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Zerstörte Jugendherberge Foto: Shoko Bethke

Elf Jahre nach dem Tsunami in JapanAus der Trauer lernen

Die Katastrophe hat Tausende in den Tod gerissen. Geblieben sind Erinnerungsorte und Menschen, die das Geschehene weitertragen.

K ilometerweit steht ein prachtvolles, traditionelles Haus neben dem anderen. Die verschiebbaren Innenwände dieser Gebäude bestehen aus Holz und Papier, die Dächer aus dunklem Ziegel. Um die Häuser herum wachsen japanische Schwarzkiefern, sie ragen hinter den Mauern der Gärten empor. Hier und da finden sich Reisfelder zwischen den Häusern, im Hintergrund sind Berge und Hügel zu erkennen. Es ist ein typischer Anblick einer japanischen Landschaft. Doch dann endet die Häuserreihe abrupt. Es folgen weite, menschenleere Wiesen.

In der Stadt Rikuzentakata in der Präfektur Iwate steht ein einsames, verlassenes Gebäude auf einer solchen Wiese. Um das Haus herum wächst viel Gras und Unkraut, selbst im Treppenhaus sind wild wachsende Pflanzen zu sehen. Ein kleiner, durch Regenwasser entstandener Teich dient als Brutstätte für viele Insekten. Eine Libelle hockt dort, Zikaden und Grillen zirpen um die Wette.

Dort, wo es einst Türen und Fenster gegeben hat, sind am Gebäude nur noch quadratische Öffnungen und verbogene Metallstangen zu sehen. An den Außenwänden hängen Fensterrahmen lose herab, im ersten Stock liegt ein Kühlschrank senkrecht auf einem Balkon. In der Nachbarwohnung rechts daneben liegt eine verschmutzte Matratze, auf einem anderen Balkon hängt ein großer Ast.

Lediglich das vierte und zugleich oberste Stockwerk ist halbwegs intakt geblieben. Nur vereinzelt fehlen Glasscheiben, die zum Balkon oder Fenster gehörten. Ganz links am Geländer ist ein Schild angebracht. Eine weiße Linie zieht sich durch die Mitte, darüber stehen die Worte: „Tsunami kam bis hier.“ Dazu die Information: 14,5 Meter.

Es ist um das Objekt herum sehr ruhig. Ab und zu fahren Autos auf den neuen, frisch asphaltierten Straßen vorbei. Vorbei am Gebäude und vorbei an der Stadt, die seit elf Jahren nichts mehr zu bieten hat.

Im Schatten der Reaktorkatastrophe

Das Gebäude, das einst 40 Wohnungen beherbergte, ist eines von fünf Monumenten, die in dieser Stadt an das Erdbeben und den Tsunami vom 11. März 2011 erinnern. Mehrere Orte wurden an jenem Tag von einer gewaltigen Erderschütterung und anschließend meterhohen Wellen verschluckt. Die Präfekturen, die am härtesten betroffen waren, heißen Iwate, Miyagi und Fukushima.

Letztere gilt bis heute als gleichbedeutend mit dem durch den Tsunami ausgelösten Reaktorunfall im gleichnamigem Atomkraftwerk. Die Folgen, darunter radioaktiv verstrahlte Gebiete, die bis heute nicht betreten werden können, führten bis ins ferne Deutschland zu einem Umdenkungsprozess, zu Demonstrationen und Protesten gegen die Risiken der Atomkraft. Damals entschied Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Nutzung der Atomenergie in der Bundesrepublik stufenweise zu beenden.

Hiroyuki Abe versucht den Jüngeren zu erklären, was damals geschehen ist

Die Atom-Katastrophe von Fukushima ist bis heute weltweit im Gedächtnis geblieben. Fast vergessen ist außerhalb Japans jedoch, dass damals tausende Menschen infolge des Tsunamis ihr Leben verloren. Insgesamt starben 19.747 Menschen, 2.556 gelten als vermisst.

Das Ausmaß des Desasters, das die Wellen angerichtet haben, ist in den Küstenregionen der Präfekturen Iwate und Miyagi noch immer sichtbar. Allerdings weniger wegen der Monumente und Denkmäler, die an jenen Tag erinnern sollen. Sondern an den kilometerlangen Wiesen, dort, wo es einst Häuser, Geschäfte und ein Leben gegeben hat.

Es gab hier normalen Alltag. Menschen hatten Träume und Hoffnungen, genauso wie ihr.

Hiroyuki Abe, Kataribe

„Es gab hier einen ganz normalen Alltag“, erzählt Hiroyuki Abe, als er von der Zeit vor dem 11. März spricht. „So einen, wie ihr ihn heute führt. Die Menschen, die hier gewohnt haben, hatten Träume und Hoffnungen, genauso wie ihr.“

Hiroyuki Abe ist 60 Jahre alt und arbeitet als „Kataribe“. Das ist Japanisch und beschreibt eine Person, die ein Geschehnis an die nächste Generation weitergibt. Abe selbst ist ein Überlebender der Katastrophe. Wie so viele andere hat auch er an dem Tag Menschen verloren, die ihm nahestanden. Ähnlich wie sich der 11. September für viele US-Amerikaner:innen und Eu­ro­päe­r:in­nen als Schicksalstag in die Geschichtsbücher eingeschrieben hat, hat sich der 11. März für die Menschen in Japan als traumatisierendes, prägendes Ereignis ins Gedächtnis eingebrannt.

Im Gegensatz zu anderen Kataribes vermeidet es Abe allerdings, über seine verlorene Familie oder Freun­d:in­nen zu sprechen. Ob er also eine Frau oder Kinder gehabt hat, ist ungewiss. Nur so viel gibt er preis: Seit jenem Tag ist er allein. Auf konkrete Nachfrage brummt er, dass es ihm Kopfschmerzen bereite, an diesen Tag zu denken. Warum tut er sich dann den Zwang als Kataribe an, wo er sich immer wieder mit dem 11. März auseinandersetzen muss?

„Ich habe noch nie so viele Tote wie an jenem Tag gesehen“, sagt er knapp. Die Toten haben auch mit menschlichem und verwaltungstechnischem Versagen zu tun. Viele seien dem Tsunami zum Opfer gefallen, weil sie nicht gut genug informiert waren. Als Überlebender hat es sich Abe zur Aufgabe gemacht, über Naturkatastrophen aufzuklären.

Beben und Tsunami am 11. März 2011 in Japan

Ursachen

Das Erdbeben von 2011 war das Ergebnis einer Überschiebung an der Grenze zwischen der Pazifischen Platte und der Nordamerikanischen Platte östlich von Japan. Dort bewegt sich die Pazifische Platte mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 83 Millimetern im Jahr auf die Nordamerikanische Platte zu. Am 11. März 2011 kam es zu einer ruckartigen Verschiebung um bis zu 27 Meter, die ein Beben in der Stärke neun auf der Richterskala auslöste.

Folgen

Etwa 20 bis 45 Minuten nach dem Beben erreichte ein Tsunami die japanische Pazifikküste. Weil die Behörden zunächst nur vor drei bis sechs Meter hohen Wellen warnten, glaubten sich viele Menschen ausreichend geschützt. Tatsächlich erreichte die Flutwelle örtlich eine Höhe von bis zu 40 Metern. Gegenmaßnahmen, darunter Wellenbrecher und erhöhte Ufer-Befestigungen, erwiesen sich als unzureichend. Mehr als 20.000 Menschen kamen ums Leben.

Konsequenzen

Nach der Katastrophe zog Japan Konsequenzen. Neue, stärkere Wellenbrecher wurden entwickelt und gebaut. Küstenwälder sollen künftig das Land besser schützen, In besonders tief gelegenen Regionen wurde die Bevölkerung umgesiedelt, was allerdings nicht überall gelungen ist. Ein neues, besseres Tsunami-Warnsystem soll künftig vor einer neuen Katastrophe warnen. (taz)

„Ein Tsunami kommt nicht nur einmal, er kommt mehrmals, immer wieder“, erzählt er. „Und er kommt aus verschiedenen Richtungen. Er kommt nicht nur vom Meer. Er kommt auch von der Seite, vom Fluss.“

Schlecht vorbereitet ins Desaster

Viele Bewohner:innen, die direkt an der Küste lebten, wussten genau, was sie zu tun hatten, nachdem sie das Erdbeben überstanden: so hoch wie nur möglich auf einen Hügel steigen. Vielen, die an Flüssen oder in den Stadtzentren wohnten, fehlte dieses Wissen. Sie dachten nicht daran, dass ein Tsunami folgen könnte, schon gar nicht in dieser Größe und nicht dort, wo sie lebten. Die meisten Menschen flüchteten nur so weit, wie sie es für nötig hielten. Es war oft nicht weit genug.

Die Katastrophe vom 11. März 2011 hatte gewaltige Ausmaße. Während für gewöhnlich ein Erdbeben wenige Sekunden andauert, wurden mehrere Städte von einer drei Minuten dauernden, starken Erschütterung von einer Magnitude 9 auf der Richterskala getroffen. Anschließend folgte die Flut. Insgesamt wurden 62 Städte in sechs Präfekturen vom Tsunami heimgesucht, die Größe der betroffenen Fläche betrug 561 Quadratkilometer. Die höchste Welle stieg auf 40,5 Meter.

In Minamisanriku bleibt Abe vor einem verwüsteten Gebäude stehen. Die Stadt liegt in der Präfektur Miyagi und ist etwa vierzig Autominuten von Rikuzentakata entfernt. Das Objekt, vor dem Abe steht, heißt Takano Kaikan und wurde ursprünglich als Ort konzipiert, um dort Hochzeiten zu feiern. Heute dient es als Monument, das an den Tag des Tsunamis erinnert. Vor Abe versammeln sich neunzehn neugierige Köpfe, die sich für ein Freiwilligenprogramm angemeldet haben, die meisten von ihnen sind Studierende. Sie haben sich aus ganz Japan hier versammelt, um mehr über die Katastrophe zu erfahren.

Er verlor seine Tochter im Tsunami. Heute will der Mann an die Katastrophe von vor elf Jahren erinnern Foto: Shoko Bethke

Mit Helm gewappnet steigt die Gruppe die Treppenstufen bis zum Dachgeschoss hinauf. Auf dem Weg dorthin liegen Schutt, verbogene Metallröhren und Glassplitter herum, von der Decke hängen Lampen herunter. Am Boden ragen Nägel heraus, über die man schnell stolpert. Ein Rest von Hochzeitsflair hat sich erhalten: Die Treppenstufen sind bedeckt von einem Teppich mit verblasstem Rosenmuster, an den Decken hängen defekte Kronleuchter, die Wände tragen verwaschene rosafarbene Tapeten.

Während Abe die Gruppe durch das Gebäude führt, präsentiert er Fotos von der damaligen Flut. Auf einem Bild sind nur noch Dachspitzen einzelner Häuser zu erkennen, alles andere steht unter Wasser oder wurde fortgetragen. Abe schaut in die Runde.

Nur Minuten, und eine Stadt war zerstört

„Der Tsunami kam ungefähr 40 Minuten nach dem Erdbeben“, erklärt er. „Wie lange dauerte es von da an, bis die Stadt komplett vom Tsunami mitgerissen wurde?“

Die Mitglieder der Gruppe schauen sich um, niemand traut sich zu sprechen. Erst nach kurzem Zögern hebt eine Studentin ihren Arm: „Fünf Stunden.“

Abe fragt, wie sie zu dieser Zahl kommt. Die Studentin erklärt, dass sie glaube, dass es durchaus eine Zeit brauche, bis eine Stadt komplett weggerissen wird. Daraufhin meldet sich ein anderer Student und gibt eine Stunde als Antwort. Er glaubt, dass die Auswirkung eines Tsunamis gewaltig sei – und dass fünf Stunden zu viel wären. Zwei weitere melden sich und geben dreißig und zehn Minuten als Antwort an. Abe blickt sich um, es meldet sich niemand mehr.

„Sechs Minuten“, sagt er knapp. „Sechs Minuten dauert es, bis eine ganze Stadt von einem Tsunami mitgerissen wird.“

Auf der Dachterrasse angekommen, hält Abe ein anderes Foto hoch. Es zeigt eine Szene, hier auf dieser Terrasse während der Flut: Mehrere Menschen werden evakuiert, etwa zehn Personen stehen am Geländer und blicken nach draußen. Das Flutwasser steht ihnen bis zu den Füßen. Sie halten Ausschau nach weiteren Hilfsbedürftigen. Doch die Strömung sei zu stark gewesen, erklärt Abe.

„Das hier ist ein kleiner Ort, jeder kannte jeden“, sagt er. „Diese Leute am Geländer mussten also Bekannten und Freunden dabei zuschauen, wie sie von den Wellen mitgerissen wurden.“ Noch immer seien alle zehn traumatisiert, einige sind seitdem psychisch erkrankt. Manchen hat es das Leben gekostet.

Während er erzählt, spricht Abe immer langsamer. Irgendwann bricht seine Stimme. Dann schweigt er nur noch, kehrt der Gruppe den Rücken zu und blickt stumm auf die weite Wiese, wo einst jene Häuser gestanden haben. Er steht genau an dem Geländer, wo die zehn vergebens versucht haben, anderen zu helfen.

Nach Meinung von Abe hätten viele Menschen gerettet werden können, wären sie besser aufgeklärt gewesen. Dann hätten sie beispielsweise gewusst, dass sie nicht auf die höchsten Stockwerke der Gebäude, sondern in die Berge hätten flüchten müssen. Berge sind höher. Eine weitere Gefahr, die viele Menschen nicht bedachten, war die Kälte. In den betroffenen Präfekturen schneite es nachts. Da sämtliche Decken und Kleidung mitgerissen worden waren, erfroren viele infolge der eisigen Temperaturen. Überlebende berichten davon, wie sie kein Auge zudrücken konnten, weil sie so sehr gefroren haben.

Tödliches Warten auf die Enkel

Viele der Älteren warteten damals vergebens auf ihre Enkelkinder. Als das Erdbeben begann, war es 14.46 Uhr – eine Zeit, zu der sich viele Kinder auf dem Heimweg von der Schule befanden. Trotz heulender Sirenen, die sämtliche Be­woh­ne­r:in­nen zur Evakuierung aufforderderten, blieben etliche Großeltern zu Hause. Sie warteten auf die Rückkehr ihrer Enkel, um anschließend gemeinsam zu flüchten. Was sie nicht bedachten: die meisten Schulen dienten bereits als Evakuierungsorte. Lehrkräfte ließen ihre Schü­le­r:in­nen nicht mehr nach Hause, da sie in den Schulen, die meistens auf Hügelspitzen standen, eher in Sicherheit waren. Das Warten kostete viele Alte ihr Leben.

Es gab auch Schulen und Kindergärten, die ihre Schü­le­r:in­nen nicht schützten. Ein bekannter Fall ist die Ōkawa-Grundschule in der Stadt Ishinomaki, an der die Lehrkräfte zur Flucht bereite Kinder zurück auf den Schulhof riefen. Während die Schü­le­r:in­nen eine schnelle Evakuierung erflehten, vertrödelten die Lehrkräfte ihre Zeit.

So erreichte der Tsunami die Schule. Von den 77 Schüler:innen, die sich zu diesem Zeitpunkt auf dem Gelände aufhielten, überlebten nur drei. 70 starben durch die Welle und wurden in den darauf folgenden Tagen von ihren Eltern aus dem Schlamm gegraben, vier Kinder gelten noch immer als vermisst.

Ein Vater, der damals seine Tochter an dieser Schule verloren hat und etliche bekannte Kinder aus dem Schlamm graben musste, spricht heute als „Kataribe“, also als Erzähler dessen, was geschehen ist. Er steht auf dem Schulhof und blickt auf einen Hügel, direkt neben dem Schulgelände. Die Erhebung befindet sich weniger als zwei Minuten Fußweg von der Schule entfernt. Die Kinder, die anfangs geflüchtet waren und von ihren Leh­re­r:in­nen zurückgerufen wurden, hätten dort überleben können.

Die Kinder aus dem Bus

In derselben Stadt kamen fünf Kinder des Hiyori-Kindergartens ums Leben. Sie hätten überleben können, wenn sie in ihrem Kindergarten geblieben wären – er befand sich auf einem Hügel. Stattdessen fuhr ein Bus die Kinder talabwärts, um sie in ihre Wohnhäuser zu bringen. Dabei ignorierte der Busfahrer sämtliche Warnsirenen, die durch die ganze Stadt heulten und zur Flucht in die Berge aufforderten. Der Bus mit den fünf Kindern blieb in einen Verkehrsstau stecken und wurde anschließend von dem Tsunami mitgerissen. Einzig dem Busfahrer gelang es, zurück zu dem Kindergarten zu flüchten. Die zurückgebliebenen Kinder gerieten in ein Feuer, das sich nach der Flut ausbreitete. Überlebende berichteten, dass die Hilfeschreie der Kinder bis in die Nacht zu hören waren. Erst drei Tage später fanden die Eltern die verkohlten Oberkörper.

Heute befindet sich an der Stelle, an der der Bus nach dem Tsunami gefunden wurde, ein Mahnmal. Auf der Rückseite sind vier der fünf Kindernamen eingraviert, eines davon zeigt den Namen von Harune Saijō. Sie ist die kleine Schwester der heute 19-Jährigen Kazane Saijō. Zehn Jahre lang hatte sie die Erinnerung an den 11. März verdrängt und darüber beharrlich geschwiegen. Heute steht sie neben Abe vor einer Gruppe von Studierenden und klärt als „Kataribe“ über die Schrecken der Flutkatastrophe auf.

„Auch bei uns hat sich die Evakuierung verzögert“, erzählt sie. Saijō ist schlicht gekleidet, ihre Stimme ist leise, aber fest – selbst wenn sie von der Trauer spricht. Sie war acht Jahre alt und befand sich zu Hause, als das Erdbeben begann. Ihr Großvater und ihre sechs Jahre ältere Cousine waren bei ihr. Als ihre Großmutter und ihr jüngerer Bruder nach dem Beben nach Hause kehrten, blieb die Familie daheim, da die Eltern und die jüngere Schwester Harune noch fehlten. Die Großmutter beharrte darauf zu warten, bis alle beisammen waren. Doch während sie warteten, erreichte das Flutwasser das Erdgeschoss. Es kam vom nahen Fluss.

„Ich fand es nicht besonders gruselig zu diesem Zeitpunkt“, erklärt Saijō, als sie von diesem Moment spricht. Das Wasser sei etwa 15 Zentimeter hoch gestiegen, so dass die Zimmer überfluteten. Doch der Anblick sei so fern von ihrer Realität gewesen, dass sie es nicht wirklich greifbar gefunden habe. Da die fünf Familienmitglieder nicht mehr nach draußen fliehen konnten, flüchteten sie in den ersten Stock des Hauses. Ohne zu wissen, wo die Eltern oder die Schwester sich befinden könnten, verbrachten sie dort Tage und Nächte.

Erst zwei Tage später kehrten die Eltern zurück. Die beiden hatten die Nächte nach dem Erdbeben im Auto auf einem Parkplatz eines Drogeriemarktes verbracht und wegen der Überflutungen nicht nach Hause zurückkehren können. Am Tag darauf kehrte auch das letzte fehlende Familienmitglied, die kleine Schwester Harune, zurück – ihr Körper fand sich verbrannt im Bus des Kindergartens.

„In Nachrichten liest man oft von Tragödien und traurigen Schicksalen“, erzählt Saijō. „Ich habe aber niemals daran gedacht, dass so ein Schicksal die eigene Familie treffen könnte.“

Wenn ich die Möglichkeit hätte, würde ich meine Schwester gerne umarmen.

Kazane Saijō, deren Schwester 2011 starb

Als Zweitklässlerin hat Saijō die Realität nicht wirklich greifen können. Sie habe lange Zeit gelebt wie in einem Traum. „Ich wusste durchaus, was passiert war. Dass es das Erdbeben gab. Dass viele Menschen gestorben waren. Dass meine Schwester nicht mehr neben mir war. Es hat sich aber alles nicht real angefühlt“, erklärt sie. Daher habe sie jahrelang auch keine Trauer gespürt. Viel stärker sei die Einsamkeit gewesen.

Nach der Katastrophe waren die Erwachsenen damit beschäftigt, das Haus neu herzurichten. Kinder durften das Gebäude nicht verlassen, da es draußen wegen Trümmern und Schlamm als gefährlich galt. Saijō verbrachte die Tage nach der Katastrophe oft alleine zu Hause. Als die Schule wieder öffnete, sprach sie mit ihren Freun­d:in­nen kaum über die Katastrophe. Auch ihren Eltern konnte sie nicht sagen, dass sie sich einsam fühlte. Erst mit zunehmendem Alter sei die Trauer in ihr hochgekommen, erklärt Saijō. Langsam habe sie angefangen, darüber nachzudenken, wie das Leben verlaufen wäre, wenn ihre Schwester noch am Leben wäre.

An die letzten Worte, die sie mit ihrer Schwester gewechselt hat, kann sich die 19-Jährige nicht mehr erinnern. Überhaupt sei die Erinnerung an den 11. März 2011 nicht ganz klar. Auf die Frage, was sie ihrer Schwester heute erzählen würde, wenn sie sie wiedersehen würde, hat Saijō keine Antwort.

„Ich will sie einfach nur umarmen“, sagt sie schließlich. „Meine Schwester war verkohlt, als man sie gefunden hat. Der Körper war völlig zerfetzt, ich konnte sie nicht berühren. Es wird zwar niemals mehr dazu kommen. Aber wenn ich die Möglichkeit hätte, würde ich sie gerne umarmen.“

Die letzte Erinnerung, die sie an ihre kleine Schwester habe, sei aber schön, erzählt sie. Es ist das letzte gemeinsame Abendessen vor dem Tsunami. Die gesamte Familie habe um den Tisch herum gesessen, auf dem sich mehrere Speisen befanden. Es sei ein gewöhnlicher Abend gewesen, an dem einfach nur alle beisammen waren und sich Dinge erzählten. Was sie gegessen und worüber sie geredet haben, weiß Kazane Saijō heute nicht mehr. Sie erinnert sich nur noch daran, dass es schön war. Und dass ihre Schwester neben ihr gesessen hat.

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