Elendsviertel Sidi Moumen: „Ich wollte aus Marokko weg“
Über Sidi Moumen wurde nach Silvester 2015 viel geredet. Besuch bei einem Mann, der in Deutschland sein Glück suchte – und nun zurück ist.
Die Jungs, sagt Boubker Mazoz, „die Jungs haben hier kaum Perspektiven.“ Er leitet das Kulturzentrum in Sidi Moumen, einem Stadtteil von Casablanca, Marokko. „Die meisten von ihnen träumen von Deutschland“, erzählt er.
Ein Traum, der für viele junge Männer seit der Kölner Silvesternacht vor einem Jahr in weite Ferne gerückt ist. Seitdem kennt man Sidi Moumen auch in Deutschland, das Viertel hat dort für Schlagzeilen gesorgt. Negative Schlagzeilen: Laut Polizeiberichten kamen viele der mutmaßlichen Täter, die am Kölner Hauptbahnhof Frauen belästigt haben, aus diesem Viertel, das auch in Marokko längst traurige Berühmtheit erreicht hat. Es gilt als Hochburg von Kriminellen, Drogenhändlern und Islamisten.
Begründet wurde der schlechte Ruf spätestens im Mai 2003 – damals war bekannt geworden, dass die Drahtzieher jener islamistisch motivierten Selbstmordanschäge, bei denen vierzig Menschen um ihr Leben kamen und über einhundert verletzt wurden, aus Sidi Moumen stammten.
Sidi Moumen, das ist ein Moloch am nördlichen Rand von Casablanca. Auf dem Areal, das einst als Müllkippe angelegt worden war, leben heute geschätzt 500.000 Menschen. Jeder achte Einwohner der Millionenmetropole Casablanca. Wer ein wenig Glück hatte, wohnt in einer der vielen Sozialwohnungen, die an den Rändern der einstigen Müllkippe gebaut wurden. In den achtziger und neunziger Jahren ersetzten sie die Blechhütten, die endlich aus dem Stadtbild verschwinden sollten. Trotzdem hausen immer noch mehr als ein Drittel der Einwohner Sidi Moumens unter Wellblechdächern. Ein Großteil von ihnen ist in noch jugendlichem Alter.
Marokkos modernes Image
Kinder spielen in den engen Gassen zwischen den Hütten. Der Boden ist schmierig. An einer Ecke, an der die Sonne scheint, liegt altes Brot zum Trocknen. Daraus wird vermutlich später Couscous gemacht, die Nationalspeise Marokkos. Hier und da stehen Tiere: Esel und Kühe, Federvieh. Sie fressen an den herumliegenden Müllhäufchen herum. Es ist ein Ort, der nicht zu dem Image als modernes, relativ reiches Land passen will, das sich Marokko in den letzten Jahren zugelegt hat.
Boubker Mazoz hat 2006 das „Sidi-Moumen-Kulturzentrum“ gegründet. Mitte sechzig ist er. Grauer Schnurrbart, dunkler Anzug. Seine grauen Haare verdeckt er mit einer Baskenmütze. Die Jungs hier im Viertel bezeichnet er als „seine Jungs“. Das Kulturzentrum unweit der Wellblechhüttenkolonie soll ein Treffpunkt für sie sein.
„Köln“ ist zur Chiffre geworden für Silvesternächte, die aus dem Ruder laufen. Was diesmal wirklich passiert ist und was daraus folgt, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 7./8. Januar 2017. Außerdem: Die digitale Patientenkarte ist Pflicht beim Arztbesuch. Unsere Autorin will sich dem System verweigern, weil sie Angst vor Datenmissbrauch hat. Geht das? Und: Der zweite Band der neapolitanischen Saga „Meine geniale Freundin“ ist erschienen. Andreas Fanizadeh hat ihn gelesen. Das alles und noch viel mehr – am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.
Es ist ein schlichtes Gebäude, zwei Geschosse, und tatsächlich kommen die Kinder und Jugendlichen gern hierher. Es werden Sprach-, Musik- und Theaterklassen angeboten. Es gibt eine Bibliothek. Es gibt ein Fußballfeld. Und einen ausrangierten amerikanischen Schulbus mit Kennzeichen des Bundestaates Virginia, der als Abenteuerspielplatz und Aufenthaltsraum genutzt wird. Drin sitzt Abdeslam, zusammen mit seinen Kumpels.
Abdeslam ist 21. Er trägt die Haare nass nach hinten gekämmt. Seine taillierte schwarze Lederjacke und die engen Jeans betonen seinen kleinen, dünnen Körper. Stolz erzählt er vom Abenteuer seines Lebens, das ihn bis nach Frankfurt gebracht hat, als illegaler Migrant, weshalb er seinen Nachnamen nicht nennen möchte. In Köln aber sei er nie gewesen, er schwört es: „Ich wollte aus Marokko weg. Hier ist es schön. Hier gibt es alles. Aber wenn du nichts hast, dann bist du niemand.“
Aus Sidi Moumen kommen die Parkplatzwächter
Abdeslam fasst ganz gut in Worte, was seine Heimatstadt Casablanca ausmacht. Es ist die größte und zugleich die reichste Stadt in Marokko. Hier leben etwa vier Millionen Menschen. Die Reichen zeigen gern das, was sie haben. Sie versuchen, ihren europäischen Vorbildern aus Paris und London nachzueifern, dabei heraus kommt ein Lifestyle, der dem der Golfaraber ähnlich ist: Zur Schau gestellter Konsum und Luxus prägen das Stadtbild. Fette Autos, Markenklamotten werden wie auf dem Laufsteg präsentiert, man speist in teuren Restaurants. An einem Abend gibt ein einzelner Reicher hier locker mehr aus als das, was der Parkplatzwächter oder die Putzkraft in einem Monat verdient. Und genau diese Leute kommen aus Vierteln wie Sidi Moumen.
Abdeslam wollte nicht Parkplatzwächter werden. Früher, so erzählt er, habe er als Fahrer gearbeitet. Doch dann, Anfang November 2015, als die „Flüchtlingswelle“ in Richtung Europa ihren Höhepunkt erreicht hatte, verkaufte er seinen Roller und seinen Hund – für ein Ticket nach Istanbul. Damals, hatte sich in Sidi Moumen herumgesprochen, dass es leicht sei, nach Deutschland zu kommen. Man sah im Fernsehen die offenen Grenzen – und eine Chance, dem Elend zu entfliehen.
Boubker Mazoz, der Sozialarbeiter, erinnert sich an die Zeit: „Zuerst lerne man den syrischen Dialekt und dann viel über Syrien … Wir hatten zu der Zeit einen Witz: Wenn die Jungs von der türkischen Polizei verhaftet werden, werden sie gefragt, woher kommst du? – Aus Marokko. – Und was machst du hier? – Ich bin syrischer Flüchtling.“
Abdeslam versichert, dass er sich immer nur als Marokkaner ausgegeben hat. Drei Wochen habe er damals gebraucht bis zur deutschen Grenze. Von Istanbul ging es mit dem Bus nach Izmir, mit dem Schlauchboot weiter nach Griechenland, dann die Balkanroute – bis nach Deutschland. Er erzählt von dieser Zeit wie ein Neunzigjähriger, der beide Weltkriege erlebt hat. „Ich habe viel gelitten. Schlimme Sachen durchgemacht.“ Er wurde überfallen, mit Waffen bedroht, hat unter Brücken geschlafen. Wenn da nicht sein noch kindliches Lachen wäre, könnte man tatsächlich vergessen, wie jung er eigentlich ist.
So jung, dass er sich in Frankfurt erfolgreich als minderjährig hatte ausgeben können. „Wenn du minderjährig bist, dann kümmern sie sich um dich“, sagt er. „Sie haben mich ins Hotel gebracht, haben mich gefragt, ob ich Klamotten haben will. Sie haben mir gegeben, was ich brauchte.“ Das sei die schönste Zeit gewesen, erinnert er sich. „Ganz ehrlich, die Deutschen haben sich sehr um mich gekümmert. Ich bin jeden Tag in die Schule gegangen. Habe Fußball gespielt, sie haben mir Fußballschuhe gegeben.“
Bei Facebook nennt er sich „der Deutsche“
Doch dann wurde er einem Heim im Ruhrgebiet zugeteilt. Es gab Streitereien zwischen den Nationalitäten. Und weil er allein dort war, keiner der Gruppen und Familien zugehörig war, wurde er von den anderen ausgeraubt und geschlagen.
Er „haute ab“, fing an, durch ganz Europa zu reisen. Mal habe er bei anderen Marokkanern gelebt, mal Flaschen gesammelt. „Du brauchst nicht viel, um dich in Europa über Wasser zu halten“, sagt er. Überall sei er freundlich empfangen worden. „Du hast Würde, auch wenn du nichts hast. Nicht wie hier in Marokko.“ Doch er wusste, dass er kaum Chancen hatte, in Europa zu bleiben.
Er zückt sein Handy und zeigt Bilder von sich in Frankfurt, Brüssel, Paris, Mailand. Hier in Sidi Moumen, der Beweis dafür, dass er es an all die Orte geschafft hat, von denen seine Altersgenossen aus der Nachbarschaft nur träumen können.
Und doch ist er zurückgekommen. Er musste, wie er sagt. Angeblich, weil seine Mutter krank ist. Ein Grund, der ihn in seinen eigenen Augen männlicher erscheinen lässt. Keiner seiner Freunde in Sidi Moumen wird ihm vorwerfen können, er hätte es in Europa nicht geschafft.
In seinem Facebook-Profil nennt er sich nun „der Deutsche“. Und den Traum, wieder nach Deutschland zu gehen, hat er nicht aufgegeben, „weil man dich dort mit Würde behandelt – du siehst dich selbst als wertvoll an. Du fühlst dich wie ein Mensch. Auch wenn eine Katze auf einem Stuhl schläft, wird sie in Deutschland keiner wegscheuchen. In Marokko werden Menschen nicht so gut behandelt.“
„Nie hatte ich Handschellen um. Bis zu dieser Nacht“
Die Bilder auf seinem Mobiltelefon sind auch der Beweis, dass er in der Silvesternacht nicht in Köln war. „Hier, sieh mal“, sagt er, als hätte er auf die Frage gewartet, wo er den Jahreswechsel gefeiert habe. „Ich war in Brüssel.“ Das habe er auch der Polizei bei einer Nachtrazzia im Februar in seinem Heim im Ruhrgebiet erzählt. „Nie hatte ich Handschellen um. Bis zu dieser Nacht.“ Nach den Ereignissen in Silvester sei es vorbei gewesen mit der Freundlichkeit. Die Polizei habe sein Telefon durchsucht, seine Fingerabdrücke genommen. Die Selfies in Brüssel haben ihn gerettet.
Die Ereignisse der Kölner Silvesternacht und ihre Folgen sind auch bis Sidi Moumen gedrungen. Boubker Mazoz ist wütend, als er erzählt: „Die Menschen haben sich geschämt! Viele haben sich auch verletzt gefühlt, denn es geht um den Ruf unseres Landes.“ Mazoz spricht von „einer Hand voll Krimineller“, wenn er von den Tätern von Köln redet.
Abdeslam spricht von Verrückten, die anderen die Chance ihres Lebens versaut und ihm selbst das Leben schwer gemacht hätten. „Du konntest danach nicht mal mit Frauen normal reden als Marokkaner. Sie dachten dann, der will mich beklauen, der will mich verarschen. Als käme man von einem anderen Planeten.“ Vor Silvester habe er Kontakte zu Frauen gehabt.
Man habe sich im Einkaufszentrum getroffen, im Park, bei McDonald’s auch – und habe geredet. „Und wenn sie dich mag, dann sagt sie …“ Er hält kurz inne und versucht sich zu erinnern. Dann fällt ihm der Satz ein. „Ich liebe dich“, sagt er auf Deutsch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren