Plan, professioneller Pianist zu werden.
Man hört, dass Sie neben Klassik auch mit Pop aufgewachsen sind?
Ja, meine Eltern waren gut in der Musikszene vernetzt. Da gab es einerseits regelmäßige Kammermusikabende bei uns zu Hause, anderseits war mein Onkel der erste große Rock- und Jazz-Veranstalter der Stadt. Er hat Künstler wie Frank Zappa, Jimi Hendrix und Miles Davis nach Wien gebracht. Ich war leider erst fünf Jahre alt, als Hendrix im Konzerthaus auftrat, aber meine gesamte Verwandtschaft war da. Mir wurde erzählt, dass sich die Saaldiener ob der enormen Lautstärke aus Angst unter den Garderobenpulten verkrochen hätten.
Und wen haben Sie persönlich gesehen?
Als Teenager verdiente ich mir ein Taschengeld bei Konzerten von Patti Smith bis Weather Report. Es war für mich normal, mit Künstlern zu verkehren, die längst Legenden sind. Ella Fitzgerald habe ich noch zwei Mal erleben dürfen.
Verhalten sich Pop-Musiker anders als Klassiker?
Nein. Aber der Anspruch in der Klassik ist ein anderer. Handwerk gehört auch im Pop dazu, aber von den großen Klassikstars erwartet man doch noch mehr Perfektion. Da sind ja immer die Referenzaufnahmen: Ich kenne das Stück von der Callas, und habe auch noch den Karajan im Regal stehen. Ein Pop-Musiker muss sich nur an sich selbst messen.
Christoph Lieben-Seutter,
geboren 1964 in Wien, ist verheiratet und hat drei Töchter. In den 80er-Jahren arbeitete er als Software-Ingenieur und Marketing-Assistent. 1988 wurde er Direktionsassistent am Wiener Konzerthaus, von 1996 bis 2007 war er dessen Generalsekretär. Seit 2007 ist er Intendant der Hamburger Elbphilharmonie.
Am 11. Januar 2017 wurde die Elbphilharmonie eröffnet und Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda (SPD) lobt das „unverwechselbare Profil“, das Sie dem Haus gegeben haben. Was für ein Profil ist das?
Ich nehme an, er meint, dass wir neben dem erwartbaren Kanon der Klassik auch Ungewöhnliches bis Abseitiges präsentieren. Zum Beispiel haben die Hamburger Orchester wie das NDR Elbphilharmonie Orchester Vorbuchungsrechte und es gibt Top-Orchester aus aller Welt, die man haben muss. Aber dann gibt es auch die Vorlieben und Entdeckungen von mir und meinem Planungsteam.
Welche Vorlieben sind das?
Wir haben ein starkes Jazzprogramm, aber auch ausgesuchte Künstler aus Pop, Elektronik und Weltmusik. In der Klassik haben wir eine Begeisterung für die Musik des späten 20. Jahrhunderts, für die der Saal auch perfekt geeignet ist. Ich genieße es sehr, dass diese Musik, die als Randbereich der Klassik vielerorts als Kassengift gilt, auch ein ganz normales Publikum begeistern kann. Auch Stockhausen kann swingen!
Wollen Sie Ihr Publikum erziehen?
Das nicht, aber überraschen und begeistern. Niemand soll enttäuscht aus dem Konzert kommen. Wenn die Architektur den Saal ausverkauft und nicht der Künstler, muss die Musik erst recht überzeugen. Zum Beispiel bekommen wir viele Anfragen für Klavier-Solo-Konzerte im Großen Saal, da sind tolle Künstler dabei. Aber ob die auch die Persönlichkeit haben, 2.000 Leute mitreißen zu können – das muss man sich anschauen. Deshalb müssen wir viele Anfragen ablehnen.
Man braucht in der Elbphilharmonie also Entertainer-Qualitäten?
Entertainer wäre zu viel gesagt, aber es braucht Erfahrung und eine gewisse Ausstrahlung. Charisma! Manchen ist das angeboren. Der Mandolinist Chris Thile hatte zuletzt mit seiner Band Punch Brothers im Knust gespielt, aber mir war klar, dass die auch den Großen Saal rocken können.
Bekommen Sie einige prominente KünstlerInnen nur wegen des Gebäudes?
Die meisten Künstler kamen auch vor der Elbphilharmonie gerne nach Hamburg. Nur war die Nachfrage viel geringer. Jetzt fragen viele Künstler von sich aus an und schreiben die Elbphilharmonie in ihre Bio, obwohl sie noch gar nicht bei uns aufgetreten sind.
Ihre Jahresbilanz 2018/19 ist beeindruckend: Die Auslastung im Großen Saal liegt bei 98,9 Prozent. Dennoch: Der ganz große Run hat nachgelassen.
Aber er reicht immer noch aus, fast jedes Konzert im Großen Saal auszuverkaufen. Wir sind darauf vorbereitet, wenn die Nachfrage einmal nicht mehr so hoch sein sollte. Wenn man Elbphilharmonie und Laeiszhalle gemeinsam betrachtet, gehen in Hamburg heute drei Mal so viel Leute in Konzerte als vor der Eröffnung. 2016 hatte die Laeiszhalle 400.000 Besucher, jetzt sind es mehr als 1,2 Millionen pro Jahr in beiden Häusern. Der Großteil dieser Besucher kommt aus der Metropolregion – und das ist die eigentliche Freude. Wer früher einmal im Jahr kam, kommt jetzt vielleicht sechs oder zehn Mal.
Es gab auch Misstöne, so wie beim Avantgarde-Jazzpianisten Vijay Iyer Ende 2018, bei dem Hunderte Zuschauer den Saal verließen. Hatte das nur mit dem Jazz-unkundigen Publikum zu tun?
Bei über 2.000 Konzerten, die bisher in der Elbphilharmonie stattgefunden haben, kann es nicht nur Sternstunden geben. Vijay Iyer ist ein toller Künstler, aber musikalisch sehr anspruchsvoll. Es war ein Fehler, ihn in den Großen Saal zu buchen, der folglich auch lange nicht ausverkauft war. Das hat ein Reisebüro ausgenutzt, ohne Wissen des Veranstalters Kartenkontingente zusammengekauft und zu einer Hamburg-Reise paketiert. Ein Abend Musical, ein Abend Jazzkonzert. Immerhin sind die Leute bis nach der Pause geblieben.
War das ein Einzelfall?
Nur fünf Prozent der Tickets gehen an die Reisebranche, und das meistens an eine sehr kulturaffine Kundschaft. Generell kommt es bei dem Andrang natürlich häufig vor, dass Konzertbesucher nicht genau wissen, worauf sie sich einlassen. Genau das ist aber für Künstler und Publikum eine Chance. Gelegentlich geht mal was schief, aber – no risk, no fun! Dass dann zwei oder drei verunglückte Konzerte über Monate die Weltpresse beherrschen, ist wohl die Kehrseite der Berühmtheit des Hauses.
Ein weiterer Kritikpunkt: Man hört im Großen Saal jeden Huster.
In jedem Konzertsaal hört man jeden Huster. Ab es stimmt schon, dass Publikumsgeräusche in der Elbphilharmonie besonders auffallend sind. Es ist immer ein Wechselspiel: Bei guten Konzerten kann die Elbphilharmonie eine konzentrierte und unglaublich starke Stille erzeugen. Wenn aber auf der Bühne die Konzentration nachlässt, gibt's sofort Räuspern und Husten.
Nils Frahm und The National haben schon im Großen Saal gespielt. Wer ist noch denkbar? Ed Sheeran?
Gerne! Aber der verkauft auch in 24 Stunden ein Stadion aus. Ich kämpfe nicht darum, solche Superstars in die Elbphilharmonie zu holen. Das ist kein normales Konzertgeschehen: Entweder sind die Karten sehr teuer. Oder es sind nur Verlosungsgewinner und Journalisten anwesend. Aber viele Pop-Acts spielen gerne in 2.000er-Sälen. Oft scheitern die Konzerte daran, dass die Vorlaufzeiten viel kürzer als in der Klassik sind. Wenn die Tournee geplant wird, sind wir dann schon ausgebucht.
Sie sind ausgebildeter Software-Ingenieur. Es ist eher ungewöhnlich, so jemanden an der Spitze eines großen Konzerthauses zu sehen.
Technikaffine Musikliebhaber gibt es oft! Offenbar werden da ähnliche Hirnregionen angesprochen. Abgesehen davon bedeutet es nur, dass ich als Geschäftsführer offen für neue technische Entwicklungen bin. Ich werde aber in meinem Leben kein Social-Media-Tier mehr. Und andere meinen Instagram- oder Twitter-Account führen zu lassen, würde sich nicht authentisch anfühlen. Da mache ich es lieber gar nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste