Eine besondere Beziehung: Die Freundschaft nach dem Schuss
Im November 1977 schießen RAF-Terrorist Christof Wackernagel und Polizist Herman van Hoogen aufeinander. Jahre später werden sie Freunde.
A lso dass ich nicht schieße, um dich zu töten, sondern nur, um mir den Weg frei zu machen – das hast du nicht gedacht?
Nein, also wenn du schießt, um wegzulaufen, gibt es halt das Risiko, dass du mich totschießt, und die Absicht war doch in vielen Fällen da. In Kerkrade sind die Zollbeamten zum Beispiel mit Genickschuss erschossen worden, und das war sehr schlimm. Das hat mich sehr berührt, als ich das gesehen habe, dass das die Linie von der RAF war: Ein Polizist ist ein Schwein, das erschossen werden kann. Aber wenn ihr sagt, ihr wolltet nur wegkommen, dann muss ich das annehmen. Aber das hab ich damals nicht so gedacht.
Dieser Dialog stammt aus einer Tonaufnahme von 1992, in der das ehemalige RAF-Mitglied Christof Wackernagel und der niederländische Polizist Herman van Hoogen darüber sprechen, wie sie sich einst beinahe umgebracht hätten.
Es ist November 1977, der Deutsche Herbst. Vor drei Wochen hat man Andreas Bader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe tot in ihren Zellen in Stammheim entdeckt, am Tag darauf wurde die Leiche von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer im Kofferraum eines abgestellten Autos im Elsass gefunden. Christof Wackernagel ist zu diesem Zeitpunkt erst seit Kurzem Mitglied der RAF.
Am 9. November 1977 soll er Fotomaterial für eine Passfälschung in Amsterdam besorgen. Er will schnell zurück nach Deutschland, doch an diesem Tag fährt kein Zug mehr. Er übernachtet in einer RAF-Wohnung. Was er nicht weiß: Diese wird bereits von der niederländischen Polizei observiert.
Am nächsten Morgen bekommt Wackernagel die Nachricht, dass sein RAF-Genosse Gert Schneider in Amsterdam mit dem Flugzeug landen wird, unbewaffnet. Wackernagel hat in Amsterdam Zugang zu Waffen. Er soll Schneider deshalb treffen und ihn begleiten.
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Der Polizist Herman van Hoogen bereitet sich am 10. November 1977 mit seiner Frau auf ein Abendessen mit Freund*innen vor, als das Telefon klingelt. Es ist dringend. Van Hoogen, der oft verschmitzt lächelt, einen breiten Schnauzer und lange Haare trägt, leitet eine Polizeieinheit, die auf die Festnahme besonders gefährlicher Verbrecher spezialisiert ist: Bankräuber, Entführer, Drogenhändler. Doch an diesem Abend geht es um etwas anderes.
Es ist bereits dunkel, als van Hoogen an dem Ort ankommt, wo die Festnahme erfolgen soll. Er wartet mit seinen Männern in einem Auto und beobachtet, wie Schneider und Wackernagel in einer Telefonzelle telefonieren. Als die Polizisten sich nähern, fallen die ersten Schüsse. Quasi zeitgleich eröffnen beide Seiten das Feuer.
Van Hoogen trifft Schneider mehrfach in den Bauch, Wackernagel verletzt van Hoogen am Arm, dann klemmt seine SIG-Sauer-Pistole. Auch Wackernagel wird getroffen und geht zu Boden, Schneider wirft, bereits auf der Straße liegend, noch eine Handgranate in Richtung der Polizisten. Als Wackernagel sich am Boden krümmt, schlägt ihm einer der Polizisten mit einem Gewehrkolben auf den Schädel. Trotzdem überleben alle wie durch ein Wunder die Festnahme.
Es ist das erste Aufeinandertreffen von Christof Wackernagel und Herman van Hoogen. Und es ist, was damals noch niemand ahnt, der Anfang einer Freundschaft.
Juni 2020. Mehr als 40 Jahre später lebt Christof Wackernagel mit seinem siebenjährigen Sohn im Münchner Vorort Ottobrunn. Es ist die Wohnung eines Intellektuellen. In den Regalen Buchraritäten neben Klassikern der politischen Literatur – Theodor W. Adorno, Frantz Fanon, Antonio Gramsci. Dazwischen ein ganzes Regal mit selbst geschriebenen Büchern, auf einem Stehpult liegt ein Laptop.
Im Gespräch gerät Wackernagel schnell in einen Redefluss, in dem er sich von Idee zu Idee steigert. Er hat dabei etwas Ansteckendes, Inspirierendes. Er veröffentlicht gerade seine nachts protokollierten Träume der vergangenen 40 Jahre – auf 2.400 Seiten. Außerdem ist er Teil einer lokalen Altpunkband. In der Nachbarschaft hat er an Laternen Aufkleber mit den Slogans „Wasser statt Waffen“ oder „Profit ist Terror“ geklebt.
Für Wackernagel haben Politik und Kunst immer zusammengehört. Bereits mit 16 war er ein Nachwuchsfilmstar, mit Mitte 20 ging er dann zur RAF. Noch während er seine Haftstrafe nach der Schießerei verbüßte, arbeitete er im offenen Vollzug als Dramaturg am Bochumer Schauspielhaus. Später nahm seine Filmkarriere wieder Fahrt auf, als der Ex-RAFler ausgerechnet die Hauptfigur eines Polizisten in der RTL-Serie „Abschnitt 40“ spielte. Dann ging er nach Mali, um dort seine Traumtrilogie „es“ zu schreiben. Zehn Jahre später floh er vor dem Vormarsch islamistischer Rebellen mit seinem in Mali geborenen Sohn nach Deutschland und forderte in einer „Anne Will“-Sendung den Einsatz deutscher Truppen gegen die Islamisten.
Wackernagel kann nicht stillsitzen. Sein Körper scheint ständig zu beben, auch wenn – oder gerade wenn – er von der RAF erzählt. Dann tigert er durch sein Zimmer und sucht passende Titel aus seiner Bibliothek revolutionären Denkens zusammen.
Im Kern begeistert sich Wackernagel auch heute noch für die gesellschaftliche Analyse der RAF. Nur mit deren Mitteln ist er nicht mehr einverstanden. Und das liegt auch an Herman van Hoogen, dem niederländischen Polizisten.
Während Wackernagel stets die Öffentlichkeit suchte, entschied sich Herman van Hoogen für ein ruhiges Dasein. Er ging zum frühestmöglichen Zeitpunkt in Pension und genoss das Leben, reiste oder half seinem Sohn beim Hausbau in Frankreich. Bis heute wohnen er und seine Frau in Amsterdam. Im hohen Alter von 84 Jahren lehnt er Interviewanfragen aus gesundheitlichen Gründen ab.
Deshalb basieren dieser Text und die Darstellung der Ereignisse auf den Gesprächen mit Christof Wackernagel und einer Tonbandaufnahme aus dem Jahr 1992. Damals trafen sich Christof Wackernagel, Gert Schneider, Herman van Hoogen sowie Wackernagels damalige Frau Renate Eisel und van Hoogens Frau Hansje in Wackernagels Bochumer Wohnung, um ihre gemeinsame Geschichte zu rekonstruieren. Und um zu erklären, was laut Wackernagel „alle anderen Leute außer uns völlig verrückt finden“. Wie kann es sein, dass der ehemalige RAF-Kämpfer und der Polizist Freunde geworden sind? Der eine, der den Staat mit Gewalt abschaffen wollte, und der andere, der diesen Staat bewaffnet verteidigte?
Es ist eine Freundschaft, die viel über politische Auseinandersetzungen erzählt – und darüber, wie entlang von ideologisch aufgeladenen Konfliktlinien der einzelne Mensch unsichtbar werden kann.
Van Hoogens Stimme ist auf dem Tonband zu hören: „Ich erinnere mich an einen Mann in grauem Regenmantel und einen Mann in dunklem Anzug in der Telefonzelle.“
„Hattest du keine Angst? Die RAF-Leute waren als gefährliche Verbrecher steckbrieflich gesucht“, fragt Renate Eisel, die das Gespräch 1992 moderiert.
Van Hoogen: „Nein, Angst hatte ich nicht. Ich hatte meine Waffe in der Hand und dachte, wir überraschen die Leute und die Hände gehen hoch, das habe ich gedacht.“
Seine Frau Hansje lacht. Sie sagt: „Das war ein Irrtum!“
Van Hoogen: „Aber wir haben auch verabredet, wenn das nicht so geht, dann werden wir schießen.“
Für van Hoogen war es das zweite Mal in seiner Polizeilaufbahn, dass er schoss. Er erzählt auf dem Tonband, dass er dieses Mal drei Monate zu Hause blieb, um das Trauma, auf einen Menschen geschossen zu haben und selbst fast getötet worden zu sein, zu verarbeiten. Van Hoogens 14-jährige Tochter sympathisierte zu dieser Zeit mit der Amsterdamer Hausbesetzer*innenszene und erklärte ihrem Vater: „Erstens: Das sind keine Kriminellen. Und zweitens: Die haben nicht auf dich geschossen, sondern auf deine Funktion.“ Van Hoogen nahm die Worte seiner Tochter ernst.
Drei Tage nach der Schießerei kommt Christof Wackernagel wieder zu Bewusstsein. Anwälte, Verhöre, ein Auslieferungsverfahren, das die Niederländer zunächst ablehnen. Wackernagel, der später die Akten einsehen konnte, sagt heute, die Niederlande hätten der Bundesrepublik nicht getraut, dass sie den schwer verletzten Staatsfeinden mitten im Deutschen Herbst die nötige Behandlung zukommen lassen würde, und auf das RAF-Mitglied Siegfried Hausner verwiesen, das kurz nach seiner Auslieferung aus Schweden im deutschen Gefängnis an den Folgen seiner Verletzungen gestorben war.
So kommt es für Wackernagel und Schneider erst drei Jahre später zum Prozess in Düsseldorf. Es ist das zweite Aufeinandertreffen der beiden mit van Hoogen, der als Zeuge geladen ist.
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Van Hoogen auf dem Tonband: „Ich kam beim Gericht herein und sah zwei schüchterne Figuren, eher scheu, fast uninteressiert. Ich dachte: Ist das alles?“
Es bleibt zunächst auch beim gegenseitigen Unverständnis.
Renate Eisel auf dem Tonband: „Christof und Gert, ihr habt ja im Prozess behauptet, nicht ihr habt einen Mordversuch an den Polizisten begangen, sondern die Polizisten an euch. Ihr habt euch da hingestellt und gesagt: Wir waren die Opfer.“
Schneider: „Also dass ich Täter war, war mir von Anfang an klar. Von den Behauptungen, die wir da aufgestellt haben, wusste ich, dass sie nicht haltbar sind. Das war eine Strategie. Und das ist eigentlich das Problematische an der Geschichte. Die Situation dort war sonnenklar: Dass dir, Herman, nichts anderes übrig blieb, als zu schießen, das wussten wir ganz genau. Aber man hat sich bei uns in der Gruppe konditioniert: Was mach ich, wenn ich verhaftet bin? Und wie reagiere ich dann? Infolgedessen ist das dann bei uns gar nicht mehr richtig als ’nen bewusster Akt abgelaufen, sondern wie ein Automatismus.“
Wackernagel: „In dem Moment, wo du realisierst, da ist Polizei, verhältst du dich so, wie du es dir vorher vorgenommen hast. Da fragst du dich ja nicht mehr, ob der nett ist und wie du den findest. Da machst du dir keine Gedanken über den Menschen, das hättest du dir vorher machen müssen, wenn du die Entscheidung triffst, mit der Knarre auf die Straße zu gehen. Dazu kam, dass jeder innerhalb der Gruppe unter so ’nem Beweiszwang stand. Den anderen musste klar sein, wenn du jetzt runtergehst und da unten passiert was, dann knallt’s. Wir hatten noch keine Bank überfallen oder jemanden entführt. Erst wenn du so ’ne Aktion toll gemacht hast, dann wissen die anderen, dass du es ernst meinst. Deswegen ist das Absurde: Unsere einzige RAF-Aktion, wo wir wirklich bewiesen haben, dass wir RAF-Mitglieder sind, war das. Herman hat uns rausgeholt, bevor wir was Schlimmes machen konnten.“
Es gibt noch ein absurdes Detail zur Schießerei bei der Festnahme. Hätten die beiden RAFler sich widerstandslos ergeben, dann hätten ihnen wohl keine langen Haftstrafen gedroht. Gert Schneider war zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal polizeibekannt.
Christof Wackernagel
Renate Eisel auf dem Tonband: „Du, Herman, hast mal zu Christof gesagt, dass dein einziger Vorwurf an ihn ist, dass er dich gezwungen hat zu schießen.“
Van Hoogen: „Ja, das ist richtig. Ich fühlte mich nicht als Opfer und nicht als Täter, und die Festnahme war für mich eine normale polizeiliche Maßnahme. Aber ich musste eine Grenze überschreiten, die ich nicht überschreiten wollte. Ich mag keine Gewalt. Ich musste dann aber rücksichtslos auf einen Menschen schießen, um selbst am Leben zu bleiben. Zwei Wochen vorher war in Utrecht ein Kollege von der RAF erschossen worden, und eine Woche vorher gab es einen Mordversuch an einem Kollegen in Den Haag. Und damals dachten wir, bald haben wir auch einen Fall in Amsterdam, und dann haben wir uns geistig darauf eingestellt; wir müssen vorsichtiger sein, und wenn etwas ist, dann müssen wir schießen. Das hab ich dann gemacht, und das muss man verarbeiten. Denn es ist richtig und gut, dass man als Polizist auch Emotionen hat und kein Automat ist.“
Wackernagel und Schneider werden zu 15 Jahren Haft wegen versuchten Mordes verurteilt. Ins Gefängnis in Bochum bestellen sie sich die gesammelten Marx-Werke, sie wollen mit Marx in einem großen Analyseprojekt den bewaffneten Kampf der RAF begründen. Stattdessen bekommen sie zunehmend Zweifel und verheddern sich in Widersprüche zwischen den Mitteln der RAF und deren Zielen.
Wackernagel schreibt sich in seiner Haftzeit mit 160 Leuten Briefe. Es sei besonders der linke Intellektuelle Wolfgang Pohrt gewesen, der sie zum Umdenken bewegt habe, sagt Wackernagel heute. „Wenn du feststellst, dass du mit Leuteumbringen keine befreite Gesellschaft herbeiführen kannst, dann musst du das lassen, weil: Du willst ja keine Leute umbringen“, erinnert er sich und fügt hinzu: „Dann hat Pohrt uns den goldenen Teppich hingelegt und gesagt:,Ihr seid keine schlechten Menschen, wenn ihr zugebt, es hat nicht geklappt. Ihr könnt da rausgehen und sagen, der Kampf geht weiter, aber mit anderen Mitteln.' “
Wackernagel und Schneider machen ihre Zweifel an den Methoden der RAF 1984 öffentlich, unter anderem in der taz und im Stern.
Zu dieser Zeit trifft Herman van Hoogen auf dem Polizeirevier gelegentlich den Anwalt der beiden Inhaftierten, der ebenfalls in Amsterdam wohnt. Man grüßt sich, und van Hoogen nutzt die Gelegenheit, sich nach den beiden zu erkundigen. Er verfolgt die Diskussion, die sie öffentlich führen, mit großem Interesse.
Van Hoogen auf dem Tonband: „Das Stern-Interview konnte ich selbst lesen, aber diese Diskussion um die Amnestie, das war sehr schwierige Sprache. Das war damals auch der Fehler, den die RAF gemacht hatte: Die Botschaft ist nicht rübergekommen bei den Arbeitern. Die konnten das auch nicht lesen und auch nicht verstehen. Ich hab das hundertmal gelesen, und dann wurde mir klarer, was gemeint ist.“
Es ist dann die Idee des Anwalts, dass die Inhaftierten noch mal auf van Hoogen zugehen sollen, um ihn als Unterstützer eines Antrags auf vorzeitige Entlassung zu gewinnen.
Van Hoogen: „Ich dachte, ja, warum nicht? Wenn das wirklich so ist. Ich habe das geglaubt, weil ich oft an Gert denken musste, der am Boden liegend noch bis zum Tod gekämpft hat. Und wenn man dazu bereit ist und man sich dann davon distanziert, dann war das für mich sehr glaubhaft. Ich habe gedacht, das kann nicht sein, dass er das nicht ernst meint und es nur sagt, um freizukommen. Dann habe ich die deutschen Kollegen vom BKA kontaktiert, und die sagten: ‚Ach was, das sind noch immer Hardliner, die sind immer noch in der RAF.‘ “
Am 17. Januar 1985 schreibt van Hoogen einen Brief mit der Überschrift „Der Wunsch nach Vergeltung ist mir fremd“:
Obwohl ich nach einer 30-jährigen Polizeilaufbahn manchmal auch nicht ganz frei von einem gewissen Zynismus bin, bin ich aufrichtig der Meinung, daß eine Distanzierungserklärung von Wackernagel und Schneider wesentlich weniger mißtrauisch beurteilt werden sollte als eine solche Erklärung von Seiten eines Kriminellen aus Gewinnsucht.
Ferner möchte ich noch anmerken, daß, außer der Tatsache, daß ich keine Haß- oder Rachegefühle empfinde, nach meiner Erfahrung sehr lange Haftstrafen nur selten eine günstige Wirkung auf das spätere Verhalten des Delinquenten gehabt haben. Wenn das Gericht, auch nach Erwägung meiner Gefühle, zu dem Beschluß gelangen würde, daß Wackernagel und Schneider vorzeitig in die Gesellschaft zurückkehren können, wäre ich erfreut über diese Entscheidung.
Der Brief zeigt seine Wirkung: Wackernagel und Schneider werden in den offenen Vollzug verlegt, und auch eine Entlassung nach zwei Dritteln der Haftstrafe wird sehr wahrscheinlich.
Zugleich ist der Brief ein weiterer Grund, dass das einst so gefestigte Weltbild der beiden Ex-RAFler bröckelt. Ausgerechnet der Polizist Herman van Hoogen erkennt an, was große Teile der Gesellschaft nie anerkannt haben: dass der Kampf der RAF im Kern ein idealistischer war und somit nicht mit gewöhnlichen Verbrechen vergleichbar.
Wackernagel sagt auf dem Tonband 1992: „Da wird für mich jetzt auch noch mal klar, warum zwischen uns so ’ne Beziehung entstehen konnte, weil du vielleicht einfach akzeptiert hast, dass es vielleicht scheiße war, aber dass wir es ernst gemeint haben. Und dass wir es nicht, wie es die Bundesanwaltschaft uns vorgeworfen hat, aus niederen Beweggründen gemacht haben. Und Herman hat gesagt: ‚Die spinnen, aber die meinen’s ernst.‘ Dadurch weiß ich, du nimmst mich ernst, und dadurch kann ich auch dir gegenüber viel leichter zugeben, ja, das war falsch.“
Van Hoogen scherzt: „Dass ich dich ernst genommen hab, ist auch der Grund, warum ich mit der Waffe in der Hand auf die Telefonzelle zugegangen bin.“ Wackernagel lacht.
Wackernagel und Schneider sind 1985 nach wie vor im Gefängnis, sie haben aber bereits Freigang und laden den Absender des Briefs nach Bochum ein. Es wird das erste persönliche Treffen der drei nach der Festnahme in Amsterdam.
Auf dem Tonband erinnert sich Wackernagel daran so: „Ich weiß ganz genau, wie es war. Du standest unten an der Pforte, und das Wichtigste war dein Blick: absolut ohne was dahinter, ohne Hintergedanken. Der war neugierig und gab mir von Anfang an das Gefühl, ich kann so sein, wie ich bin. Ich glaube, der Unterschied zwischen uns ist: Du hattest es nicht nötig, das zu klären – wir schon. Wir hätten auch leben können ohne, aber so können wir sehr viel besser leben – aber du hättest auch so gut leben können.“
Wackernagel, Schneider und van Hoogen spazieren zusammen durch die Bochumer Innenstadt und gehen dann italienisch essen.
Renate Eisel fragt auf dem Tonband: „Worüber habt ihr denn geredet beim ersten Treffen?“
Wackernagel: „Ich glaube, wir sind relativ schnell auf politische Themen gekommen, Apartheid, aber auch andere Themen, wo ich plötzlich das Gefühl hatte, dass Herman sich in seinen politischen Ansichten gar nicht so sehr unterscheidet. Gerade beim Verhältnis ‚Metropole – Dritte Welt‘, was ja der Hauptgrund war, warum wir die RAF gemacht haben, wegen der Ausbeutung, und da sagte Herman auch: ‚Das ist ungerecht, das ist eine Schweinerei, und man darf die Leute nicht verhungern lassen, und da sind wir dran schuld.‘ Und das sorgte dafür, dass dieses… dass man sich gegenseitig beinah umbringt, noch mehr wegschmilzt. Dass das Feindbild, dass der was ganz anderes war, plötzlich schrumpfte und verwischte. Ja, was soll ich denn gegen ihn haben, wenn er ähnliche Ansichten hat?“
Van Hoogen: „Ja, das Thema Dritte Welt habe ich immer anders verstanden. Ich dachte immer, dass die RAF das Ziel hatte, die Gesellschaft hier zu vernichten, und das Thema Dritte Welt und Vietnam nur ein Vorwand war.“
Wackernagel: „Also das kann sein, dass das unterbewusst so war. Aber zumindest in der Selbstrechtfertigung war es schon so, dass die, die in Vietnam und überall sich von der Ausbeutung befreien müssen, es nie schaffen, wenn wir nicht in der Metropole das System von innen aushöhlen. Das war die Überlegung.“
Schneider: „Was Diffuses von befreiter Gesellschaft. Wir wollten vor allem nicht mitschuldig sein und raus aus dem System. Wir wussten auch, dass wir untergehen, ins Gefängnis kommen und nichts bewirken können.“
Wackernagel: „Also dass das Ziel in unserem Leben nicht herstellbar ist, das wussten wir. Ich hatte auch keine konkrete Utopie im Kopf, weil das in totalitäre Systeme führt. Aber eine abstrakte Utopie schon: eine Gesellschaft, in der es niemanden mehr gibt, der an Hunger stirbt, wo niemand mehr daran gehindert wird zu lernen. Wo es ein Gesundheitswesen gibt, wo Menschen, die ins Krankenhaus kommen, einfach behandelt werden. Das waren so Grundbedingungen der Befreiung. Auf der anderen Seite die Idee, dass du in unserer Gesellschaft von deinen eigentlichen Bedürfnissen immer weiter entfremdet wirst, dass du ’ne Maschine wirst und nur durch den völligen Bruch mit der Gesellschaft der neue Mensch werden kannst. Das war das Postulat: Wir, die Gruppe, sind quasi der Anfang der neuen Strukturen, also die Verwirklichung als Mensch.“
Wenn Christof Wackernagel heute im Garten seiner Wohnung auf seine Zeit im Untergrund blickt, dann schwingt da auch etwas Sehnsucht mit. Das zuzugeben ist nicht einfach, er zögert etwas, beißt sich auf die Lippen, beugt sich über den Tisch und flüstert einen Satz, der selbst 2020 öffentlich eigentlich unsagbar ist: „Niemals in meinem ganzen Leben fühlte ich mich so frei wie während der Zeit mit der RAF.“
Er weiß, dass er diese Worte erklären muss: „Es war eine Vorwegnahme der Freiheit, die ich acht Milliarden Menschen gönne. So könnte die Welt sein, wie wir es damals erlebt haben – auch bedingt durch die Illegalität.“ Das einzige Mal im Leben fühlte er sich befreit von allen gesellschaftlichen Zwängen: „In gewisser Weise war ich selbst im Gefängnis geistig freier, als ich es draußen bin, ich wusste schon, wenn ich rauskomme, dann komme ich in den gesellschaftlichen Knast, der dich so einengen kann, dass du völlig das Bewusstsein verlierst, weil du dich reproduzieren musst. Jetzt hab ich ein Haus und ein Kind. Das sind Zwänge, die dich unglaublich eingrenzen – und das war alles weg in der RAF.“
Wackernagel schiebt dann aber noch eine Einschränkung nach: „Vielleicht liegt es auch daran, dass ich nur zwei Monate da war, in der Hochzeit der RAF. Die ganze Welt drehte sich nur um uns. Da lässt sich’s gut fühlen. Aber sei du mal jahrelang in der Illegalität – das ist sicherlich kein Vergnügen.“
Auch die Tatsache, dass er in der kurzen Zeit bei der RAF keinen Menschen tötete, erspart ihm eine Bürde, die andere ehemalige Terroristen tragen.
1987 kommen Wackernagel und Schneider frei. Zur Entlassungsfeier erscheint Herman van Hoogen mit zwei Blumensträußen. Abends übernachten van Hoogen und Gert Schneider, zehn Jahre nachdem der eine geschossen und der andere eine Handgranate geworfen hat, im selben Zimmer in der Wohnung von Wackernagels Frau Renate Eisel.
In der Folge verliert Gert Schneider, der fortan die Öffentlichkeit meidet und im Filmvertrieb arbeitet, van Hoogen aus den Augen. Ganz anders Christof Wackernagel. Ihre Freundschaft wird um ein weiteres elementares Kapitel reicher, als er das Ehepaar van Hoogen in Amsterdam besucht.
Auf dem Tonband erzählt Wackernagel das 1992 so: „Wir kamen mit dem Taxi an, und Herman sagte: ‚Da ist meine Wohnung.‘ Da war ein Balkon und dahinter das Wohnzimmer und am Fenster ein Vorhang. Der Vorhang war ein bisschen auf, und Hermans Frau Hansje stand da und guckte raus und wartete auf uns. Da ist mir zum ersten Mal bewusst geworden, dass diese Frau Witwe hätte sein können. Die Vorstellung, so hat sie damals auf Herman gewartet und gedacht: ‚Hoffentlich kommt er bald.‘ “
Das Treffen mit Hansje van Hoogen ist für Wackernagel auf einer emotionalen Ebene der Schlüsselmoment in seiner radikalen Abkehr von Gewalt als politischem Mittel. Als sie einige Jahre später zusammenkommen, um ihre Geschichte zu rekonstruieren und auf Tonband aufzunehmen, kann Hansje van Hoogen immer noch nicht verstehen, wie man für das Ideal der Befreiung Gewalt einsetzen kann. Wackernagel gerät in Erklärungsnot.
Wackernagel: „Wir haben ja den Widerspruch auch gesehen, aber du kannst halt sagen, aber es ist doch Gewalt, die verhindert, dass die Menschen leben können; es ist doch Gewalt, wenn Menschen aufgrund von Beschlüssen des IWF verhungern. Dann sagst du dir, es ist nicht Gewalt, es ist Gegengewalt; noch ein Krieg, und dann ist alles gut. Wir dachten, es funktioniert wie beim Auto: Die Zündung ist Herr Buback, aber wenn der Motor anspringt, dann kommt was ganz anderes. Und die Vorstellung, dass das wie ein Zündschloss funktioniert, das ist der Wahn.“
Zum Ende des Tonbands fragt Renate Eisel Christof Wackernagel, wie er seine Beziehung zu van Hoogen beschreiben würde. Er denkt eine Weile nach.
Wackernagel: „Also ich möchte ihn nicht missen. Ich traue mich immer noch nicht, von mir aus zu sagen, er ist mein Freund. Aber wenn er es sagt, sag ich es auch.“
Van Hoogen: „Ich würde es ähnlich beschreiben wie Christof. Ich fühle, dass wir über alles reden können. Wenn früher jemand gefragt hat, ob wir Freunde sind, haben wir immer gesagt, Freundschaft entsteht nicht in zwei Tagen, das braucht ein bisschen Zeit. Aber mittlerweile würde ich schon sagen, dass das eine freundschaftliche Beziehung ist.“
Das Tonband endet. Die Freundschaft zwischen Wackernagel und van Hoogen geht weiter. Sie sehen sich regelmäßig, treten auch in Talkshows zusammen auf und beteiligen sich an Diskussionen. Wackernagel erfährt, dass nicht alle Polizisten den Versöhnungskurs von van Hoogen gut finden. Während es einigen gleichgültig ist und sie mit den RAF-Leuten nichts mehr zu tun haben wollen, brechen andere den Kontakt mit ihrem Kollegen van Hoogen ab, weil sie dessen Initiative zur Versöhnung mit dem ehemaligen Feind ablehnen.
Der Polizist, der Wackernagel den Gewehrkolben in die Stirn rammte, taucht später auf einer Buchvorstellung von Wackernagel auf und fragt ihn nach der Veranstaltung: „Na, haste noch Kopfweh?“
Die Delle in Wackernagels Stirn ist noch heute sichtbar. Und nach wie vor kann Wackernagel unglaublich wütend auf gesellschaftliche Ungerechtigkeit werden, an der sich für ihn nichts geändert hat.
Während des Treffens in München lädt er an einen metallenen Kochtisch, bei dem die Platte durch einen Gaskocher von unten erhitzt wird. Zusammen sitzt man um den warmen Tisch, wendet das Gemüse, Kartoffeln und etwas Halloumi im erhitzten Öl und isst direkt von der Platte. So, als kochten alle gemeinsam an einem großen Tisch und äßen, bis sie satt wären – eine Metapher darauf, was sich Wackernagel für die ganze Gesellschaft wünscht.
„Mehr als zwei Milliarden Menschen auf der Welt leben ohne Zugang zu Trinkwasser, 6,3 Billionen Euro liegen auf deutschen Konten. Das kann nicht sein!“, ruft er. Er hämmert mit dem Löffel auf den Kochtisch: „Warum bin ich denn nach Mali gegangen? Dieses Bewusstsein, dass diesen Luxus, den wir hier haben… diesen wunderbaren Bio-Luxus-Rohkostsalat, den du hast, den bezahlen die Leute dort – und das musst du wissen. Ich lasse mir den trotzdem schmecken, aber ich muss in alldem, was ich politisch tue, dafür kämpfen, dass dieser Zustand ein Ende hat. Verdammt noch mal. Insofern hat sich bei mir nichts geändert in Bezug auf die Inhalte der RAF. Die habe ich von denen, und da bin ich heute noch dankbar.“
Diskussionen über einen national gedachten Mindestlohn sind für ihn nur Augenwischerei, die Leute von Fridays for Future sind ihm zu wenig systemkritisch, Jugendliche, die „nur nachhaltig Party feiern wollen und nicht dafür kämpfen, dass alle Jungen auf der Welt genügend zu fressen haben“.
Wackernagel will die ganz großen Probleme angehen, sofort und global. Sein Projekt ist eine „Arche der Menschheit“, bei der Abgesandte aus allen Regionen der Welt zusammenkommen und eine Karawane durch Afrika bilden, bei der sie die dringendsten Fragen der Menschheit klären sollen, unter anderem die nach Zugang zu sauberem Trinkwasser.
Als Herman van Hoogen das erste Mal von der Idee hörte, habe er Wackernagel auf die Schulter geklopft und gesagt: „Ich bin stolz auf dich, mein Junge, jetzt machst du das mit den richtigen Mitteln, was du mit der RAF mit den falschen gemacht hast.“
An dem Kochtisch sind die Stunden verstrichen. Wackernagel muss los, seinen Sohn von der Tagesbetreuung abholen, einen Fahrradhelm kaufen. Er ist alleinerziehend. Da kommt heute oft der Alltag vor der Gesellschaftsutopie.
Aber kurz will er noch das letzte Kapitel seiner Freundschaft zu Herman van Hoogen erzählen. Es war ein Besuch vor zwei Jahren mit seinem Sohn Peter bei den van Hoogen in Amsterdam. Stolz zeigt er ein Video, auf dem van Hoogen, auf einem Sofa sitzend, mit Wackernagels Sohn spielt. Kurz darauf erzählen Wackernagel und van Hoogen dem damals Fünfjährigen ihre Geschichte – von der Telefonzelle bis zu diesem Moment auf der Couch.
Der kleine Junge hört zu und schweigt, während sein Vater erklärt: „Und daran kann man sehen, dass Pistolen was Schlechtes sind und ich eben auch mal eine genommen habe. Aber gerade weil ich eine genommen habe, kann ich sagen, Pistolen sind ganz, ganz schlecht.“
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