Eklat um Internationalen Literaturpreis: Spielregeln für Literaturjurys?
Wie sollen sich ästhetische Kategorien zu Identitätspolitik verhalten? Eine etwas ratlose Recherche zum Literaturpreis-Streit – und ein Vorschlag.
Erste Dinge zuerst: Es bleibt bei Aussage gegen Aussage. Wer sich die Zeit nimmt, mit allen Seiten des aktuellen Eklats um den Internationalen Literaturpreis zu sprechen, kann abwechslungsreiche und interessante Stunden erleben. Aber verkünden, wie es wirklich war, das kann er danach nicht.
Juliane Liebert und Ronya Othmann bleiben, auch in öffentlichen Interviews, bei ihrer in der Zeit vom 16. Mai ausgeführten Darstellung, nach der 2023 auf der Shortlist des Preises eine weiße Autorin durch eine schwarze Autorin allein aus außerliterarischen, nämlich rein identitätspolitischen Gründen per Mehrheitsbeschluss ausgewechselt worden ist, und sie können das auch gut beglaubigen.
Es gibt E-Mails, die ihre Lesart stützen, und das etwas Seltsame der Umstände – warum haben sie das nicht intern geklärt, warum wenden sie sich so spät an die Öffentlichkeit – können sie auch ganz gut auflösen.
Andere Jurymitglieder dagegen erzählen einem am Telefon genauso plausibel, dass während der Jurysitzung die ganze Zeit über ästhetische Kategorien im Zentrum gestanden haben, und auch, dass der Satz, der für viel Empörung gesorgt hat – „Du als weiße Frau hast hier eh nichts zu sagen“ –, überhaupt nicht gefallen ist. Vielmehr sei in einer leidenschaftlichen Debatte gefragt worden, ob Nichtbetroffene wirklich alle Diskriminierungserfahrungen nachvollziehen können. Als Ausschließungsversuch aus der Debatte sei das nicht gemeint gewesen.
Letzteres ist eine Sicht der Dinge, die das Haus der Kulturen der Welt (HKW), das den Preis organisiert, auch in einer öffentlichen Stellungnahme vertritt. In Telefongesprächen wird einem zudem versichert, dass auch die während der Jurysitzung zuhörenden HKW-Mitarbeiter*innen (ohne Stimmrecht selbstverständlich) den inkriminierten Satz nicht gehört haben.
Im Eifer des Gefechts
Was nun? Sitzungen von Literaturjurys bedeuten Kommunikation unter Anwesenden mit hohem Entscheidungsdruck. In ihnen kommt es nicht nur darauf an, was man sagt, sondern auch, wie man es sagt, mit welcher Körperhaltung und Stimmlage. Sind bei Juliane Liebert und Ronya Othmann im Eifer des Gefechts angeführte Argumente allzu eindeutig angekommen? Wurde eventuell nicht transparent genug kommuniziert, dass die erste Abstimmung, deren Ergebnis verändert wurde, nur eine Diskussionsgrundlage darstellte, wie andere Jurymitglieder ausführen?
Oder andersherum: Tilgen die anderen Jurymitglieder und HKW-Mitarbeiter in ihrer Sicht der Dinge mögliche Ambivalenzen und Unklarheiten, um den Internationalen Literaturpreis zu schützen, dessen diesjährige Shortlist kommende Woche verkündet werden soll?
Das alles ist Spekulation. Nur eins ist klar: Die Wahrheit liegt auf keinen Fall in der Mitte. Aber, ganz ehrlich, man ist ja als Literaturjournalist auch keine Wahrheitskommission.
Ein kühler diskursanalytischer Blick auf die vom Eklat ausgehende öffentliche Debatte hilft auch nicht weiter. Die Frage nach der Rolle von Identitätspolitik bei den Literaturpreisen kontern die Verteidiger des Preises nicht direkt, sondern auf dem ganz anderen Feld, dass Liebert und Othmann mit ihrem Whistleblowing fundamentale Spielregeln des Literaturjurywesens verletzt hätten.
Kurz, man konnte sich zunächst noch nicht einmal darauf einigen, an welchem Punkt man überhaupt unterschiedlicher Meinung sein soll. (Rechts-außen-Positionen, die die Debatte ausbeuten wollen und Rassismus gegen Weiße anprangern, gibt es auch, aber das ist allzu durchsichtig; zur Sicherheit sei hier ausdrücklich hingeschrieben, dass Liebert und Othmann sich davon distanzieren.)
Ausbootung oder normaler Vorgang?
Bei all der Aufregung irgendwo fast lustig: dass es vom Ergebnis der Jurydiskussion her gar nichts zu skandalisieren gibt. Mit Mohamed Mbougar Sarr als Preisträger sind alle Beteiligten einverstanden, und zwar ausdrücklich aus ästhetischen Gründen. Auch mit der schließlich von sechs auf acht Autor*innen erweiterten Shortlist können alle leben.
Kontroversen gibt es allerdings zur Frage, warum Liebert und Othmann nach nur einem Jahr in der Jury nicht weiter berücksichtigt wurden, während vier andere Mitglieder auch dieses Jahr in ihr sitzen. Ausbootung oder normaler Vorgang? Hier gehen die Meinungen auseinander.
Festhalten kann man aber auch, wie sehr alle Beteiligten nachdrücklich betonen, dass ästhetische Kategorien unbedingt zentral sein müssen. Sie seien es im vergangenen Jahr auch gewesen, wird einem versichert, von tiefgreifenden poetologischen Diskussionen ist die Rede.
Wozu einem einfallen kann, dass die Jury des Berliner Theatertreffens sich nach ihren Entscheidungen öffentlich von aktivistischen Gruppen mit Ansichten konfrontieren lässt, nach denen das Konzept von Hochkultur zugunsten gesellschaftlicher Öffnungen sowieso geschleift werden müsse. Doch von solchen Ansätzen ist rund um den Internationalen Literaturpreis von keiner Seite zu hören – was immer im konkreten Fall geschehen sein mag.
Wie bedeutet „Dringlichkeit“
Aber wie verhalten sich ästhetische und identitätspolitische Aspekte denn nun konkret bei so einer Preisvergabe? Was bedeutet die Kategorie der „Dringlichkeit“, die zudem berücksichtigt werden soll? Im Zuge der aktuellen Debatte war schon der Vorschlag zu hören, dass das HKW über all diese Fragen doch gut einmal ein Symposium veranstalten könnte. Vielleicht ist das tatsächlich eine gute Idee. Und vielleicht wäre es in Sachen Transparenz zudem gut, wenn die Jury sich nach ihrer Entscheidungsfindung öffentlich zur Diskussion stellen und ihre Auswahl begründen würde, wie es die Theatertreffenjury zum Beispiel tut.
Allerdings würde das einen anderen Umgang der Öffentlichkeit mit diesen Preisen voraussetzen. Bislang stürzen sich die Medien mit Porträts auf den Preisträger oder die Preisträgerin und hinterfragen den Entscheidungsprozess nicht weiter. Warum eigentlich nicht?
Dafür, dass die internen Jurydebatten auch intern bleiben, gibt es, von der Jury aus gesehen, gute Gründe, keine Frage. Doch die große Aufmerksamkeit, die Juliane Liebert und Ronya Othmann rund um den Auswahlprozess erzeugt haben, wäre ein Indiz dafür, dass die Jury als Black Box aus Sicht der Öffentlichkeit und der Autor*innen, über die verhandelt wird, kaum mehr zeitgemäß ist. Auch wenn man noch keine abschließende Idee hat, wie man damit umgehen soll, sollte man das wahrnehmen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!