Eine Begegnung mit einem kleinen Vogel: Der Wiedehopf singt dagegen dröge
Der Zaunkönig ist der Prince unter den Singvögeln. Das bewahrt ihn allerdings nicht davor, sich auch mal zu verfliegen.
Mein achtjähriger Sohn und ich sitzen auf dem Sofa, und plötzlich fliegt mit einem dumpfen Plopp etwas an die Glastür zum Flur, es hört sich an, als hätte jemand von außen mit einem Sockenknäuel nach uns geworfen. Wir öffnen vorsichtig die Tür und ein aufgeregter, kleiner, runder Ball saust an uns vorbei und verschwindet irgendwo im Zimmer. „Ein Vogel“, quietscht der Sohn.
Es braucht eine halbe Stunde, bis wir den Ball gefunden haben. Er sitzt in einem alten Kaffeebecher voller Filzstifte, der bei uns auf einer Anrichte steht. Zuerst tippe ich auf Spatz, aber dann fällt mir der Schwanz auf, der merkwürdig nach oben steht. Gebrochen?
Nein, es muss ein Zaunkönig sein. Es ist ein Zaunkönig. Wir öffnen das Fenster und stellen die Stifte aufs Fensterbrett. Der winzige Vogel glotzt uns verwundert an und fliegt erst los, als wir ihn vorsichtig mit der Fingerspitze anstupsen. Er setzt sich auf eine Rankhilfe an der Hauswand neben dem Fenster.
Wir lassen ihn erst mal in Ruhe, nach einer halben Stunde gehen wir ums Haus herum, und der Zaunkönig fliegt laut schimpfend davon. Das niedliche Tier muss irgendwann beim Stoßlüften reingekommen sein – und hat sich vielleicht durch den Zusammenprall mit unserer Tür eine leichte Gehirnerschütterung zugezogen.
Superviele Töne
Der Zaunkönig, so informieren wir uns später, ist der Prince unter den Singvögeln. Mit dem Winter- und Sommergoldhähnchen gehört er zu den kleinsten Vögeln Europas. Dennoch hat er im Verhältnis zu seiner Körpergröße nicht nur die lauteste Stimme, sondern er singt auch mit ausgesprochen aufrechter Haltung, beherrscht superviele Töne und singt umso variantenreicher, je älter er wird. Wir sind stolz: Zaunkönige halten sich am liebsten in wilden Gärten mit dichtem Unterholz, also vielen Sträuchern und Stauden, auf. Die Renaturierung unseres ursprünglich einigermaßen öden Gartens hat sich also gelohnt.
Normalerweise, lesen wir weiter, sind Zaunkönige Wandervögel, aber so warm, wie es derzeit ist, scheint zumindest unser Exemplar kein Bedürfnis nach dem Süden entwickelt zu haben. Außerdem, recherchieren wir, ist Wanderverhalten auch Charaktersache. Viele Vögel sind nur dann reiselustig, wenn auch ihre Eltern das waren.
Wenn es nach uns gegangen wäre, schlussfolgern wir, dann wäre nicht der Wiedehopf zum Vogel des Jahres 2022 gewählt worden, sondern der Zaunkönig. Zugegeben: Der Wiedehopf ist zwar anders als der Zaunkönig gefährdet, er sieht mit seiner aufrichtbaren Federhaube auch spektakulär aus wie ein Punk.
Aber er singt eben auch wie ein Punk. Mehr als ein einfältiges Hey-ho-ho, das an den bekannten Song der Ramones erinnert, bringt er nicht hervor.
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